Lüder streckte den Daumen in die Höhe und schnalzte mit der Zunge. Edith Beyer dankte es ihm mit einem zufriedenen Lächeln.
»Ihr Kaffee ist super«, sagte er anerkennend. »Ich habe beides vermisst.«
»Beides?«
»Sie und Ihren Kaffee.« Er zeigte auf die Bürotür. »Ist er da?«
Edith Beyer nickte. »Ich finde, Kriminaldirektoren haben viel zu wenig Urlaub.«
Lüder nickte, klopfte pro forma gegen das Holz und trat ein.
»Hallo, Lüder.« Dr. Starke sah auf. »Du hast dir Kaffee mitgebracht«, stellte er fest, als Lüder am Schreibtisch Platz nahm.
Lüder gab einen kurzen Bericht ab.
»Es kommt nicht oft vor, dass meine Mitarbeiter in einen Schusswechsel hineingezogen werden«, sagte der Abteilungsleiter. »Wie gut, dass niemand verletzt wurde.«
Lüder fuhr fort und berichtete von seinen Vermutungen, begründete, weshalb Almawt lilmushrikin aus seiner Sicht ein Phantom war und sich dahinter »unsere Leute« verbargen.
Dr. Starke zog die Stirn kraus.
»Das ist heikel«, sagte er. »Wir würden mit einer Riesenkanone schießen.«
»Das garantiert aber, dass wir treffen.«
»Vergiss nicht, dass unsere Ziele vom Fach sind. Die wissen, wie das System funktioniert.«
»Gerade deshalb sind sie gefährlich. Und sie fühlen sich sicher.« Lüder erinnerte sich an Friedjofs Gedanken zum Fluchtfahrzeug, dem BMW. »Der Spaziergänger, der den schwarzen BMW auf dem Feld entdeckt hatte, berichtete von einem Frankfurter Kennzeichen. Leider erinnerte er sich nur an den Ort. Weitere Bestandteile des Nummernschildes hat sich der Zeuge nicht gemerkt.«
»Ja – und?«
»Die Täter sind bei der Akribie, mit der sie die Tat vorbereitet haben, mit Sicherheit mit einem falschen Nummernschild herumgefahren.«
»Aus Frankfurt, ja? Dann müssen sie es doch dort irgendwo abgeschraubt haben.«
»Haben wir geprüft, ob sich der richtige Besitzer bei der Frankfurter Polizei gemeldet hat?«
»Davon gehe ich aus. Aber was bringt es uns?«
»Wir müssen jeder Spur nachgehen.«
Es dauerte fünf Minuten, bis Dr. Starke mit bekümmertem Gesichtsausdruck eingestand, dass niemand in Frankfurt nachgefragt hatte.
Lüder zog sich in sein Büro zurück und nahm Kontakt zur Polizei in Mainhattan auf. Er war nicht überrascht, als er erfuhr, dass im fraglichen Zeitraum kein Kennzeichendiebstahl gemeldet wurde.
Die nächste Bestätigung erfuhr er durch Markus Schwelm.
»Merkwürdig«, berichtete der Itzehoer. »Das Kennzeichen des an der Schießerei beteiligten Fahrzeugs gibt es nicht. Bei der Zulassungsstelle in Heilbronn wird es nicht geführt. Sind Sie sich sicher? Oder haben Sie es eventuell nicht genau gesehen?«
Lüder versicherte, sich nicht geirrt zu haben.
»Heilbronn – da gibt es keinen Bezug zu unserem Fall«, sagte Schwelm. »Da steckt System hinter. Haben die Täter ein Kennzeichen angefertigt und Prüfplakette und Siegel gefälscht? Sie mussten doch Gefahr laufen, dass es eine Dublette ist und das Kennzeichen schon vergeben ist.«
Lüder nahm Kontakt mit dem Bürgeramt Heilbronn auf und wurde mit dem Leiter der Kfz-Zulassungsbehörde verbunden. Sein Gesprächspartner war freundlich, auch wenn sein ausgeprägter Dialekt die Verständigung schwierig machte.
»Wir können alles außer Hochdeutsch« lautete der Slogan des Ländles. Stimmt, dachte Lüder. Häfele bediente sich einer besonderen Variante des südfränkischen Dialekts.
Herr Häfele, wie er sich vorstellte, druckste herum. Er wollte nicht bestätigen, dass es das angefragte Kennzeichen nicht gab, mehr war er aber auch nicht bereit zu erzählen.
»Handelt es sich um ein gesperrtes Kennzeichen?«, fragte Lüder.
»Ich kann Ihnen leider nicht weiterhelfen«, bedauerte Häfele.
Lüder versicherte, dass es sich um eine polizeiliche Ermittlung handle. »Um Mord.«
»Versuchen Sie es über die Staatsanwaltschaft«, riet ihm Häfele.
Die Auskunft reichte Lüder. Das Geheimnis um das Kennzeichen mochte auch auf das Frankfurter zutreffen. Staatliche Stellen nutzten diese Möglichkeiten. »The Brain« hatte mit dieser bequem erscheinenden Methode einen Fehler begangen. Das passte zu dem Schützen, der aus dem BMW auf ihn und Claudia Susewind geschossen hatte.
Lüder nahm Kontakt zu Geert Meenchen auf und setzte ihn kurz ins Bild.
