Lüder hatte sich Zeit für das ausführliche Frühstück genommen. Viveka war auffallend ruhig gewesen. Still und zurückhaltend hatte sie sich verabschiedet. Sie war genauso müde wie Lüder, nachdem er sie nach Mitternacht von der Uniklinik abgeholt hatte. Ein Rechtsmediziner hatte sie zusätzlich untersucht. Lüder war erstaunt gewesen, dass Margit offensichtlich gar nichts von der nächtlichen Aktion mitbekommen hatte. Die Medikamente schienen von kräftigem Kaliber zu sein. Ob das durchzuhalten war …
Die beiden Jungen und Viveka waren zur Blume vorausgefahren, um dort ihre Aussagen zu Protokoll zu geben.
»Was sollen wir sagen?«, hatte Jonas noch in der Nacht gefragt.
»Wir stimmen nichts ab. Berichtet über den Sachverhalt, wie ihr ihn erlebt habt.«
»Auch, dass wir ihn hierhergeschleppt haben? Ist das nicht Freiheitsberaubung?«
»Nein«, erklärte Lüder. »Paragraf 127 Strafprozessordnung …«
»So genau wollte ich es nicht wissen«, unterbrach ihn Jonas.
»Es ist jedermann, übrigens auch Minderjährigen, gestattet, eine auf frischer Tat ertappte oder verfolgte Person, die der Flucht verdächtigt oder deren Identität nicht sofort feststellbar ist, vorläufig festzunehmen.«
Jonas grinste. »Gilt das auch in der Disco, wenn das Girl mir ihren Namen nicht nennen will?«
»Kaum.«
»Aber wenn sie abhaut?«
»Wie heißt dein Kumpel aus der Oberstufe? Der mit den langen Haaren?«
»Du meinst Kai Richter?«
»Genau. Nimm den mit in die Disco. Dann hast du einen Richter dabei.«
Mit einem »Blödmann« beendete Jonas den Dialog.
Lüder hatte im LKA die Nachricht hinterlassen, dass er später kommen werde.
»Wir wissen Bescheid«, hatte Edith Beyer erklärt. Offenbar funktionierte das Netzwerk in Kiel genauso gut wie in Erfurt.
In der Blume erwartete ihn Hauptkommissar Vollmers.
»Tut mir leid, was Ihrer Tochter geschehen ist. Das war aber kein Zufall, oder?«
Lüder weihte den Kieler in Kurzform ein. »Ich vermute ein gezieltes Attentat auf ein Mitglied meiner Familie.«
»Ihre Tochter trägt einen anderen Namen?«
»Es ist die Tochter meiner Lebenspartnerin, aber gefühlt ist sie meine Tochter.«
Vollmers sah auf die Uhr. »Wir waren schon erfolgreich, auch wenn der Verdächtige schweigt. An der Sprache kann es nicht liegen. Er heißt Tawfiq al-Moudarres und ist vermutlich vierundzwanzig Jahre alt. Wahrscheinlich kommt er aus Syrien.«
»Syrien?«
»Das ist anzunehmen. Er ist 2015 mit dem großen Flüchtlingsansturm nach Deutschland gekommen und hat zunächst behauptet, minderjährig zu sein. Damit hatte er einen besonderen Schutzstatus. Die Nachforschungen haben ergeben, dass er älter ist als angegeben. Er hat gute Gründe, zu lügen. Man bezichtigt ihn, der Dschabhat Fatah al-Scham angehört zu haben, die früher als al-Nusra-Front bekannt war. Diese radikalen Gruppierungen kämpfen nicht nur gegen das Assad-Regime, also die Regierungstruppen, sondern auch gegen die moderaten Rebellen.«
»Aus unserer Perspektive ist das alles undurchsichtig«, stimmte Lüder zu.
»Gegen al-Moudarres ermittelt die Bundesanwaltschaft wegen des Verdachts der Mitgliedschaft in einer terroristischen Vereinigung.«
Almawt lilmushrikin ist auch eine solche Vereinigung, überlegte Lüder.
Vollmers holte tief Luft. »Wir sind ein föderaler Staat, aber manchmal ist das auch hinderlich. Die linke Hand weiß nicht, was die rechte macht. Er sollte abgeschoben werden. Das ging aber nicht, weil al-Moudarres in Syrien als Terrorist gesucht wurde.«
Hatte Oberst Nasri mit Hollstein bei dessen Besuch in Damaskus auch über al-Moudarres gesprochen? Hatte Hollstein Informationen über den Syrer erhalten und wollte diese in einem Verfahren vor einem deutschen Gericht verwenden? Oder war es umgekehrt, und der syrische Geheimdienstoffizier baute auf Hollsteins Unterstützung, dass der – angebliche – Terrorist nach Syrien ausgeliefert werden sollte? Letzteres erschien Lüder unwahrscheinlich.
»Wenn es stimmt, was man ihm vorwirft, haben Sie und Ihre Söhne einen gewichtigen Fang gemacht«, fuhr Vollmers fort. »Welchem glücklichen Umstand verdanken Sie es, dass es kein Blutvergießen gab?«
Lüder fuhr ein kalter Schauder den Rücken hinab. Er dachte an das Kampfmesser, das der Syrer bei sich geführt hatte. Und das Attentat in Büsum war auch mit einem Messer ausgeführt worden.
»Was hat al-Moudarres gegen die Beschuldigungen vorgebracht?«
»Nichts. Er schweigt beharrlich.«
»Hat man noch etwas bei ihm gefunden? Papiere? Geld? Irgendetwas anderes?«
»Das ist merkwürdig. Nichts.«
»Da steckt System hinter«, stellte Lüder fest. »Die Identität sollte verborgen bleiben, falls etwas bei der Tat schiefgeht. Ich glaube aber nicht, dass al-Moudarres die Sachen versteckt hat, um sie später wieder abzuholen.«
»Er war nicht allein in Kiel?«
»Nein. Jemand hat ihn nach Kiel gebracht und auf die Spur meiner Tochter gehetzt. Wir müssen herausfinden, wer die Logistik übernommen hat.«
»Das würde bedeuten, die Täter haben eine Schwachstelle. Es wird nicht der große Unbekannte gewesen sein. Der Unterstützer könnte eine konkrete Spur sein.«
Lüder stimmte Vollmers zu. »Wir müssen al-Moudarres zum Reden bringen.«
»Können Sie nicht den syrischen Oberst einladen? Der kennt vermutlich passende Methoden.«
»Mir gefallen unsere besser«, sagte Lüder und bat, dass man ihn umgehend informieren möge, falls es Neuigkeiten gäbe.
»Bringt es etwas, wenn Sie mit ihm sprechen?«
Lüder sagte, es sei einen Versuch wert.
