Es war eine erholsame Nacht gewesen. Noch vor dem reichhaltigen Frühstück hatte er mit Margit telefoniert. Dann hatte er sich ausgehungert über das Büfett hergemacht, vom Zimmer aus Dr. Starke angerufen und Bericht erstattet. In Kiel gab es keine Neuigkeiten. Man war weder bei der Suche nach den Flüchtigen oder deren Fahrzeug weitergekommen, noch hatte man weitere Informationen zu Almawt lilmushrikin gefunden.
»Hinsichtlich dieser neuen Terrorgruppe werde ich versuchen, mit dem Landeskriminalamt in Thüringen Kontakt aufzunehmen.«
»Die zeigen sich sehr reserviert«, erwiderte Lüder.
»Vielleicht hast du nicht den richtigen Gesprächspartner gehabt. Ich werde die Ebene von Leiter zu Leiter wählen. Da versteht man sich.«
Lüder wünschte dem Kriminaldirektor viel Erfolg. Jens Starke war bestimmt nicht dumm, aber er hatte in all seinen Funktionen vom Leiter der Flensburger Bezirkskriminalinspektion über die Leitung der ehemaligen Husumer Polizeidirektion bis zu seiner jetzigen Position nie den Schreibtisch verlassen. Starke fehlte jegliche Erfahrung in der Praxis. Lüder bezweifelte, ob der Theoretiker sich in die Rolle eines Beamten der Schutzpolizei, der täglich handfest renitenten Bürgern oder gewaltbereiten Kriminellen begegnete, hineinversetzen konnte.
Nach den letzten schönen Spätsommertagen war Lüder enttäuscht, als ihn vor der Tür ein grauer Himmel und leichter Sprühregen empfing. »Wenn es um das Wetter geht«, murmelte er vor sich hin, »hätte ich auch in Kiel bleiben können.« Nicht nur der Himmel sah grau aus, auch die Passanten, die ihm begegneten, wirkten missmutiger.
»Die sind bestimmt unfröhlich«, hätte sie sein Sohn Jonas beschrieben.
Als freundlich und zugänglich erwies sich Rasim Gürbüz, der seine Kanzlei in der Weißen Gasse in Sichtweite des Georgskirchturms betrieb. Die Straße war eine der dieses Viertel prägenden Gassen, dicht bebaut mit bunten Stadthäusern. Die Enge der gewundenen Straße ließ keine Gehwege zu. Gegenüber einer Großbaustelle hatte man in die Front einen gut angepassten modernen Bau eingefügt. Ein Schild neben dem Eingang verwies auf den Anwalt.
Die Räume waren hell eingerichtet, und die junge Frau mit dem lilafarbenen Streifen im Haar und dem Nasenpiercing passte zur Umgebung. Sie fragte bei dem Anwalt nach und verkündete mit fröhlicher Stimme: »Klar, der Chef empfängt Sie.«
Gürbüz, ein Enddreißiger, war von kleiner Statur. Schwarze Haare und dunkle Augen verrieten mit dem braunen Teint die Herkunft seiner Familie. Er trug eine Baldessarini-Jeans und ein am Kragen offenes unifarbenes Hemd. Über die Schulter hatte er leger einen leichten Kaschmirpulli gelegt. Er kam Lüder entgegen, begrüßte ihn mit einem festen Händedruck und führte ihn, bevor er die Hand wieder löste, zu einem Besucherstuhl.
»Herr … Doktor? … Lüders? Aus Kiel? Welche Wege führen Sie nach Mitteldeutschland?«
Lüder hatte nicht gezählt, wie oft er in den letzten Tagen schon vom Attentat und dessen Opfer Bernd Hollstein sowie dessen Verbindungen nach Erfurt berichtet hatte.