»Ich habe von Ihrem gestrigen Abenteuer gehört«, zeigte sich der Verfassungsschützer gut informiert. Lüder bat ihn, bei der Identifikation des Halters mit dem Heilbronner Kennzeichen behilflich zu sein. Meenchen versprach, sich der Sache anzunehmen.
Die Nachforschungen nach den Autokennzeichen waren für Lüder weitere Puzzleteile. Sie bestätigten ihm, dass er auf dem richtigen Weg war. Bei dem Büsumer Attentat hatte ein weiteres Fahrzeug eine Rolle gespielt. Die Täter hatten als Fluchtfahrzeug einen in Görlitz gestohlenen BMW X5 benutzt, den sie nahe Wesselburen abgebrannt hatten. Halter des Fahrzeugs war Harry Siggelkow. Niemand hatte die Spur weiterverfolgt, dass Siggelkow als bekennender Rechter bekannt war. Wer war Siggelkow?
Im Internet fanden sich zahlreiche Hinweise auf den Mann. Er war ein in der Oberlausitz bekannter Unternehmer, der erfolgreich im Immobiliengeschäft tätig war. Siggelkow hatte offenbar ein Gespür dafür, alte Häuser zu sanieren und gewinnbringend zu vermarkten. Wer über gute Kontakte verfügte, hatte auf diesem Markt sicher auch Vorteile, überlegte Lüder. Die konnte man sich warmhalten, indem man als großzügiger Spender auftrat und öffentlich kundtat, sich für das Wohl der Menschen einzusetzen. Oft tauchte Siggelkow mit populistischen Forderungen auf. Er behauptete, es gehe ihm um das Wohl der Menschen, die von der Politik abgehängt würden.
Man munkelte, dass er sein politisches Engagement in die Gründung einer Partei »Die Wahren Deutschen« investieren wolle. Lüder dachte dabei an die rechtsradikale finnische Partei »Die Wahren Finnen«. In den Medien, auf die Lüder stieß, wurden immer wieder Vermutungen angestellt, dass Siggelkow ein politisches Amt anstrebte. Welches – darüber konnte nur spekuliert werden.
Ausgerechnet so einer ließ sich seinen SUV stehlen, mit dem das angeblich islamistische Attentat in Büsum verübt wurde. Siggelkow hielt seine Gesinnung nicht im Verborgenen. Lüder stieß in einem eindeutigen Forum auf eine Aussage des Mannes, dass die »Ausländer« ihn für seine deutsche Haltung bestrafen wollten, indem sie gezielt sein Auto stahlen, um damit ein Attentat auf Deutsche auszuführen.
Nachdem Lüder jetzt wusste, dass keine islamistische Terrorgruppe hinter den Taten steckte, war der Versuch von »The Brain«, mit dem Hinweis auf die angeblichen Attentäter eine falsche Spur zu legen und von sich abzulenken, ein weiterer Fehler.
Der Drahtzieher saß in den eigenen Reihen, war clever. Er war zum Verbrecher geworden. Lüder lachte auf.
»Jeder Verbrecher macht Fehler«, sagte er zu sich selbst. »Man muss sie nur finden und aufdecken.«
Wer ist es? Knüppel? Hanitzsch? Rauhfuß oder Greiff?
Lüder wollte sich im Westküstenklinikum nach Claudia Susewind erkundigen, als sich Hauptkommissar Vollmers meldete.
»Al-Moudarres Anwalt ist aufgetaucht. Ganz überraschend.«
»Wer vertritt ihn?«
»Einer aus Erfurt.«
Lüder war nicht erstaunt. »Rasim Gürbüz?«
»Nein. Holger Golombek.«
Der Syrer al-Moudarres wurde von einem Anwalt vertreten, der sich deutlich auf die Seite der Rechten geschlagen hatte. Jetzt häuften sich die Fehler der Gegenseite. Lüder wertete es fast schon als Panik. Friedjof, der Fußballfan, würde es vermutlich so erklären: Liegt eine Mannschaft im entscheidenden Spiel kurz vor dem Abpfiff zurück, gibt sie jede Deckung auf, und sogar der Keeper sprintet vor das gegnerische Tor, um das Unmögliche zu bewerkstelligen.
»Ich komme zur Blume«, sagte Lüder.
In der Bezirkskriminalinspektion musste er warten. Der Erfurter Anwalt war noch im Gespräch mit seinem Mandanten. Lüder nutzte die Zeit, um zu erfahren, dass Claudia Susewind noch am gestrigen Abend das Klinikum in Heide wieder verlassen hatte. Er war überrascht, dass sie sich sofort meldete, als er sie auf dem Mobiltelefon anrief.
»Ich bin nach Hause gefahren«, sagte sie.
»Ich will Ihnen keine Angst machen, aber Sie sind gefährdet.«
»Dessen bin ich mir bewusst. Das Finale steht bevor. Ich will meinen Teil dazu beitragen.«
»Sie sollten nicht als Lockvogel auftreten«, sagte Lüder und vermied es, noch einmal die Ereignisse in Büsum in Erinnerung zu rufen.
»Das bin ich nicht. Ich bin Agierende.«
Lüder fragte nach.
»Ich werde mich bemühen, einen Haftbefehl zu erwirken. Ich bin schließlich Richterin.«
»Das wird man gegen Sie auslegen. Sie sind Betroffene.«
Claudia Susewind lachte kurz auf. »Ich habe andere Möglichkeiten.«
Lüder bat sie, vorsichtig zu sein.