Al-Moudarres zeigte einen trotzigen Gesichtsausdruck, als man ihn hereinführte.
Lüder begann, ihn nach seinem Namen zu fragen. Er wollte wissen, wie der Mann aus Erfurt nach Kiel gekommen war, wer sein Begleiter war. Lüder fragte nach der Tatbeteiligung in Büsum. Der Syrer schwieg beharrlich. Gelegentlich zeigte er den Ansatz eines Grinsens.
»Weshalb haben Sie das Mädchen vergewaltigen wollen?«
Zur Überraschung der Polizisten lachte al-Moudarres laut auf.
»Nix vergewaltigen. Mädchen geil. Wollte Ficki-Ficki. Gleich hinterm Busch. Ich Opfer.«
Es fiel Lüder schwer, ruhig zu bleiben. Auch Polizeibeamte sind Väter und haben Emotionen. Er warf dem Syrer vor, am Attentat direkt beteiligt gewesen zu sein, und erntete nur ein müdes Schulterzucken.
»Nix«, behauptete al-Moudarres.
»Kommen Sie«, sagte Lüder und packte den Syrer so kräftig am Oberarm, dass er ihn fast vom Stuhl zog. Ein Räuspern von Vollmers ließ ihn einhalten. Sie führten al-Moudarres zu einem Bildschirm. Lüder rief den Film aus der Überwachungskamera der Buchhandlung auf, die den Syrer im Laden, aber auch beim Erkunden des Hinterausgangs zeigte.
»Es gibt Zeugen, die Sie während der Tat beobachtet haben. Die Indizien sind eindeutig«, erklärte Lüder. »Sie werden wegen Mordes verurteilt werden. Sie kennen sich in Sachen Asylantrag und Gewährung aus. Natürlich! Dann wissen Sie auch, dass Deutschland strengere Regeln anstrebt und Straftäter in ihr Heimatland abschiebt.«
Al-Moudarres wurde blass. Seine Augenlider zuckten. Hatten sie seine schwache Stelle entdeckt? Weiter durfte Lüder nicht gehen. Man könnte es sonst als psychische Gewalt auslegen. Das würde in einem Prozess gegen die Ermittlungsbehörden verwendet werden. Erfahrungsgemäß spielte die Zeit aber für die Polizei. Der Widerstand der Verdächtigen brach mit zunehmender Dauer der Untersuchungshaft.
Lüder fuhr ins LKA und suchte den Abteilungsleiter auf. Dr. Starke hörte sich Lüders Bericht an und drückte sein Mitgefühl aus. Im Unterschied zu früheren Zeiten klang es nicht geschäftsmäßig. Der Kriminaldirektor wirkte betroffen.
»Ich muss dich von diesem Fall abziehen«, sagte er.
»Die versuchte Vergewaltigung wird von der Bezirkskriminalinspektion bearbeitet.«
»Das ist gut«, stellte Dr. Starke fest.
»Es war keine normale Vergewaltigung, sondern ein gezielter Anschlag auf mich und meine Familie.« Lüder begründete seine These.
Sein Vorgesetzter stimmte ihm zu. »Nach den anderen Drohungen, die man gegen dich ausgesprochen hat, ist das die nächste Eskalationsstufe.«
»Das ist eine Möglichkeit.«
Dr. Starke nickte nachdenklich. »Mir liegt aber noch eine andere Sache auf dem Magen. Die Thüringer haben sich erneut bei der Leitung beschwert. Dort ist ein Journalist aus dem Norden aufgetaucht …«
»Wer?«, unterbrach ihn Lüder.
»Stell dich nicht so dumm. Natürlich dein spezieller Freund Dittert. Der hat gezielt nachgefragt und es dabei auf bestimmte Personen abgestellt. Es klingt so, als hätte er einen Tipp bekommen.«
»Von wem?«
»Das wollte ich von dir wissen.«
»Ausgerechnet Dittert. Du glaubst nicht im Ernst, dass ich mit dem gemeinsame Sache machen würde?«
»Das hätte mich auch gewundert.«
»Dittert ist nicht dumm. Seine Zeitung verfügt über ausgezeichnete Kontakte, über die man nur staunen kann. Wir dürfen aber nicht vergessen, dass er und sein Blatt mitten in der Geschichte stecken. Die Büsumer Attentäter haben sich direkt nach der Tat bei dem Boulevardblatt gemeldet. Ich sehe nur ein Problem.«
»Welches?«
»Wenn Dittert schon so weit vorgedrungen ist, wird er auch auf weitere Punkte stoßen. Wir geraten in ein schlechtes Licht, wenn die Presse vor uns den Fall löst. Wie willst du das der Öffentlichkeit verkaufen?«
Mit Genugtuung registrierte Lüder, dass Dr. Starke nachdenklich auf der Unterlippe kaute.
»Bleib am Ball. Wir müssen auf jeden Fall vor der Presse Ergebnisse bringen. Du hast freie Hand und meine volle Unterstützung. Das ist ein Deal, der unter uns bleibt«, sagte der Kriminaldirektor in verschwörerischem Ton.
Lüder versicherte ihn seiner Verschwiegenheit.
Wer hatte den Song »Du musst ein Schwein sein« herausgebracht? Waren es die Prinzen, die ihre Wurzeln in den neuen Ländern hatten? Sein Anruf bei Dittert war erfolgreich gewesen und hatte nicht nur die Thüringer aufgeschreckt.
Lüder musste unbedingt mit Claudia Susewind sprechen. Die Richterin war abgetaucht. Wohin konnte sie sich gewandt haben, nachdem sie so ad hoc Urlaub genommen hatte? Zufall war das nicht. Lüder rechnete sich keine großen Erfolgsaussichten aus, als er beschloss, nach Büsum zu fahren. Susewind kam aus der Region. Sie kannte Hollstein und hatte eine Beziehung zu ihm, wie immer man »Beziehung« interpretieren mochte.
Der Himmel war bedeckt. Ein nuancenreiches Grau bot dem müßigen Spaziergänger ein interessantes Farbenspiel. Lüder konzentrierte sich auf anderes. Er fuhr systematisch die Straßen ab und suchte nach einem roten Golf mit Erfurter Kennzeichen. Es war ein hoffnungsloses Unterfangen.
Wie gut, dass er keine Rechenschaft über sein Tun ablegen musste. Man hätte an seinem Verstand gezweifelt, ihm vielleicht sogar unterstellt, er gönne sich einen bezahlten Urlaubstag. Die Suche nach dem Pkw war seine einzige Option. Die Frau hätte er nicht erkannt.