»Ich bin dem Staatsanwalt schon begegnet. Das ist aber lange her. Ein paar Jahre. Ich war damals noch ein junger Anwalt.« Gürbüz lachte und ließ dabei zwei Reihen blendend weißer Zähne aufblitzen. »Man kann nicht von Augenhöhe sprechen. Das lag aber nicht nur an meinen ein Meter sechsundsechzig. Ich habe wie viele in Thüringen von dem Attentat gehört. Auch wenn er nicht mehr hier wohnte … er war doch einer von uns. Und bei mir kommt noch die Verbindung durch das gleiche berufliche Tätigkeitsfeld hinzu.«
Lüder fragte, ob Gürbüz ihm etwas über Hollstein berichten könne. Der Anwalt bedauerte.
»Wie gesagt. Vor Gericht sind wir uns kaum begegnet. Er hat dann ja auch einen anderen Aufgabenbereich zugewiesen bekommen. Man hat sich in Anwaltskreisen ein wenig gewundert, aber die Gründe dafür sind nicht nach draußen gedrungen. Wo Menschen keine Fakten kennen, erfinden sie gern Gerüchte.« Erneut lächelte Gürbüz. »Fragen Sie mich nicht nach diesen. Ich habe nicht hingehört. Und privat haben wir keinen Umgang gepflegt. Ich kannte Bernd Hollstein nur peripher.«
»Haben Sie mit Oberstaatsanwalt Knüppel zu tun?«
»Knüppel aus dem Sack? Sicher. Ein knallharter Bursche. Wir beharken uns oft. Man kann den Eindruck gewinnen, Knüppel muss allein die Welt retten. Wenn man ihn im Gerichtssaal erlebt, glaubt man, wir sind nur von Verbrechern der übelsten Art umgeben. Wäre er Moslem, würde er bestimmt für jedes Vergehen eine Strafe nach der Scharia fordern. Knüppel kann sich eigentlich das Plädoyer sparen. Der Angeklagte ist immer schuldig, und ihm gebührt grundsätzlich die im Gesetz vorgesehene Höchststrafe.«
»Ist das eine Manie von ihm?«
»Nun.« Gürbüz legte die Spitzen der gepflegten Finger gegeneinander. »Ich habe nicht viele Kontakte zu meinen Berufskollegen. Man spricht auch nicht über Staatsanwälte oder Richter. Aber wie überall auf der Welt funktioniert auch in Erfurt der Flurfunk recht zuverlässig.«
»Hat Knüppel Kontakte zur rechten Szene?«
»Auf solche Spekulationen möchte ich mich nicht einlassen«, wich Gürbüz aus.
»Wie kommt Holger Golombek mit Knüppel zurecht?«
»Golombek.« Gürbüz zog den Namen endlos in die Länge. »Der hat eine spezielle Klientel.«
»Sie auch«, erwiderte Lüder.
»Es wundert mich nicht, dass Sie das wissen. Richtig. Türkischstämmige Menschen suchen mich häufig auf, wenn sie rechtlichen Beistand benötigen. Im Laufe der Zeit sind auch andere Mandanten aus dem arabischen Raum hinzugekommen. Natürlich weiß ich, dass man mich hinter vorgehaltener Hand den Türkenanwalt nennt. Ich sehe das aber auch als reizvolle Herausforderung. Für diese Personengruppe ist es vor Gericht schwieriger als für Rechtsradikale. Sie ist durch die Öffentlichkeit schon vorverurteilt.« Gürbüz fuhr mit der Hand durch die Luft. »Auch Bürger, die nicht dem rechten Spektrum zuzuordnen sind, glauben, dass sich unter den Migranten und Einwanderern prozentual viel mehr Kriminelle bewegen als unter den Biodeutschen. Es wird einfach mit zweierlei Maß gemessen.«
»Auch durch die Richterschaft?«
»Nein. Dort geht es objektiv zu. Aber der Rest …« Er ließ das Ende des Satzes offen.