Erneut lachte sie auf. »Sie wissen ja aus eigener Erfahrung, wie schnell die Thüringer Polizei zur Stelle ist.«
Es dauerte eine weitere Dreiviertelstunde, bis Anwalt Golombek das Gespräch mit seinem Mandanten beendet hatte. Der Jurist stutzte, als er Lüder sah.
»Sie?«
»Es wird Sie nicht überraschen.«
»Sie sind doch bei der Politischen Polizei?«
»Bei uns nennt man es Polizeilicher Staatsschutz.«
»Man unterstellt meinem Mandanten aber eine andere Tat, für die es keine Beweise gibt.«
»Wir haben in Kiel eine ausgezeichnete Forensik.«
»Das angebliche Opfer der Vergewaltigung hat sein Einvernehmen vor den entsprechenden Handlungen meines Mandanten bekundet.«
»So ein Schwachsinn«, sagte Lüder aufgebracht.
Hauptkommissar Vollmers schritt ein, fasste Lüder an den Schultern und führte ihn bestimmt fort. »Sie sind Beteiligter«, sagte er außer Golombeks Hörweite. »Ihre Tochter.«
Lüder nickte. Er trank die angebotene Tasse Kaffee und war dankbar, dass Vollmers mit ihm über das geplante Neubaugebiet plauderte. Beim zweiten Kaffee vibrierte sein Handy.
»Herr Meenchen«, begrüßte Lüder den Verfassungsschützer.
Meenchen war kurzatmig. »Fragen Sie mich nicht nach meiner Quelle. Die werde ich Ihnen ebenso wenig nennen, wie Sie diese Information offiziell verwerten dürfen. Sie haben recht. Das Fahrzeug mit dem Heilbronner Kennzeichen ist ein Dienstwagen mit einer geschützten Zulassung.«
»Das habe ich mir gedacht. Mich würde aber brennend interessieren, wer sich dieses Wagens bedient.«
»Auch das weiß ich«, entgegnete Meenchen und nannte Lüder einen Namen.
»Dafür haben Sie etwas gut. Etwas? Ganz viel.«
»Ich werde Sie daran erinnern«, sagte Meenchen.
Lüder hatte eine innere Unruhe gepackt. War es das Jagdfieber?
»Ich will noch einmal mit al-Moudarres sprechen.«
Vollmers sah ihn ungläubig an. »Der schweigt. Und nach dem Besuch seines Anwalts erst recht.«
»Gerade deshalb.« Lüder blieb hartnäckig. »Lassen Sie ihn hier ins Büro kommen.«
»Wenn Sie meinen.«
Wenig später wurde der Syrer hereingeführt.
»Nehmen Sie Platz«, sagte Lüder. Es sollte ungezwungen wirken.
Al-Moudarres sah ihn an. Es war ein konzentrierter, prüfender Blick.
»Sie haben mit Ihrem Anwalt gesprochen. Wer hat den beauftragt?«
Die Antwort bestand aus einem breiten Grinsen.
»Sie haben meine Tochter vergewaltigen wollen.«
Jetzt schüttelte al-Moudarres lächelnd den Kopf. »Nix«, sagte er überraschend. »Mädchen wollte Ficki-Ficki.« Dabei griff er sich demonstrativ zwischen die Schenkel und rieb sich.
Lüder registrierte Vollmers’ kritischen Blick in seine Richtung. Der Hauptkommissar wollte wissen, wie emotional Lüder reagierte. Es fiel Lüder schwer, ruhig zu bleiben. Vor seinem geistigen Auge tauchte kurz Vivekas verstörtes Gesicht auf.
»Ich weiß, dass Sie nach Kiel gebracht wurden, um meine Tochter sexuell zu missbrauchen. Das galt mir. Sie wollten mich missbrauchen.«
»Dich?«, erboste sich der Syrer. »Ich bin kein schwuler Christ.«
»Wer hat Ihnen befohlen, sich an meine Tochter heranzumachen?«
»Ficki-Ficki.« Es sollte eine Provokation sein.
»Gut. Vergessen wir das. Für diese Tat werden Sie ins Gefängnis kommen. Sie sind aber gut dran, da Sie die Strafe nur zum Teil absitzen müssen.«
»Nix Gefängnis.« Al-Moudarres zeigte Lüder den ausgestreckten Mittelfinger. »Mädchen gierig auf mich.«
Lüder winkte ab. »Hohle Sprüche. Das nimmt Ihnen kein Gericht ab. Das wissen Sie aber auch. Der Idarat al-Amn al-Amm interessiert sich für Sie. Kennen Sie Colonel Nasri?«
Al-Moudarres versuchte zu lachen. Es misslang ihm.
»Die syrische Regierung hat einen Auslieferungsantrag gestellt. Sie werden in Ihrer Heimat wegen Kriegsverbrechen gesucht und sollen dort verurteilt werden.« Lüder hatte bewusst die Formulierung »vor Gericht gestellt werden« vermieden.