Lüder ließ keinen Parkplatz aus, suchte die Supermärkte auf, die öffentlichen Parkplätze. Er wollte schon aufgeben, als er durch die Dithmarscher Straße, in der Bernd Hollstein gewohnt hatte, Richtung Schweinedeich fuhr. Die Nebenstraßen hatte er bereits kontrolliert. Aus den Augenwinkeln sah er in einer, die er bereits befahren hatte, ein rotes Fahrzeug stehen. Er trat auf die Bremse, als er die Einmündung fast passiert hatte. Hinter ihm ertönte wütendes Hupen. Eine Taxe stand Stoßstange an Stoßstange. Er hob entschuldigend den Arm und fuhr an den Straßenrand. Die Taxe setzte zum Überholen an, blieb aber neben ihm stehen. Der Fahrer, dem Äußeren nach kam er aus Südeuropa, senkte die Scheibe der Beifahrerseite ab und bedachte ihn mit einem Wust an Beschimpfungen.
»Entschuldigung«, sagte Lüder. »Ich suche etwas.«
»Dann geh zu Fuß. Fahr nicht wie ein Affe, der das Auto seines Herrn geklaut hat.«
»Ist gut«, versuchte Lüder, den Taxifahrer zu beruhigen. Dessen Temperament hatte auch die herbstliche Witterung nicht besänftigt. Nachdem er Lüder mit weiteren Schimpfwörtern bedacht hatte, reichte es Lüder. Er stieg aus. Der Taxifahrer ebenfalls. Obwohl er einen Kopf kleiner war, nahm er eine drohende Haltung an und kam auf Lüder zu.
Lüder zog seinen Dienstausweis hervor und hielt ihn dem Mann entgegen.
»Polizei«, sagte er im Befehlston. »Nun möchte ich Ihre Papiere sehen. Führerschein. Fahrzeugpapiere.«
»Gar nichts wirst du!« Der Mann fluchte, hielt aber Abstand.
Lüder zog sein Handy hervor. »Ich rufe jetzt einen Streifenwagen an. Die Kollegen werden Sie mit zur Wache nehmen und alles prüfen. Ist das Ihre Taxe? Haben Sie ein Gewerbe angemeldet? Erhalten Sie den Mindestlohn?«
Der Taxifahrer drehte sich um. Es war seinem Ego geschuldet, dass er weiterhin fluchte und Verwünschungen ausstieß. Mit lautem Knall ließ er die Tür ins Schloss fallen und fuhr mit durchdrehenden Reifen davon. Lüder hatte ein Foto von dem Taxi gemacht. Die zuständigen Behörden würden dem Hitzkopf eine Reihe von Fragen stellen.
Dann fuhr Lüder ein Stück zurück und bog in die Straße Blauort ein. Er konnte es kaum glauben. Der rote Golf gehörte Claudia Susewind. Sie hatte ihr Fahrzeug vor einer Pension geparkt, die von außen einem Einfamilienhaus ähnelte.
Lüder stieg aus und klingelte. Es dauerte eine Ewigkeit, bis sich eine Frauenstimme meldete.
»Ich suche Frau Susewind«, sagte er.
»Wir sind ausgebucht«, erwiderte die Stimme.
»Bei Ihnen wohnt Claudia Susewind aus Erfurt.«
»Und?« Die Frau leugnete es nicht.
»Ich suche sie in einer dringenden Familienangelegenheit.«
»Rufen Sie sie an«, schlug die Frau vor.
»Frau Susewind geht nicht ans Telefon.«
»Dann kann ich Ihnen auch nicht weiterhelfen.«
»Würden Sie bitte öffnen? Ich zeige Ihnen meinen Ausweis.«
Es entstand eine kurze Pause. Im Hintergrund hörte Lüder Getuschel. Offenbar beriet die Frau sich mit jemandem. Dann fragte sie: »Ist es wirklich wichtig?«
»Wenn Sie mir nicht trauen, verständige ich jetzt die Polizei und bitte um Unterstützung.«
»Wir wohnen nicht im Haus, in dem sich unsere Pension befindet, sondern woanders«, sagte die Frau. »Ich weiß nicht, ob die Dame zu Hause ist. Klopfen Sie von außen an ihr Zimmerfenster.« Sie beschrieb das Zimmer von Frau Susewind.
Lüder folgte dem Rat. Nichts rührte sich. Er versuchte es ein weiteres Mal. Nur durch Zufall bemerkte er, dass sich die Gardine kaum merklich bewegte.
»Frau Susewind«, sagte er und klopfte erneut an die Scheibe. »Ich bin von der Polizei und muss dringend mit Ihnen sprechen.«
Die Richterin ging nicht darauf ein.
»Ich versuche seit Tagen, Sie telefonisch zu erreichen, und war auch schon in Erfurt. In der Theo-Neubauer-Straße hat man mir gesagt, Sie seien in Urlaub gefahren. Ich habe mit Ihren Schwestern in Windbergen und Brunsbüttel gesprochen. Sie haben sich nirgendwo abgemeldet. Auch Frau Wehmeyer vom Landgericht wusste nur, dass Sie überhastet Urlaub angetreten haben. Bitte öffnen Sie. Es geht um den Mord an Bernd Hollstein.«
In Zeitlupe wurde die Gardine zur Seite geschoben, und es erschien ein halbes Gesicht.
Lüder drückte seinen Dienstausweis gegen die Fensterscheibe. Die Frau zog die Gardine ein wenig weiter auf und besah sich das Dokument.
»Ich komme«, sagte sie.
Dann öffnete sich die Haustür.
Claudia Susewind reichte Lüder bis zur Schulter. Sie hatte eine zur Rundlichkeit neigende Figur, was ihr aber gut stand. Salopp würde man formulieren, dass das Frauliche an ihr gut betont wurde. Die Jeans und der mittelbraune Pullover mit dem Rippenmuster waren Freizeitlook. Die Brille hatte sie in die brünetten Haare hochgeschoben, die am Hinterkopf zu einem Dutt hochgebunden waren. Das runde Gesicht mit der etwas zu fleischigen Nase war ungeschminkt. Insgesamt war sie eine aparte Erscheinung.
»Ja?«, fragte sie leise.
»Lüders. LKA Kiel«, stellte er sich vor und wollte seinen Ausweis erneut zeigen.
»Danke«, winkte sie ab und trat zur Seite. »Sie kommen wegen Herrn Hollstein.«
Lüder bestätigte es und folgte ihrer Aufforderung, einzutreten. Sie führte ihn in den Aufenthaltsraum, der auch als Frühstücksraum genutzt wurde. Die Einrichtung war altbacken, aber gemütlich. Durch das Fenster mit den Wolkenstores sah man in den gepflegten Garten. Sie bemerkte seinen Blick.