»Kennen Sie Almawt lilmushrikin?«
»Tod den Götzendienern«, übersetzte Gürbüz und wich Lüders Blick aus. »Ein Mushrik ist jemand, so sagt es der Koran, der Gott andere Gottheiten beistellt. Er wird oft mit ›Polytheist‹ übersetzt, also Leute, die nicht nur einen Gott verehren. Mushrikūn gelten als Ungläubige, die dem klassischen Islam zufolge zu bekämpfen und letztlich zu töten sind. Diese Drohung gilt auch gegenüber allen Menschen, die Gräberkult betreiben und zum Beispiel an einem Grab beten.«
»Unter uns Juristen … Das ist eine Aufforderung zum Mord«, stellte Lüder fest. »Ich habe oft gehört, dass gerade das nicht im Koran steht.«
»Das ist Auslegungssache. Das kennen Sie im Christentum aber auch. Katholiken und Protestanten sehen manche Dinge unterschiedlich. Sie finden im Koran Suren, die Gewalt rechtfertigen. Zum Beispiel 9:5: ›Sind die heiligen Monate abgelaufen, dann tötet die Beigeseller‹, damit sind die Götzendiener gemeint, ›wo immer ihr sie findet, ergreift sie, belagert sie und lauert ihnen auf aus jedem Hinterhalt.‹ An anderer Stelle heißt es in Sure 9:29: ›Kämpft gegen die, die nicht an Gott glauben und auch nicht an den Jüngsten Tag.‹ Zahlreiche weitere Suren beschäftigen sich mit der Gewalt. Im Koran 33:25 lesen Sie von der Vernichtung des jüdischen Stamms der Quraiza im Jahr 627. Diese oder ähnliche Textstellen sind für islamistische Extremisten die Rechtfertigung für den Terror. Und Nichtmuslime leiten daraus ihre Angst vor dem Islam ab. Jeder interpretiert es in seinem Sinne. Und schon ist die Konfrontation da. Hier in Thüringen zeigt sie sich durch rechte Gewalt und eben Aktionen wie Almawt lilmushrikin.«
»Sie sind gut informiert, ich meine, Sie kennen sich aus im Koran. So bibelfest bin ich nicht.«
Gürbüz lächelte. »Ich bin Muslim, allerdings kein fanatischer. Nennen Sie es einmal so …« Er spitzte die Lippen. »Ich praktiziere einen europäischen Islam. Die Zitate sind mir geläufig, weil sie oft die Quelle für Straftaten sind, für die sich meine Mandanten vor Gericht verantworten müssen. Da ist es hilfreich, wenn man den Ursprung benennen kann. Ich weiß … es ist Vergangenheit. Aber die Christen sind auch im Namen Jesu bei ihren Kreuzzügen durch die Lande marodiert und haben wahllos gemordet.«
»Es wäre weit hergeholt, wenn Almawt lilmushrikin sich jetzt für die Kreuzzüge rächt.«
Gürbüz lachte jungenhaft auf. »Von den Hohlköpfen, die sich in solchen Organisationen zusammenfinden, hat sich niemand mit der Geschichte auseinandergesetzt. Es ist ohnehin bedauerlich, dass dem Fach Geschichte an den Schulen heute nicht mehr die Bedeutung beigemessen wird. Helmut Kohl hat einmal zutreffend angemerkt: ›Wie sollen wir die Gegenwart verstehen, wenn wir die Vergangenheit nicht kennen?‹ Vielleicht könnten dann viele Missverständnisse, die zu Auseinandersetzungen führen, vermieden werden. Es ist doch ein Aberwitz, dass man heute auf muslimische Migranten herabblickt und ihnen unterstellt, sie wollten Deutschland übernehmen. Imbiss oder Gemüsehändler – das wird gerade noch geduldet. Ein syrischer Arzt, ein türkischer Rechtsanwalt oder ein togolesischer Einwanderer als Polizist … das kann nicht sein. Schon die Nationalsozialisten wussten 1933, dass die Juden das Volk unterwandert haben. Ärzte, Künstler, Intellektuelle, Musiker … Und das als Juden? Das geht doch nicht«, formulierte Gürbüz in überzogener Entrüstung. »Und heute sind es nicht die Juden, sondern unseresgleichen.«