»Ich?«, rief al-Moudarres erregt. »Nasri ist ein Mörder. Ich fliehe wegen Idarat al-Amn al-Amm und hier mache Asyl.«
»Das haben Sie angegeben. Aber man glaubt Ihnen nicht. Wer hat Sie betrogen? Ausgerechnet der, an dessen Ermordung Sie in Büsum mitgewirkt haben, hat mit Oberst Nasri gesprochen und nach Gründen gesucht, die Ihrer Entlastung dienen könnten. Dumm, dass er jetzt tot ist.«
»Lüge. Schwein wollte mich ausliefern.«
Lüder lehnte sich entspannt zurück. »Es gibt viele Beweise, die gegen Sie sprechen. Wir haben das Video aus der Buchhandlung, als Sie den Fluchtweg erkundet haben. Zeugen haben Sie erkannt, als Sie das Attentat beobachtet haben. Sie haben die Meldung weitergegeben, dass es erfolgreich war, damit man das Bekennerschreiben an die Zeitung schicken konnte. Sie haben sich der Mitwirkung an einem terroristischen Akt schuldig gemacht. Das sind Fakten.«
»Nix Terror«, sagte al-Moudarres hektisch.
Lüder fuhr mit der Hand durch die Luft. »All das ist bewiesen. Wir wissen, dass Sie ein Terrorist sind. Hier, in Deutschland, hat Ihnen niemand etwas getan. Sie wurden nicht mit dem Tod bedroht. Man war bereit, Ihnen zu helfen. Und als Dank ermorden Sie unschuldige Menschen und vergewaltigen meine Tochter. Was sollen wir mit solchen Menschen machen? Sie wissen, dass es Politiker gibt, die die Abschiebung von Straftätern fordern. Und ausgerechnet Sie haben sich mit Leuten eingelassen, die für diese Politik stehen. Wie dumm sind Sie eigentlich?«
»Ich nicht dumm. Man sagt, ich habe Freunde. Wichtige.«
»Hat Ihnen das Ihr Anwalt gesagt? Die Freunde haben Sie fallen lassen. Die sind froh, wenn Sie nach Syrien verschwinden. Wenn Colonel Nasri Sie in den Fingern hat, können Sie niemandem mehr gefährlich werden.«
»Ich muss nix sagen.«
»Das ist auch nicht erforderlich. Wir wissen alles.«
Al-Moudarres sprang auf und stützte sich auf der Tischplatte ab. »Nix ihr wisst. Nix«, schrie er.
»Wer hat Sie gezwungen?«, fragte Lüder. »Sie haben das nicht freiwillig gemacht.«
»Gute Leute. Freunde. Mir helfen. Mir warnen, wenn ich soll abgeschoben nach Serbien, weil ich dort registriert. Freunde sagen, Serbien schiebt ab nach Syrien. Ich tot, wenn in Finger von Assad.«
»Das hat man Ihnen gesagt?«
»Ja. Mann in Büsum sein gegen Ausländer. Wenn er tot, Problem sein erledigt.« Dabei machte er die Geste des Halsabschneidens.
»Deshalb haben Sie die Buchhandlung ausspioniert und das erfolgreiche Attentat per WhatsApp weitergemeldet?«
»Man mich zwingt.«
»Womit?«
»Abschiebung.«
Es war ein perfider Schachzug, den Syrer zum Mitwirken zu zwingen.
»Weshalb haben Sie versucht, meine Tochter zu vergewaltigen?«
Al-Moudarres verschränkte die Hände ineinander. »Ich nicht wissen, Tochter von dir. Bestimmt. Deutsche sollen glauben, Geheimmänner von Nasri machen Ficki-Ficki mit deutsche Frauen.«
Das war ein weit hergeholtes Argument. Al-Moudarres wirkte auf Lüder nicht so, als würde er sich solche Konstrukte ausdenken.
»Du versprechen, ich nicht nach Syrien oder Serbien. Beide nicht gut.«
»Ich kann nichts versprechen. Das entscheiden in Deutschland die Gerichte.«
»Gut. Du dann sagen Gericht, was soll entscheiden.«
Lüder lächelte. »So funktioniert das nicht. Die Gerichte sind unabhängig.«
»Wieso? Angela Merkel entscheiden, Flüchtlinge willkommen in Deutschland. Sie Kanzlerin und kann Gerichte befehlen, was die sollen machen. So funktioniert in Syrien.«
»Wer hat Sie nach Kiel gefahren?«
»Lutz.«
»Lutz. Und weiter?«
Al-Moudarres zuckte mit den Schultern. »Nur Lutz. Nicht weiter wissen.«
»Wen kennen Sie noch?«
»Ich schon sagen. Nur Lutz.«
»Lutz hat Sie von Erfurt nach Kiel gefahren und Ihnen gesagt, welches Mädchen Sie vergewaltigen sollen?«
Al-Moudarres nickte heftig. »Ich sagen Wahrheit. Lutz gefährlich. Ich habe Angst. Lutz ermorden Mann in Büsum.«
»Er hat sich als Frau verkleidet?«
Al-Moudarres bewegte den Kopf heftig. »Ich bezeugen bei Allah.«
»Wo ist Lutz jetzt?«
»Nicht wissen. Ich zurück zu Auto. Ein Stück zurück. Dann fahren zurück nach Erfurt.«
Lüder durchfuhr erneut ein kalter Schauder. »Lutz« war ein eiskalter Mörder. Er hatte skrupellos in Büsum das fingierte Attentat ausgeübt.