»Ich bin gern hier. Es herrscht eine familiäre Atmosphäre, ohne aufdringlich zu sein.«
»Sie sind nicht das erste Mal hier?«
Sie nickte gedankenverloren. »Seit einer Reihe von Jahren. Herr Hollstein und ich … Wir stammen aus Dithmarschen. Uns hat es vor vielen Jahren beruflich nach Thüringen verschlagen.«
»Sie kannten sich schon vor Ihrem Wechsel nach Erfurt?«
»Flüchtig. Die gemeinsamen regionalen Wurzeln haben uns ins Gespräch kommen lassen.«
»Das ist eine vorsichtige Formulierung. Ich vermute, es verband Sie mehr als nur das Gespräch.«
Claudia Susewind sah gedankenverloren in den Garten. Sie hatte sich seitlich an den Tisch gesetzt. »Das ist eine sehr persönliche Sache.«
Lüder wartete einen Moment, bevor er nachsetzte: »Als Richterin wissen Sie, dass auch sehr private Dinge zu den Ermittlungen gehören.«
Erneut nickte sie. »Wir sind erwachsene Menschen, die auch ein Anrecht auf ein Privatleben haben. Das gemeinsame Interesse für Kunst und Kultur, zum Beispiel«, fügte sie an.
»Das ist Ihnen nicht zu verwehren.«
»Oh doch«, widersprach sie. »Das hat uns viele Jahre belastet. Erfurt ist ein Dorf, besonders wenn man ein Amt ausübt, das im Fokus der Öffentlichkeit steht. Unter der anscheinend friedlichen Oberfläche gibt es ein Hauen und Stechen. Jeder Anwalt, jede Partei nutzt gnadenlos die Schwäche der Gegenseite aus, um sich ein Quäntchen Vorteil zu verschaffen. Wir mussten unsere Verbindung geheim halten. Ein Staatsanwalt und eine Richterin … Da wird sofort von Kungelei gesprochen. Es wird unterstellt, dass die Verfahren nicht objektiv sind und vorher abgesprochen werden. Deshalb waren es für uns immer besonders glückliche Wochen, wenn wir zusammen im Urlaub waren, hier in Büsum.«
»Das war der Grund, weshalb Bernd Hollstein nach der Pensionierung hierhergezogen ist?«
Sie nickte wieder. »Ich habe auch nicht mehr lange zu arbeiten. Dann wollten wir unseren Lebensabend gemeinsam verbringen, fern von Erfurt, hier an der Nordsee. Herr Hollstein wollte nach einem Haus suchen. Oder einem passenden Apartment.«
Das erklärte, weshalb die Wohnung so dürftig eingerichtet war. Lüder und Markus Schwelm von der Itzehoer Kripo hatten sich über das Spartanische gewundert.
Es musste für die beiden Juristen ein jahrelanger Spagat gewesen sein, das Berufliche vom Privaten zu trennen und vor Dritten im Verborgenen zu halten. Man durfte abends nicht zusammen essen gehen. Und Bernd Hollstein wurde unterstellt, er sei homosexuell gewesen, weil man ihn nie zusammen mit einer Frau gesehen hatte.
»Sie sind überstürzt in den Urlaub aufgebrochen. So nannte man es auf dem Landgericht.«
Claudia Susewind schluckte heftig. »Natürlich wusste ich, was in Büsum geschehen ist und wer das Opfer war. Ich war wie in Trance. Im Gerichtssaal ist mir schon alles begegnet. Mir ist nichts Menschliches, auch nichts Unmenschliches fremd. Es hat aber eine andere Wirkung, wenn Sie Betroffener sind.«
»Haben Sie oft miteinander zu tun gehabt, ich meine, vor Gericht?«
»Ja – sicher. Herr Hollstein war früher mit vielen Verfahren betraut, die vor der Ersten Strafkammer verhandelt wurden. Das sind die Schwurgerichtssachen. Dort bin ich Vorsitzende Richterin.«
»Von diesem Amt ist er aber entbunden worden.«
»Herr Hollstein ist seit zwei Jahren pensioniert.«
»Weshalb hat man ihn zuletzt, vor seiner Pensionierung, nur noch kleinere Sachen bearbeiten lassen? War ihm etwas vorzuwerfen? Hat er sich etwas zuschulden kommen lassen?«
»Herr Hollstein? Nein. Er war immer korrekt und hatte einen unverwüstlichen Glauben an die Unabhängigkeit der Justiz.«
»Gab es Behinderungen in dieser Unabhängigkeit?«
Sie schüttelte so heftig den Kopf, dass die Brille ins Rutschen kam. Mit einer fahrigen Bewegung schob sie die Gläser wieder in die Haare.
»Niemand wagt es in Deutschland, ein Gericht zu beeinflussen. Wenn Sie etwas bewirken wollen, müssen Sie vorher ansetzen.«
»Zum Beispiel bei der Staatsanwaltschaft. Was die einem Gericht nicht vorträgt, wird auch nicht verhandelt.«
»So könnte es sein.« Claudia Susewind spitzte die Lippen. »Entweder wird keine Anklage erhoben, oder man lässt als Staatsanwalt Dinge, die sich auf die Schuld und die zu erwartende Strafe auswirken könnten, unerwähnt.«
»Wir sprechen von einem Straftatbestand nach Paragraf 339 Strafgesetzbuch, der Rechtsbeugung. Das ist ein schwieriges Thema, denn nicht jede Unvertretbarkeit einer Entscheidung begründet eine Rechtsbeugung. Nur ein elementarer Verstoß gegen die Rechtspflege wird unter Strafe gestellt.«
Sie sah ihn mit großen Augen an.
»Ich bin Jurist«, erklärte Lüder.
»Aha.«
»Die richterliche Unabhängigkeit zu beeinflussen fällt schwer. Staatsanwälte sind in einem gewissen Rahmen weisungsgebunden. Hat man Bernd Hollstein dahin gehend manipulieren wollen? Wurde er deshalb abserviert, weil er sich dem nicht beugen wollte?«
Claudia Susewind antwortete mit einer vagen Handbewegung, die Lüder als Zustimmung interpretierte.
»Wer hat Druck auf ihn ausgeübt? Weshalb hat er sich nicht dagegen gewehrt, das Ganze öffentlich gemacht?«
»Ach, wissen Sie.« Es klang resigniert. »Wer auch immer Herrn Hollstein bedrängt hat … Das sind keine Amateure. Die gehen geschickt vor. Denen können Sie nichts beweisen. Ganz im Gegenteil. Sie gelten als Denunziant, der durch falsche Anschuldigungen mit Schlamm wirft. Das ist Mobbing auf intelligente Art.«
»Wer war das? Erich Knüppel?«
Sie wich Lüders Blick aus. Dann stand sie auf und ging langsam zum Fenster.