»Sind Sie schon offen bedroht worden?«
»Nicht offen. So etwas geschieht subtil.«
»Golombek?«
»Der würde sich nie aus der Deckung wagen. Er macht aber keinen Hehl aus seiner Sympathie für das rechte Gedankengut. Man munkelt, dass er altersbedingt mit seiner Kanzlei ein wenig kürzertreten will. Die Kapazität will er in politische Aktivitäten investieren.«
»In einer Partei?«
Gürbüz nickte. »Die hat hier in Thüringen gute Perspektiven.«
»Ist das Flurfunk?«
Erneut nickte der Anwalt. »Das scheint in den Genen zu liegen. Ein Enkel von Golombek ist in einer rechten Rockband. Rechts? Das ist zu wenig. Rechtsaußen. Für Fußballer: Der läuft jenseits der Außenlinie.«
»Wie heißt die Band?«
»Blut und Treue.«
»Von der Band habe ich schon einmal gehört.«
»Dann kennen Sie die Texte.«
»Nein«, gestand Lüder. »Die dringen nicht bis an mein Ohr. Die Lärmentwicklung, die nichts mit Musik gemein hat, ist so schlimm, dass die kreischenden Artikulationen, die auch mit Wohlwollen nicht Gesang genannt werden können, nicht bis zu mir reichen. Beruflich habe ich die Texte gelesen. Abgesehen davon, dass sie von Leuten verfasst wurden, die der deutschen Sprache nicht mächtig sind, entspringen sie unverkennbar kranken Hirnen.«
»Das ist Ihre Meinung. Traurig ist, dass diese Leute aber viele meist junge Menschen erreichen. Sehen Sie sich das einmal an. Heute Abend gibt die Band ein Konzert in der alten Brotfabrik.« Gürbüz sah auf die Armbanduhr. »So. Ich muss jetzt wieder etwas tun. Sorry, wenn ich Ihnen in Sachen Hollstein nicht weiterhelfen konnte. War erfrischend, einmal mit jemandem von außerhalb Gedanken auszutauschen. Wäre das hier nicht meine Heimat, würde ich auch gern bei Ihnen im Norden praktizieren. Man sagt, dort wäre alles ruhiger, gelassener und vor allem toleranter.« Der Anwalt bedachte Lüder mit einem festen Händedruck. »Und wenn Sie Golombek noch einmal sprechen möchten: Sie finden ihn mittags oft im Restaurant Feuerkugel.«
Eigentlich hatte Lüder vorgehabt, nach Hause zu fahren. Jetzt hatte ihn der Hinweis auf das Konzert neugierig gemacht. Und eine Kleinigkeit zu essen würde auch nicht verkehrt sein. Er suchte das Restaurant auf. Im Inneren erwartete ihn ein uriges Ambiente im Jugendstil. Auf dem Tresen stand ein altes Grammophon mit einem großen Trichter. Es erinnerte Lüder an das Markenzeichen eines Plattenlabels, das auch ein solches Gerät zeigte, vor dem ein Hund lauschend saß. Im Hintergrund wies ein Schild den Weg zu den Sanitärräumen und einem Biergarten.
Das Lokal war gut besucht. Es würde schwierig sein, einen freien Platz zu bekommen. Lüder wollte das Restaurant wieder verlassen, als er Golombek entdeckte. Der Anwalt saß nicht allein an seinem Tisch. Ihm gegenüber hockte Oberstaatsanwalt Knüppel. Beide waren tief in ein Gespräch verwickelt.
Zuerst wollte sich Lüder diskret zurückziehen. Dann entschloss er sich zur Provokation, ging schnurstracks zum Tisch der beiden, verbeugte sich leicht und sagte: »Mahlzeit, die Herren. Mundet das Mahl besonders gut, wenn dabei konspirative Netze geflochten werden? Oder dealen Sie? Nicht mit Glückspulver, sondern wie Spiegelfechtereien vor Justitias Schranken. Die wahre Freiheit ist nichts anderes als Gerechtigkeit.« Lüder hatte Mühe, ein Lachen zu unterdrücken.