Lüder war überzeugt, dass Lutz auch der Beifahrer des BMW war, der in Büsum auf ihn und Claudia Susewind geschossen hatte. Ihm fehlte zwar der Nachname, aber Lüder wusste nun, wo er »Lutz« suchen musste.
»Er kann wieder weg«, sagte er zu Vollmers, der schweigend dem Verhör beigewohnt hatte.
»Du sagen, ich bin frei, wenn ich spreche«, beklagte sich al-Moudarres und hielt Lüder anklagend die Arme entgegen.
»In Deutschland entscheiden die Gerichte. Das habe ich gesagt.«
»Scheiße«, rief der Syrer laut.
Lüder machte sich auf den Weg nach Erfurt. Es war Freitag. Die Straßen waren voll. Wenn er Thüringens Landeshauptstadt erreichen würde, hätten Behörden und Ämter geschlossen. Er rief von unterwegs Hauptkommissar Hanitzsch an.
»Sie bleiben auf der Dienststelle, bis ich eintreffe«, sagte Lüder im Befehlston.
»Wie reden Sie mit mir?«, empörte sich Hanitzsch. »Was glauben Sie, wer Sie sind?«
»Das muss ich nicht glauben. Ich weiß es. Hanitzsch«, er ließ das »Herr« absichtlich weg, »Sie folgen meinen Anweisungen. Sollte ich Sie nicht im Büro antreffen, lasse ich Sie durch Ihre Kollegen suchen. In Thüringen und drum herum.«
Bevor sich der Thüringer beschweren konnte, hatte Lüder aufgelegt.
Für Arbeitnehmer hatte das Wochenende begonnen, als Lüder in der Kriminalpolizeiinspektion Erfurt eintraf. Die Gegend, ein Gewerbegebiet in Autobahnnähe, war verwaist. Das galt auch für das Dienstgebäude.
»Ich will zu Hanitzsch«, sagte Lüder am Empfang. »Ich bin angemeldet.«
»Wie ist Ihr Name?«
»Hanitzsch erwartet mich.«
Kurz darauf erschien der Hauptkommissar. Die Wut stand ihm ins Gesicht geschrieben. Bevor er den Mund öffnen konnte, gebot ihm Lüder mit einer Handbewegung Einhalt.
»Ihr Spiel ist aus«, setzte Lüder an. »Sie haben mich an der Nase herumgeführt, geglaubt, mich mit unterschwelligen Drohungen abspeisen zu können, und mir Informationen vorenthalten. Sie haben jede Form der Zusammenarbeit rigoros verweigert. Das lege ich zu Ihrem Nachteil aus.«
»Ich weiß nicht, wovon Sie sprechen.«
Lüder sah demonstrativ auf die Uhr. »Meine Zeit ist knapp bemessen. Was glauben Sie, welches Erdbeben es auslöst, wenn meine Amtsleitung mit Ihrer spricht? Oder das Ganze gar auf der Ebene darüber abgewickelt wird? Ich bin mir sicher, auch die Presse ist Ihnen auf den Fersen. Sie sind einen falschen Kurs gefahren, würde man im maritimen Deutsch sagen.«
Hanitzsch war blass geworden. »Was verstehen Sie davon?«, sagte er. »Bei Ihnen da oben ist heile Welt. Die Kollegen da draußen, die täglich an der Front sind, werden vom Frust aufgefressen. Tag für Tag stehen sie den Kriminellen gegenüber, darunter überproportional viele Ausländer, gemessen an ihrem Anteil an der Wohnbevölkerung. Die haben eine andere Kultur und neigen eher zu Gewalttaten. Polizist – das ist mittlerweile ein gefährlicher Beruf. Die Kollegen fassen die Täter, und eine lahme Kuscheljustiz lässt sie wieder laufen. Am nächsten Tag gehen sie uns wieder ins Netz, und das Spiel beginnt erneut. Was soll man da machen? Selbst für Abhilfe sorgen?«
»Deshalb stecken einige von Ihnen mit den Rechtsradikalen unter einer Decke? Unterstützen die sogenannten Bürgerwehren?«
Hanitzsch nickte schwach. »Das ist leider so. Damit ist aber nicht die ganze Polizei verseucht. Wo wir auf diese Dinge stoßen, werden sie disziplinarisch verfolgt.«
»Es passte Ihnen nicht, dass ich darauf gestoßen bin.«
»Natürlich nicht«, erwiderte Hanitzsch erregt. »Es gab in Thüringen in der Vergangenheit bei der Polizei Skandale und Probleme. Man will nicht erneut in der Brühe herumrühren. Da kommt es ungelegen, wenn jemand von außerhalb Salz in diese Wunde streut. Leider gibt es einen kleinen harten Kern, der das Gesetz des Handelns in die eigene Hand nehmen möchte und gegen das islamische Geschwür, wie sie es nennen, und die ausufernde Ausländerkriminalität antritt. Im Einklang mit einschlägig agierenden Politikern werden Säuberungsaktionen durchgeführt, die sich nicht nur auf den kriminellen Bodensatz unter den Migranten beschränken. Bernd Hollstein und Claudia Susewind haben unbeirrt dem vermeintlichen Recht geholfen, indem sie gewalttätige Polizisten bestraft und aus dem Dienst entfernt haben. Sie waren dabei so konsequent, dass die verdeckte rechte Szene in den Behörden verunsichert wurde und aufzuweichen drohte, einhergehend mit der Befürchtung, dass Aussteiger ihre eigene Haut retten und andere denunzieren wollten.«
»Deshalb musste Bernd Hollstein sterben?«
»Ich vermute es. Wir sind am Ball. Es gibt eine Reihe von laufenden Ermittlungen. Auch in diesem Zusammenhang wirkten Sie wie ein Fremdkörper, ein Störfaktor. Die von uns unter Beobachtung gestellten Kollegen haben das auch mitbekommen und sind vorsichtig geworden. Das hat unsere eigene Arbeit gefährdet.«
»Weshalb haben Sie mir das nicht offen erzählt?«
»Ich konnte Sie nicht einschätzen. Es kursierte auch das Gerücht, Sie wären beauftragt, gezielt gegen uns zu ermitteln. Wir konnten uns nicht vorstellen, dass man einen Einzelnen ins Feuer schickt.«
»Das ist aber so«, sagte Lüder grinsend.