»Frau Susewind«, mahnte Lüder sie nach einer Weile. »Dahinter könnte sich das Mordmotiv verbergen.«
»Nein«, erwiderte sie entschlossen. »Ich diffamiere niemanden.«
»Soll ich ein Ermittlungsverfahren gegen Oberstaatsanwalt Knüppel einleiten?«
Claudia Susewind drehte sich zu ihm um, blieb aber am Fenster stehen. »Damit bewirken Sie gar nichts. Da ist ein komplexes System, das dahintersteckt.«
Thüringen war ein schwieriges Pflaster. Das hatte Lüder selbst erlebt.
»Was waren das für Fälle, mit denen Bernd Hollstein angeeckt war?«
»Brisante Fälle. Das hätte ein Erdbeben ausgelöst. Diese Naturgewalten kann niemand gebrauchen.«
»Wie weit reicht es nach oben?«
Sie lachte bitter auf. Statt einer Antwort zeigte sie mit dem Finger zur Zimmerdecke.
»Hängt es mit sicherheitspolitischen Aspekten zusammen?«, fragte Lüder.
»Damit können Sie alles begründen.«
»Almawt lilmushrikin?«
Lüder war überrascht, als die Richterin einen heftigen Lachanfall bekam. Es dauerte eine Weile, bis sie sich wieder beruhigt hatte.
»Wir beide wissen, dass Almawt lilmushrikin ein Phantom ist«, stellte Lüder fest.
»So ist es.« Claudia Susewind fuhr mit dem Arm durch die Luft. »Sie können den ganzen Apparat darauf ansetzen … Sie werden nichts finden. Es gibt die Gruppe nicht.«
»Wer steckt dahinter?«
»Tja. Das hat Bernd auch interessiert.«
Lüder fiel auf, dass sie das erste Mal von »Bernd« und nicht von »Herrn Hollstein« sprach.
»War er deshalb in Syrien? Die Exkursion war nicht ungefährlich.«
»Nicht nur deshalb. Syrien.« Der Name des Landes rollte ihr förmlich über die Zunge. »Das ist ein Land, das arg gebeutelt ist. Wenn wir ehrlich sind, haben wir den Überblick verloren, wer dort gegen wen kämpft. Nach unseren Maßstäben sind alle Beteiligten Straftäter. Bernd wollte sich Klarheit verschaffen. Deshalb hat er den Kontakt zu diesem syrischen Oberst gesucht.«
»Ist Nasri vertrauenswürdig?«
»Bestimmt nicht. Der hat genauso viel Dreck am Stecken wie alle anderen, die dort mitmischen. Ich möchte nicht in den Abgrund seiner Seele blicken. Aber auch der ärgste Verbrecher hat tief in seinem Inneren etwas Gutes. Bei den meisten ist es nur so verborgen, dass Sie es nicht sehen können.«
Lüder zeigte sich skeptisch.
»Nasri könnte zum Beispiel aus Überzeugung für sein Land handeln und seine Taten, deren er sich bestimmt schuldig gemacht hat, damit rechtfertigen, dass seine Opfer – ja, ich bezeichne sie so – an den Grundfesten seines Heimatlandes rütteln. Dieses Gefühl kann man ihm nicht absprechen, auch wenn dieser Staat gegen alle Regeln der Menschlichkeit verstößt.«
»Welche Erkenntnis hat Bernd Hollstein aus Syrien mitgebracht? Er hatte einen guten Draht zum syrischen Geheimdienst gepflegt.«
»Bernd ließ sich nicht blenden. Er wusste, wie er mit Nasris Informationen umzugehen hatte. Es hat ihm geholfen, die Dinge richtig zu betrachten.«
»Objektiv?«
»Was ist objektiv? Das sagt Ihnen eine Richterin, die ihr ganzes Berufsleben nach der Objektivität gesucht hat.«
»Haben Sie sie gefunden?«
»Könnte ich die Frage beantworten, wäre ich eine Weise.«
Wie die Verbindung zu Oberst Nasri zustande gekommen war, wusste Claudia Susewind nicht. Sie kannte den Syrer auch nicht.
»Wer hat Almawt lilmushrikin erfunden?«
»Ein brauchbares Vehikel, das geschickt eingesetzt wurde.«
»Dahinter stecken kluge Köpfe, die die Behörden, aber auch die Medien in die Irre geführt haben«, stellte Lüder fest. »The Brain« hatte er sie einmal genannt. Es gab aber nicht das eine verbrecherische Genie, das etwas zu seinem persönlichen Vorteil initiiert hatte. Die Taten waren lange vorbereitet worden. Die Logistik war perfekt. Wer steckte hinter Almawt lilmushrikin?
Zumindest führte die Spur in den arabischen Raum. Der Büsumer Attentäter und der Syrer Tawfiq al-Moudarres, der nicht nur am Büsumer Verbrechen beteiligt war, sondern auch Viveka missbrauchen wollte, kamen aus diesem Kulturkreis. Wer hatte al-Moudarres dazu angestiftet? Angestiftet? Es ihm befohlen.
»Es muss ein handfestes Motiv geben, Bernd Hollstein mit einer solch aufwendigen Inszenierung zu ermorden.«
»Da gibt es sicher ein Bündel von Motiven. Wenn man den Verdacht geschickt auf islamistische Fundamentalisten lenkt, hat man ein Feindbild inszeniert. Leute mit einem islamischen Hintergrund ziehen immer, besonders in einem Landstrich wie Thüringen oder Sachsen. Dort ist es politisch einflussreichen Kreisen gelungen, Angst vor der Überfremdung zu schüren. Ich muss das nicht ausführen. Wir alle wissen davon. Wenn jetzt ein honoriger Staatsanwalt den Fundamentalisten zum Opfer fällt, ist die Empörung groß. Es fällt leicht, auf diesem Nährboden die Saat des Fremdenhasses noch weiter gedeihen zu lassen.«
»Das ist teuflisch.«
»Ein klug ausgetüftelter Plan«, sagte Claudia Susewind.
Lüder räusperte sich. »Als Agent Provocateur bezeichnet man landläufig einen Lockspitzel, der meistens im Auftrag des Staates etwas unternimmt, um die Gegenseite zum Handeln herauszufordern.«
Die Richterin bewegte den Zeigefinger. Es war eine Geste des Verneinens. »Nicht des Staates, sondern eines Staates. Das ist ein großer Unterschied.«
Lüder stimmte ihr zu.