Die beiden Männer sahen ihn mit offenen Mündern an. Sie waren sprachlos.
»Für Bildungsbürger«, ergänzte er. »Das Zitat stammt von Johann Gottfried Seume.« Er drehte sich um, als wolle er gehen, überlegte es sich dann aber noch einmal anders und schob nach: »Noch etwas unter uns Juristen: Recht und rechts sind unterschiedliche Dinge.« Er zeigte auf die Teller. »Lassen Sie es sich schmecken.«
Nahezu beschwingt suchte er sich einen Platz in Sichtweite der beiden und bat eine ältere Dame, sich zu ihr setzen zu dürfen. Die Frau war hocherfreut über die Gesellschaft und nutzte die Gelegenheit, um Lüder die Geschichte ihrer Familie, beginnend bei Karl dem Großen, zu erzählen. Lüder nickte freundlich, steuerte sporadisch ein »Schön«, »Interessant« oder »Nett« bei und ließ es sich nicht nehmen, Golombek und Knüppel mit dem Glas zuzuprosten, wenn sie sich zu ihm umdrehten. Subjektiv hatte er das Gefühl, sie würden nur noch in seine Richtung schauen. Die Rinderroulade mit Rotkohl und Thüringer Klößen, die Lüder noch nie in dieser Güte gegessen hatte, erwies sich als Volltreffer.
Lüders Tischnachbarin wirkte fast ein wenig enttäuscht, als er sich nach dem abschließenden Kaffee von ihr verabschiedete.
Er suchte sich ein ruhiges Plätzchen und rief nacheinander Dr. Starke und zu Hause an. Auf der Dienststelle gab es keine Neuigkeiten. Von seiner Mutter, die am Apparat war, musste er sich zum wiederholten Mal anhören, dass er dringend in Kiel gebraucht werde. Lüder hatte Probleme, der alten Dame zu widersprechen. Sie hatte recht.
Sein letztes Telefonat galt Geert Meenchen vom Verfassungsschutz. Der Regierungsamtmann beklagte sich, dass die Thüringer Kollegen sich sehr bedeckt halten würden. »Ich verstehe das nicht. Es geht um Almawt lilmushrikin. Wir haben hier Informationsbedarf. Schließlich hat die Terrorgruppe nachweislich das Attentat in Büsum begangen. Da erwarte ich Unterstützung von den Thüringer Kollegen. Die mauern regelrecht. Sie sagen zwar nicht, dass sie Almawt lilmushrikin nicht kennen, aber Auskünfte … Fehlanzeige.«
»Haben Sie einen Ansprechpartner beim Landesamt für Verfassungsschutz?«
»Greiff heißt der. Ich kenne ihn sogar persönlich. Eigentlich ist er umgänglich. Aber Sie wissen ja, wie das ist. Die Schlapphüte sind eine andere Kaste als die Polizei.«
»Die sind in Erfurt auch sehr verschwiegen«, erklärte Lüder. »Soll ich den Herrn persönlich aufsuchen?«
»Lieber nicht«, meinte Meenchen. »Ich habe den Eindruck, Sie sind in Thüringen eine Persona non grata.«
»Woher wissen Sie das?«
»Ach«, erklärte Meenchen. »Bei dem Wetter an der Förde habe ich das Bürofenster geöffnet. Da höre ich, was die Spatzen von den Dächern pfeifen.«
»Vielen Dank für die musikalische Einstimmung. Ich werde heute Abend ein Konzert besuchen.«
»Mit der Philharmonie Gotha-Eisenach?«
»Nein. Dort, wo ich hingehe, wird mehr auf die Pauke gehauen.«
Sie wünschten sich ein schönes Wochenende.
Im Hotel zeigte man sich überrascht, als Lüder dort wieder auftauchte.
»Erfurt ist doch eine schöne Stadt. Da lohnt auch ein längerer Aufenthalt«, meinte die junge Frau an der Rezeption.
Lüder stimmte ihr zu. Erfurt war wirklich eine Reise wert, wenn man bestimmte Ungereimtheiten außer Acht ließ.