»Komische Leute, diese Fischköppe.«
Lüder zeigte auf Hanitzsch. »Holen Sie Ihre Waffe, ziehen Sie sich etwas an und kommen Sie mit.«
Das »Ja, aber« unterband Lüder.
Das Gespräch hatte am Empfang stattgefunden. Während Hanitzsch kurz in sein Büro zurückkehrte, rief Lüder Claudia Susewind an.
»Können Sie uns einen Haftbefehl besorgen?«, fragte er.
»Aus verständlichen Gründen kann ich den nicht selbst unterzeichnen. Aber das bekomme ich hin«, sagte die Richterin.
Lüder parkte seinen BMW bei der Polizeiinspektion. Sie fuhren mit Hanitzschs Auto. Der Einheimische kannte sich besser in Erfurt aus.
Erich Knüppel wohnte in der Sulzer Siedlung, einem gutbürgerlichen Einfamilienhausgebiet.
»Umgangssprachlich nennen wir die Sulzer Siedlung auch Susi«, erklärte Hanitzsch unterwegs.
Eine schlanke Frau in Leggings öffnete die Tür des Einfamilienhauses, sah zunächst Lüder fragend an, dann erkannte sie Hanitzsch.
»Hallo«, sagte sie zu dem Erfurter Hauptkommissar. Lüder schien sie zu ignorieren.
»Ist Ihr Mann zu Hause?«
»Jaaa«, sagte sie gedehnt und sah auf ihre Armbanduhr. »Wissen Sie, wie spät es ist?«
»Es gibt Berufe, in denen man nicht nach der Stechuhr arbeitet«, merkte Lüder an.
Ihn traf ein giftiger Blick. Dann wandte die Frau sich wieder Hanitzsch zu. »Ist das wirklich so wichtig? Erich arbeitet hart. Oft bringt er sich Akten mit heim.«
»Holen Sie bitte Ihren Mann an die Tür«, mischte sich Lüder ein. »Wir wären auch lieber bei unseren Familien.«
Die Frau nahm ihn näher in Augenschein.
»Wer sind Sie überhaupt?«
»Der Flaschengeist aus dem Norden, der sich nicht mehr in die Pulle zurückstecken lässt.«
»Muss ich das verstehen?« Die Frage war an Hanitzsch gerichtet.
»Bitte, Frau Knüppel. Sagen Sie Ihrem Mann, dass wir ihn sprechen möchten«, sagte der Erfurter.
»Ungern«, erwiderte die Frau und knallte demonstrativ die Haustür zu.
Es dauerte eine Ewigkeit, die sie vor der verschlossenen Tür standen.
»Wir hätten uns nicht abwimmeln lassen sollen«, meinte Hanitzsch.
Lüder war über die plötzliche Kooperationsbereitschaft erstaunt. Plagte den Mann das schlechte Gewissen? Kaum. Hanitzsch hatte erkannt, dass das Versteckspiel ein Ende gefunden hatte. Er wollte sich rechtzeitig auf die Seite der Sieger schlagen. Sympathien gewann er damit nicht bei Lüder. Opportunisten mochte er nicht.
Schließlich wurde die Haustür wieder geöffnet. Oberstaatsanwalt Knüppel war im Freizeitlook kaum wiederzuerkennen. Er wirkte nicht überrascht. Seine Frau hatte ihn ins Bild gesetzt.
»Gerd«, sagte er und versuchte, in Hanitzschs Mimik zu lesen.
Um die Mundwinkel des Hauptkommissars zuckte es kurz. »Herr Knüppel«, erwiderte Hanitzsch förmlich. »Dr. Lüders hat mich gebeten, mit Nachdruck«, schob er mit einem Seitenblick auf Lüder hinterher, »ihn zu begleiten.«
»Ich wähnte Sie in Kiel«, sagte Knüppel geschraubt.
»Ich beliebte, hier zu weilen, und dräue, dem Unbill den Garaus zu bereiten. Es ereile den Schurken, der mit Macht sich wendete gegen Gottes und der Menschen Gesetz.«
Die beiden Einheimischen sahen Lüder entgeistert an.