»Bernd«, fuhr sie fort, »hat nicht auf die politische Himmelsrichtung geschaut. Er war der Überzeugung, dass jede Straftat, gleich ob von links, von rechts oder von oben«, dabei zeigte sie zur Zimmerdecke, »initiiert, zu verfolgen ist.«
Lüder lächelte. »Mit ›von oben‹ meinen Sie religiös inspirierte Taten. Almawt lilmushrikin. Tod den Götzendienern. Jeder vermutet sofort, dass Fundamentalisten dahinterstecken. In Verbindung mit der Drohung, weitere Attentate zu verüben, macht es die Ermittler blind für andere Erklärungen.«
»So ist es«, stimmte Claudia Susewind zu. »Sie können sich totsuchen nach Almawt lilmushrikin. Es gibt auch noch zahlreiche Beweise, dass Fundamentalisten dahinterstecken. Nehmen Sie die Zeugenaussagen, den Videobeweis. Überall sehen Sie arabisch aussehende Beteiligte. Durch die Maskerade in Gestalt einer Frau, die das Messerattentat verübte, wird der Verdacht erhärtet.«
Lüder berichtete vom Bekennerschreiben direkt nach dem Attentat und vom Auftreten des jungen Syrers. »Die Täter sind sehr geschickt vorgegangen und haben alles exakt geplant. Es ist demnach kein Zufall, dass wir auf den Syrer gestoßen sind. Das erhärtet den Verdacht, Fundamentalisten würden hinter der Tat stecken. Sie haben bei der logistischen Planung und Vorbereitung aber den Rahmen überzogen. Ich neige nicht dazu, islamistischen Gewalttätern eine gewisse Perfektion abzusprechen, aber hier steckt mehr Organisation dahinter.«
Die Richterin zeigte auf Lüder. »So ist es.«
»The Brain« hatte in seinem perfiden Plan bedacht, durch das Legen der falschen Spur sorgsam Puzzleteile auszustreuen, die scheinbar zueinanderpassten. Jens Starke, aber auch Leif Stefan Dittert waren dieser vorgeblichen Indizienkette gefolgt. Wenn jemand von einer Idee überzeugt war, fiel es schwer, ihn vom Gegenteil zu überzeugen. Er müsste seinen Irrtum eingestehen. All das hatte »The Brain« bedacht. Der Gegner war ein kluger Schachspieler, doch Lüder weigerte sich, krimineller Energie Respekt zu zollen.
»Weshalb hat ein engagierter Jurist wie Bernd Hollstein keine Karriere gemacht und wurde nicht Oberstaatsanwalt?«
»Das ist eine gute Frage. Ich lehne mich einmal weit aus dem Fenster: Er war nicht systemkonform.«
Sie wurden durch eine Frau unterbrochen, die den Aufenthaltsraum betrat, Claudia Susewind entdeckte und freudestrahlend auf sie zukam.
»Heute ist das Wetter nicht so schön. Ich habe meinen Mann nicht überreden können, mit ans Wasser zu kommen. Hoffentlich haben wir morgen besseres Wetter. Wir wollen nämlich mit der ›Funny Girl‹ nach Helgoland. Wenn es schaukelt, macht es keinen Spaß. Waren Sie schon einmal da?«
»Nein«, antwortete die Richterin kurz angebunden.
»Haben Sie nicht Lust, mitzukommen?«
»Ich habe schon etwas anderes vor.«
Die Frau hatte sich vor dem Tisch aufgebaut. »Wie lange bleiben Sie noch?«
»Das kann ich noch nicht sagen. Ich habe etwas zu erledigen.«
»Wo ist Ihr Begleiter, der nette Herr, der sonst immer dabei war?«
Die Richterin zog demonstrativ die Nase hoch. »Der ist verstorben.« Sie zeigte auf Lüder. »Wir sprechen gerade seine Beerdigung durch.«
Die Frau wurde blass. »Oh. Verzeihung«, stammelte sie. »Mein aufrichtiges Beileid.« Dann beeilte sie sich, den Raum zu verlassen.
»Wo waren wir stehen geblieben?« Claudia Susewind wandte sich wieder Lüder zu. »Ach ja. Bernd hat nicht im Chor mitgeheult. Man sah in ihm fast eine Art Verräter.«
»Bitte?«, fragte Lüder überrascht.
»Ich weiß. Das ist eine harsche Formulierung. Bernd hat nicht nur gegen Islamisten, Asylanten und nordafrikanische Straftäter ermittelt, sondern hat auch nicht vor Ermittlungen gegen Polizeibeamte und den Verfassungsschutz zurückgeschreckt, wenn es um rassistisch motivierte Übergriffe gegen Ausländer ging.«
»Ist das ein ernstes Thema in Thüringen?«
»Nicht nur dort«, wiegelte sie ab. »Die Polizei ist genauso wie die Bundeswehr ein Spiegelbild der Gesellschaft. Auch dort verstecken sich Radikale. Die sind sicher in einer absoluten Minderheit, aber es gibt sie. Man muss die aber von jenen unterscheiden, die vom Frust erfasst sind und meinen, ihr täglicher Kampf auf der Straße wäre ein Kampf gegen Windmühlenflügel. Es gibt bestimmt Polizisten, die resigniert haben.«
»Wenn sich die Hintermänner in unseren Kreisen befinden … Wer ist das?«
Die Richterin spitzte die Lippen und legte die gepflegten Finger zusammen. »Sie mögen es nicht glauben, aber bei aller Vertraulichkeit zwischen Bernd und mir haben wir Details ausgeklammert. Auch wenn jeder professionell sein Amt ausgefüllt hat, können Sie Vorabstimmungen im Gerichtssaal nicht leugnen. Gewiefte Anwälte …«
»Wie Golombek«, unterbrach Lüder.
»Zum Beispiel«, pflichtete sie ihm bei. »Der würde das sofort merken. Dem entgeht nicht der leiseste Zwischenton. Bernd war fast versessen darauf, als Aufklärer gegen den Filz in Erfurt vorzugehen.«
»Filz? Das sind harte Worte.«
»Ich weiß, Sie sind überzogen. Aber es gibt Seilschaften, die nicht den rechtmäßigen Zielen folgen.«
»Ist das durchgängig so?«
»An dieser Stelle muss ich passen. Bernd hat mich nicht eingeweiht. Ich weiß nicht, ob es sich auf die Polizei oder gar das LKA und den Verfassungsschutz bezieht.«
War das eine Erklärung dafür, dass man ihn in Erfurt auf Distanz hielt und, nachdem das erfolglos gewesen war, bedrohte? Warum überwachte ihn der Verfassungsschutz? Oder war es nur eine Seilschaft, die ihre Möglichkeiten ausnutzte?