Die »Alte Brotfabrik« war ein äußerlich heruntergekommener Bau, in dem Veranstaltungen aus dem subkulturellen Spektrum stattfanden. Auch in anderen Städten hatte man ehemalige Fabrikanlagen hergerichtet und nutzte sie heute für kulturelle Veranstaltungen. Dabei störte es nicht, wenn der rustikale Charakter der früheren Nutzung beibehalten wurde. Manche Einrichtungen hatten inzwischen Kultstatus erreicht. Das traf auf die Alte Brotfabrik eher nicht zu. Schmierfinken, Graffiti konnte man es nicht nennen, hatten die Wände bekleckert. Halb zerfetzte Plakate klebten an der zerbröselten Ziegelmauer, die Fenster waren blind. Die ganze Gegend machte einen trostlosen Eindruck.
Lüder hatte sich schräg gegenüber in einen dunklen Hauseingang gezwängt und beobachtete das Publikum, das in für ihn überraschend großer Zahl dem Eingang entgegenstrebte. Es waren überwiegend junge Leute. Sie unterhielten sich lautstark und fröhlich, manche schwenkten Bierflaschen, viele rauchten. Sie wirkten, als wären sie auf dem Weg, um »Party zu machen«. Es war ein buntes Völkchen, das dort zusammenkam. Und das durfte man wörtlich nehmen, wenn man die Kleidung und die teilweise schrillen Farben der Haare betrachtete.
Unter den jungen Leuten sah Lüder aber auch Figuren, die kurz geschorene Haare, Kampfjacken und Springerstiefel trugen. Im Nacken, auf den gelegentlich kahl geschorenen Schädeln und manchmal auch im Gesicht prangten Tattoos, die er aus der Distanz nicht im Detail erkennen konnte. Dafür fiel ihm ein halbes Dutzend martialisch aussehender Männer in Lederjacken auf, auf deren Rücken in Braunorange die Buchstaben »HH« prangten, untereinander und leicht nach links versetzt. Das »H« war eine Initiale für einen weiteren Text.
Lüder wagte sich aus der Deckung und konnte den Text vollständig erkennen. »Herrenberg Hasser«, stand dort, wesentlich kleiner als die Initiale. Er war entsetzt. Statt des von Rechtsradikalen oft gebrauchten Symbols »88« für die Doppelung des achten Buchstabens scheute man sich hier nicht, »HH« offen zu tragen. Herrenberg, so hatte Mahmud vom Mersin-Grill erzählt, war eine Erfurter Plattenbausiedlung, wie man sie oft in ostdeutschen Städten antraf. Nach der Wende konzentrierten sich dort jene Menschen, die aus finanziellen Gründen keine Alternative fanden. Es gab dort kaum Integrationsfiguren oder soziale Vorbilder. So hatte sich eine Szene fest etabliert, die mit rechtsextremer Vereinsstruktur und Erlebniswelt fest in das Stadtviertel integriert war und sich vorwiegend an sozial benachteiligte Jugendliche richtete. Möglicherweise stammten viele der Besucher von dort.
Es war ohnehin erstaunlich, fand Lüder, dass Thüringen trotz des geringsten Ausländeranteils aller Bundesländer deutschlandweit die meisten rechtsextremen Demonstrationen aufwies, von der Anzahl und den Teilnehmern her. Das Land war auch eine Hochburg für Rechtsrock-Konzerte. Hier fanden die größten Veranstaltungen dieser Art statt. Und wenn die Ordnungsbehörden solche Großveranstaltungen untersagen wollten, wurden sie nicht als Konzert, sondern als politische Versammlung angemeldet.
»In Hameln war es der Rattenfänger, der die Kinder angelockt hat …«, sagte Lüder zu sich selbst.