Lüder bewegte den Daumen über die Schulter in eine unbestimmte Richtung. »So mögen im nahen Weimar die Herren Goethe und Schiller gesprochen haben. Ich formuliere es anders. Mit Jean-Paul Sartres: ›Das Spiel ist aus‹: ›Wer lebt, ist dazu da, die Toten zu unterhalten. Und je länger einer tot ist, desto besser amüsiert er sich.‹«
»Ich verstehe Sie nicht.« Knüppel war die Ratlosigkeit ins Gesicht geschrieben. »Es ist eine Ungeheuerlichkeit, mich in meinem familiären Umfeld zu behelligen. Sie maßen sich etwas an, was unerträglich ist. Es wird weitreichende Konsequenzen für Sie haben.«
Lüder zeigte auf seine Schuhspitzen. »Wir haben Ihr Haus nicht betreten. Mögen Sie uns aufs Kommissariat begleiten?«
Knüppel blieb die Luft weg. »Sie wagen es …«
»Ja«, unterbrach ihn Lüder barsch. »Und es hat keine Zeit bis Montag. Sie kennen das Prozedere.«
»Gerd«, fuhr Knüppel den Hauptkommissar an. »Auf welch perfides Spiel lässt du dich da ein?«
»Tut mir leid, Herr Knüppel«, erwiderte Hanitzsch einsilbig. Der Hauptkommissar fühlte sich sichtlich unbehaglich.
»Wir sind keine Unmenschen«, sagte Lüder. »Es gibt drei Varianten. Erstens: Wir fahren aufs Kommissariat. Zweitens: Wir tagen hier vor Ihrer Haustür. Und drittens: Sie bitten uns zu sich hinein.«
Es dauerte, bis Knüppel sich zu einem Entschluss durchgerungen hatte. Sein Überlegensprozess wurde durch das Nagen an der Unterlippe begleitet. Schließlich trat er einen Schritt zur Seite und bedeutete Lüder und Hanitzsch damit, ihm ins Haus zu folgen.
»Erich!« Es war eine Mischung aus Entrüstung und Zurechtweisung.
Knüppel reagierte nicht auf den Zuruf seiner Frau, sondern dirigierte die beiden Besucher in ein kleines Arbeitszimmer, kaum größer als eine Kammer. Ein kleiner Schreibtisch war gegen die Wand gestellt. Ein schlichter Drehstuhl bot eine Sitzmöglichkeit. Auf dem Schreibtisch und dem Fußboden verteilt lagen Gerichtsakten. Der Oberstaatsanwalt verschwand, kehrte mit zwei Klappstühlen aus Kunststoff zurück und drückte jedem eine Sitzgelegenheit in die Hand.
Lüder sparte sich eine lange Einführung. Er berichtete von seinem Gespräch mit Claudia Susewind und dem Überfall auf sich und die Richterin.
»Sie beide haben massiven Druck ausgeübt, dass ich meine Ermittlungen in Thüringen einstelle. Dass man auch die Tochter meiner Lebensgefährtin benutzen wollte, um diesen Druck zu erhöhen, ist widerwärtig. Es waren nicht die Phantomterroristen von Almawt lilmushrikin, eine Erfindung rechtsradikaler Thüringer, die das Mädchen vergewaltigen wollten. Der mutmaßliche Kriegsverbrecher Tawfiq al-Moudarres wurde ebenso erpresst, diese Tat zu begehen, wie er zur Teilnahme am fingierten Attentat in Büsum gezwungen wurde. Nun behaupten Sie nicht, al-Moudarres nicht zu kennen.« Lüder sah den beiden Männern fest in die Augen. Beide wichen seinem Blick aus. »Es war ein langer Weg bis hier und heute. Aber Sie beide sollten wissen: Verbrechen lohnen sich nicht.«
Es entstand ein langes Schweigen. Knüppel öffnete die Schublade seines Schreibtisches und holte eine Flasche Weinbrand hervor. Das – benutzte – Glas verwahrte er an derselben Stelle auf. Er schüttete sich zwei Handbreit ein und trank es im Sturz aus. Lüder schüttelte sich im Stillen. Sein Freund Horst, der Feinschmecker, hätte diese Marke nicht einmal zum Desinfizieren benutzt.
Der Oberstaatsanwalt räusperte sich. Dann begann er, mit belegter Stimme zu sprechen.
»Ich habe vom Verhältnis des Kollegen Hollstein zur Richterin gewusst«, sagte er. Lüder war nicht entgangen, dass Knüppel plötzlich vom »Kollegen« sprach. »Natürlich hat jeder ein Recht auf ein Privatleben. Wäre das öffentlich geworden, hätten es Anwälte wie Golombek sofort ausgenutzt und Befangenheitsanträge gestellt. Vermutlich mit Erfolg. Im Interesse eines unabhängigen Rechtsbetriebs habe ich die Situation mit dem Kollegen Hollstein erörtert. Der erwies sich in diesem Punkt als unbelehrbarer Dithmarscher Dickschädel, so sagt man doch?« Er sah Lüder fragend an. »Alles Zureden fruchtete nichts. Er wollte sich nicht belehren lassen. So habe ich ihm eine Brücke gebaut und einen neuen Aufgabenbereich zugewiesen. Es war eine Maßnahme der Fürsorge gegenüber einem verdienten Mitarbeiter.«
»Das klingt zu salbungsvoll«, widersprach Lüder. »Wollen Sie immer noch versuchen, mich mit Häppchen abzuspeisen? Sie kennen es zur Genüge aus dem Gerichtssaal. Der Angeklagte gesteht nur das, was ihm gerade bewiesen wurde.«
Knüppel sackte in sich zusammen. Der innere Widerstand erstarb. »Das war nicht der einzige Grund. Wenn ein Staatsanwalt energisch ermittelt und auch hartnäckig leugnende Täter überführen will, ist das okay. Hollstein war verbohrt. Ein Rechtsfanatiker.«
»Hat er sich jemals illegitimer Mittel oder Methoden bedient?«, fuhr Lüder dazwischen.