Claudia Susewind stand auf. »Ich muss jetzt an die frische Luft. Das ist eine Menge, was da auf uns einstürmt.« Sie sah Lüder an. »Begleiten Sie mich? Ich habe es unterschätzt, als ich hierherfuhr. Es sind doch mehr Emotionen im Spiel, als ich mir selbst eingestanden habe.«
Sie unternahm nicht den Versuch, die Tränen zu unterdrücken.
»Gern« sagte Lüder und sicherte zu, im Aufenthaltsraum zu warten, bis sie sich frisch gemacht hatte.
Nach einer Viertelstunde kehrte sie zurück, passend zur Witterung und für einen Strandspaziergang gekleidet.
Es herrschte ein frischer Wind, als sie ins Freie traten. Lüder war sich nicht sicher, ob nicht auch ein paar Regentropfen fallen würden.
»Ich ziehe mir eine Jacke über«, sagte er und ging zu seinem BMW.
Claudia Susewind hatte die Hände am oberen Reißverschluss ihrer Windjacke zusammengekrallt und hielt sie fest. Sie fror.
»Wir können hier vorn rechts Richtung Perlebucht gehen«, schlug sie vor. »Dort kommen wir über den Deich ans Wasser.«
Sie waren fast auf Höhe seines BMW, als sich von hinten langsam ein Auto näherte. Hier, im Kurgebiet, fuhren alle Fahrzeuge Schritttempo. Fast alle. Ein Lächeln zeigte sich auf Lüders Gesicht, als er an den ungeduldigen Taxifahrer dachte. Automatisch drehte er sich um. Der Langsamfahrer musste ein Tourist sein. Stimmt – stellte er fest. Ein dunkler BMW mit Heilbronner Kennzeichen kam langsam näher. Lüder wunderte sich, dass der Beifahrer die Scheibe herabließ.
Fast gleichzeitig tauchte der Lauf einer Pistole auf. Es waren antrainierte Reflexe, die ihn zum Handeln zwangen. Alles spielte sich gleichzeitig ab. Dunkler BMW. Fremdes Kennzeichen. Fensterscheibe. Pistolenlauf. Und die Gestalt, die kurz zu erkennen war. Lüder fand keine Zeit, eine Warnung auszurufen. Er sprang die Richterin, die einen Schritt vor ihm ging, an und riss sie mit zu Boden. Es tat ihm leid, dass sie sicher ein paar Blessuren davontrug. Sie waren noch im Fallen begriffen und fielen hinter Lüders Auto, als die Waffe aufbellte. Lüder hatte keine Zeit, sich um Claudia Susewind zu kümmern. Fast noch im Fallen riss er seine eigene Waffe hervor. Er vermochte nicht zu sagen, wie er sie so schnell durchladen konnte. Der Wagen hatte seine Geschwindigkeit noch weiter reduziert und kam seitlich versetzt vor Lüders Wagen zum Stehen.
Lüder sprang in die Höhe und gab einen unkontrollierten Schuss in Richtung auf den Heilbronner BMW ab. Glas splitterte. Ein lauter Fluch erscholl. Dann wurden zwei Schüsse auf Lüder und die Richterin abgegeben, die aber weit über ihren Köpfen vorbeigingen. Noch einmal sprang Lüder hoch und feuerte. Aus seiner Position war es nicht möglich, gezielt zu schießen. Er wollte mit der Gegenwehr den Gegnern signalisieren, dass es auch für sie gefährlich war. Sein Kalkül ging auf. In das Geräusch der durchdrehenden Reifen mischte sich das Zuschlagen der Autotür. Mit quietschenden Pneus verschwand der BMW um die Ecke Richtung Schweinedeich.
»Haben Sie etwas abbekommen?«, fragte er und beugte sich über die am Boden liegende Frau. Sie stöhnte auf.
»Der Sturz«, sagte sie.
Lüder zog sein Handy hervor und alarmierte den Polizeinotruf. Er gab eine präzise Beschreibung des BMW und das Kennzeichen durch, ergänzt um die Warnung, dass die Täter bewaffnet waren.
»Ich halte es für möglich, dass sie versuchen, Richtung Wesselburen zu flüchten«, sagte er und ergänzte die Meldung um den Hinweis, dass das Fluchtfahrzeug eine beschädigte Heckscheibe hatte. »Wir benötigen auch einen Rettungswagen.«
Er half Claudia Susewind auf die Beine. Der Richterin gelang es erst im zweiten Versuch, sich aufzurichten. Sie ließ es zu, dass Lüder sie gegen sein Auto lehnte und sie mit einer Hand am Ellenbogen abstützte.
»Ich muss nicht ins Krankenhaus«, erklärte sie.
»Doch«, widersprach Lüder. »Sie sind gestürzt. Lassen Sie das medizinisch abklären.«
»Was war das denn?«, fragte sie und versuchte, tapfer zu lächeln.
»Das waren jene Leute, denen es nicht gelegen kommt, dass man hinter die Kulissen sieht.«
»Wir sind doch nicht im Wilden Westen.«
»Anscheinend doch.«
Er ließ unerwähnt, dass er den Schützen erkannt hatte. So viel Dreistigkeit, gepaart mit bodenloser Dummheit, hatte Lüder nicht erwartet. Wie hoch stand der Gegenseite das Wasser bis zum Hals, dass sie sich auf so riskante Manöver einließ? Hatte sein Versuch, zu behaupten, er wisse um die Hintergründe, Früchte getragen? Wem hatte der Anschlag eben gegolten? Ihm oder Claudia Susewind? Falls man die Richterin beseitigen wollte, hatte man vor dem gleichen Problem gestanden wie Lüder. Susewind war nicht auffindbar gewesen. Die Gegenseite konnte sich vorstellen, dass er sie suchte. So musste man sich nur an seine Fersen heften.
Woher wussten die anderen, wo sich Lüder aufhielt? Er hätte es bemerkt, wenn man ihn verfolgt hätte. Da es Profis waren, setzten sie technische Mittel ein, überlegte Lüder.
Die ersten Einsatzkräfte trafen ein. Die Notfallsanitäter nahmen sich der Richterin an. Es kostete Lüder Überzeugungskraft, dass die Frau sich ins Westküstenklinikum nach Heide bringen ließ. Die Besatzung des ersten Streifenwagens wollte die Umgebung sichern. Lüder hielt das nicht für erforderlich. Die Täter waren geflüchtet. Er nahm Kontakt zu Markus Schwelm auf, der sich schon auf dem Weg von Itzehoe nach Büsum befand.
»Die Fahndung ist angelaufen«, erklärte der Hauptkommissar. »Die SpuSi kommt.« Er versicherte, dass alle weiteren erforderlichen Aktionen durch die Itzehoer Direktion übernommen würden. Schwelm wollte sich auch darum kümmern, dass Claudia Susewind Personenschutz beigestellt würde.