Allein die Begrifflichkeiten schockierten ihn. Der Ordnungsdienst mit den Initialen HH und der Name der Band: Blut und Treue. Waren die jugendlichen Besucher so unbedarft, dass sie das nicht überblickten? Oder gingen sie aus Überzeugung zu dieser Veranstaltung? Was lief hier falsch? Er spielte kurz mit dem Gedanken, auch in das Konzert zu gehen. Ich bin blond und blauäugig, das passt, dachte er sarkastisch, entschied sich aber dagegen. Sein gesamtes Erscheinungsbild entsprach nicht den Vorstellungen der Rechtsradikalen.
Plötzlich stutzte er. Unter die jugendlichen Besucher hatte sich ein Mann mittleren Alters gemischt, der vom Äußeren her nicht zu den anderen passte. Er war sportlich salopp gekleidet, aber ohne die Attribute, mit denen sich manche aus diesen rechtsextremen Kreisen schmückten. Lüder hatte den Mann schon einmal gesehen. Zweimal sogar. Es war einer der Männer, die am Mersin-Grill vorbeigegangen waren, als Lüder dort das verunglückte Schaschlik gegessen hatte. Das zweite Mal hatte er den Mann bemerkt, als der ihm möglicherweise durch Erfurts Innenstadt gefolgt, dann aber abgebogen war. War das noch Zufall? Traf man sich »zufällig« in einer Stadt mit über zweihundertzehntausend Einwohnern? Und dann bei einem solchen … solchen …
Bei einer solchen Kakofonie von Konzert zu sprechen wäre eine Beleidigung für jeden anspruchsvollen Musikliebhaber gewesen. Deutschland, das Land von Beethoven, Bach und Mozart. Nun gut. Mozart war Österreicher. Aber Deutschland hatte auch einen anderen Österreicher vereinnahmt.
Wie zufällig glitt Lüders Blick zu dem zerfallenen Gemäuer hinüber. Er zuckte zusammen, als die Musik einsetzte. Ohne Vorwarnung brach eine Naturkatastrophe von Tönen über ihn herein. Selbst damals, bei der Abiturabschlussfeier, als sie voll des süßen Weins durch Itzehoe gezogen waren und ein spontanes Trommelkonzert auf Mülleimern veranstaltet hatten, hatte es harmonischer geklungen. Der Musik folgte der Gesang. Nein! Gesang konnte man es nicht nennen. Lüders Ohren erreichte ein infernalisches Geschrei, als würde man einem Vollidioten die Fußnägel herausreißen. Gebannt starrte er auf die andere Straßenseite. Dort standen noch zwei »HH-Leute« Posten. Für Lüder war es eine beeindruckende Demonstration dessen, wie diese Leute Jugendliche einfingen.
Er hatte sich so intensiv der Beobachtung gewidmet, dass er den kraftstrotzenden Glatzkopf nicht bemerkt hatte, der sich ihm von der Seite näherte.
»Bulle oder Schmierfink der Lügenpresse?«, sagte der Glatzkopf, packte Lüder am Kragen und drehte ihm die Luft ab. »Solche Arschlöcher ficken wir.«
»Das wirst du die nächste Zeit nicht können«, krächzte Lüder und nutzte einen Fehler in der Abwehr des Schlägers. Er hatte den Abstand zu Lüder zu groß gewählt. Lüder zog das Knie hoch und rammte es dem Glatzkopf mit Kraft an die Stelle, an der es besonders wehtat. Der Erfolg stellte sich sofort ein. Augenblicklich ließ der Mann Lüder los und krümmte sich mit einem vernehmlichen Schmerzlaut.
»Ich bin auch unfair«, sagte Lüder und setzte seitlich einen Leberhaken nach. Der Glatzkopf japste nach Luft. Dann sackte er zu Boden. »Du hättest Bud Spencer statt Naziparolen studieren sollen.«
Die beiden Wachposten gegenüber hatten den Zwischenfall noch nicht bemerkt. Lüder stieg über den am Boden Liegenden hinüber und beeilte sich, den ungastlichen Ort zu verlassen. Würde man seine Anwesenheit und sein Tun bemerken, hätte das böse Konsequenzen für ihn. Unbehelligt erreichte er schließlich sein Hotel.