Das Gespräch mit ihr hatte viele Fragen, die zur Person Bernd Hollsteins bestanden, geklärt.
Lüder wartete noch das Eintreffen Schwelms ab und informierte den Hauptkommissar über den Sachverlauf. Dann fuhr er nach Kiel zurück. Unterwegs rief er Vollmers in Kiel an.
»Wir sind uns ziemlich sicher, dass Tawfiq sich im syrischen Bürgerkrieg die Finger schmutzig gemacht hat. Die Information stammt vom Verfassungsschutz. Auch dem BKA liegen offenbar gleichlautende Erkenntnisse vor. Das Ganze ist aber dubios. Es gibt unterschiedliche Aussagen, ob man ihn hier vor Gericht stellen oder ob er abgeschoben werden soll. In seiner Heimat dürfte es ungemütlich für ihn werden. Wenn man ihn – theoretisch – an Assad ausliefern würde, drohen ihm Folter und mehr.«
»Wir sind ein Rechtsstaat. Man kann ihm nicht einmal mit solchen Maßnahmen drohen. Die Kerle sind gut vorbereitet und lachen nur. Sie nehmen den Schutz des Staates in Anspruch, an dessen Destabilisierung sie eifrig mitwirken.«
»Jaaaa«, sagte Vollmers gedehnt. »Auf mich macht al-Moudarres einen zwiespältigen Eindruck. Einerseits zeigt er sich selbstbewusst, fast überheblich, andererseits hat er Angst. Das steht zueinander im Widerspruch.«
»Nein«, widersprach Lüder. »Wenn es jemanden gibt, der Einfluss hat und seine schützende Hand über al-Moudarres hält, glaubt der Syrer sich auf der sicheren Seite. Seine Angst rührt vermutlich daher, dass er sich nicht absolut sicher ist unter diesem Patronat.«
»Und wenn wir ihn locken, zu plaudern, indem wir ihm versprechen, in die Rolle des Patrons zu schlüpfen?«
»Ein interessanter Gedanke«, sagte Lüder. »Aber das geht nicht.«
»Leider«, stimmte ihm Vollmers zu.
Als Lüder Kiel erreichte, wusste er, dass die Fahndung nach dem schwarzen BMW auch dieses Mal erfolglos geblieben war. Lüder hielt es für ausgeschlossen, dass die Täter an der Westküste Unterstützer hatten. Sie konnten sich aber eine Ferienwohnung mit einem Stellplatz gemietet haben. Wenn sie dort das Fahrzeug so abstellten, dass es nicht von der Straße sichtbar war, vermochten sie in Ruhe den ersten Angriff zu überstehen. Eine Werkstatt konnten sie nicht aufsuchen, ebenso wenig den Heimweg antreten.
Sie mussten sich noch in der Region aufhalten. Davon war Lüder überzeugt. Es war aber auch mit einem Großaufgebot nicht möglich, nach dem untergestellten Fahrzeug zu suchen. Es handelte sich um eine Urlaubsregion, in der sich naturgemäß viele Auswärtige aufhielten.
Er fuhr direkt zur Kriminaltechnik und bat darum, dass man sein Auto untersuchte. Es dauerte keine Viertelstunde, bis die Fachleute den GPS-Tracker gefunden hatten, den man ihm ans Fahrzeug geheftet hatte.
»Feines Gerät«, staunte der Techniker und wiegte es in der Hand. »So etwas bekommen Sie nicht im Spy-Shop. Ich vermute nicht, dass Ihnen Ihre Frau das Ding untergejubelt hat, um zu testen, ob Sie wirklich zum Kegelabend fahren.«
Die hat andere Sorgen, dachte Lüder.
»Wir benötigen dieses Gerät zur Beweissicherung. Kann man ein Duplikat anfertigen?«
»Ich verstehe nicht«, sagte der Techniker ratlos. Lüder erläuterte ihm seine Idee.
»Hm.« Der Techniker strich sich über die Mundwinkel. »Supergedanke. Ich müsste mich bei uns umhören.«
Zwei Stunden später meldete sich die Kriminaltechnik bei Lüder.
»Hat Spaß gemacht«, erklärte der Mann im weißen Kittel. »So etwas hatten wir auch noch nicht. Wir haben einen Klon gebaut und programmiert. Hier.« Er drückte Lüder ein kleines Gerät in die Hand. »Das funktioniert wie das andere. Der Überwacher kann es von ferne nicht unterscheiden. Das Original haben wir temporär stillgelegt.«
Lüder nahm den Klon an sich und fuhr in die Wik. Sein Freund Horst Schönberg, der dort eine Medienagentur betrieb, zeigte sich überrascht.
»Ich habe lange nichts von dir gehört«, beklagte sich Horst. Dann kniff er die Augen zusammen. »Wenn du unangemeldet bei mir auftauchst, soll ich dir bei einem krummen Ding helfen. Oh nee, mein Lieber. Kommt nicht in die Tüte. Ich bin morgen früh weg.«
»Urlaub?«
»Ja.« Horst strahlte. »Mit Nicole. Eine Woche Côte d’Azur.«
»Du? Mit Nic… Wer ist das?«
Horst trat näher. »Eine scharfe Braut, kann ich dir sagen.«
»Mensch, Horst. Du wirst alt. Du mit nur einer Frau?«
»Na ja.« Horst kratzte sich den Schädel. »Eigentlich wollte Martina auch mitkommen. Aber nun ist sie plötzlich verhindert. Etwas anderes. Ich habe einen neuen Single Malt aufgetan. Ein Gedicht.« Horst senkte die Stimme, als würde er Lüder ein Geheimnis anvertrauen. »Dafür lässt du auch Nicole stehen. Na ja. Kurzfristig.«
»Fliegt ihr morgen?«
»Fliegen? Wir fahren mit dem Auto.«
»Mit deinem Lkw?«
»Lkw?«, empörte sich Horst.
»Ich meine: mit deinem Kleinlaster.«
»Mein SUV ist kein Kleinlaster.«
Lüder widerstand allen Überredungsversuchen und wünschte Horst eine gute Reise. Nachdem er sich verabschiedet hatte, montierte er den Klon des GPS-Trackers an Horsts Volvo XC90. Er lächelte. Es würde für »The Brain« erheblichen Aufwand bedeuten, Horst und seiner Muse nach Südfrankreich zu folgen.
Lüders Weg war kürzer. Er musste nur zum Hedenholz in den Stadtteil Hassee. Für nichts auf der Welt würde er diesen Ort gegen einen anderen tauschen, auch nicht gegen die Côte d’Azur.