»Nein, aber es ist auch eine Frage des Augenmaßes. Hollstein war fanatisch auf der Suche nach selbst den kleinsten Regelverstößen der ermittelnden Beamten. Er ging davon aus, dass sich jeder Polizist überkorrekt preußisch verhalten müsse. Das ist nicht immer nachzuvollziehen. Wenn der Uniformierte da draußen auf der Straße angepöbelt oder gar angegriffen wird, muss man auch den Menschen in der Uniform sehen. Das wollte Hollstein nicht gelten lassen.«
Lüder schüttelte heftig den Kopf. »Auch wenn das zutreffen sollte … Dafür wird nicht ein logistisch durchdachtes Projekt aufgesetzt. Hollstein war einer viel größeren Sache auf der Spur, obwohl man ihm die Zuständigkeit dafür entzogen hatte.«
»Das ist nicht wahr«, protestierte Knüppel. »Sie unterstellen mir Rechtsbeugung.«
»Das wird sich vor Gericht zeigen«, erwiderte Lüder ungerührt.
»Ich habe davon nichts gewusst«, behauptete der Staatsanwalt.
Hanitzsch rutschte auf seinem Klappstuhl hin und her. »Erich«, sagte er leise. »Wir haben über die Vermutung gesprochen. Gewusst haben wir beide nichts. Wir haben aber den Verdacht gehabt, dass es rechtsradikale Umtriebe in unseren Reihen gibt.«
»Das waren doch nur Mutmaßungen, für die es keine Beweise gab«, widersprach Knüppel. »Ich habe mit Hollstein gesprochen. Er wollte nichts dazu sagen. Noch nicht. Und dann … Das Attentat in Büsum. Hollsteins Tod.«
»Gezielte Ermordung, um ihn zum Schweigen zu bringen«, sagte Lüder.
»Der Gedanke ist mir erst vor Kurzem durch Ihre Intervention gekommen. Rätselhaft war es. Ja. Schon. Aber Hollstein war nicht einseitig unterwegs. Er verfolgte nicht nur die Rechtsradikalen, sondern auch die islamistische Terrorszene. So haben wir zwar einen gezielten Mordanschlag vermutet, sind aber in unseren Überlegungen den Ansätzen Ihrer Behörde und der Presse gefolgt, dass es sich um einen Anschlag aus diesem Umfeld handelte. Nicht wahr, Gerd?«
Hanitzsch nickte unmerklich.
»So weit wie Sie, Herr Dr. Lüders, sind wir alle nicht vorgedrungen. Die Sache in Büsum … Das war starker Tobak und hat uns alle mächtig mitgenommen.«
»Und trotzdem haben Sie alles unternommen, um mich auszuschalten?«
Knüppel breitete hilflos die Hände aus. »Das war vielleicht falsch, aber ich habe Ihnen schon die Gründe genannt. Es gibt ein großes Interesse in Thüringen, nicht noch einen Skandal an die Öffentlichkeit gelangen zu lassen. Das ganze Drumherum um den NSU reicht. Der Druck kommt von oben. Ganz oben«, versicherte Knüppel und zeigte mit dem ausgestreckten Finger zur Zimmerdecke.
»Der Druck muss so gewaltig gewesen sein, dass man Verbrechen beging und Lutz losschickte, die Richterin und mich zu erschießen. Wie groß ist die Verzweiflung? Nun behaupten Sie nicht, Lutz nicht zu kennen.«
Die beiden Männer wechselten einen langen Blick. Hanitzsch hüstelte und hielt sich die Hand vor den Mund, als würde er damit verhindern wollen, zu reden.
»Lutz Schwemmhoff«, sagte er leise.
»Der steht auf wessen Gehaltsliste?« Lüder war überrascht, dass Hanitzsch so schnell auf den Namen gekommen war. Seine Taktik, ein breites Wissen um die Hintergründe vorzutäuschen, zahlte sich erneut aus.
»Schwemmhoff ist ein Informant des Verfassungsschutzes«, sagte Hanitzsch. »Er berichtet aus der rechten Szene.«
»Informant? Oder ein freier Mitarbeiter?«, wollte Lüder wissen. Er bekam keine Antwort. »Gut. Ziehen Sie sich etwas an, Knüppel.« Lüder war bewusst unfreundlich und unterdrückte das »Herr«.
»Bitte?«, fragte der Oberstaatsanwalt irritiert.
»Wir vervollständigen jetzt das Trio«, erwiderte Lüder, »und fahren zu Greiff.«
»Was soll ich da?«, wollte Knüppel wissen.
»Was wollen wir da?«, korrigierte ihn Lüder. »Die Antwort ist einfach. Wir wollen den Fall zum Abschluss bringen. Am Montag können sich andere damit beschäftigen. Ihre Vorgesetzten, eine vermutlich auswärtige Staatsanwaltschaft, das Gericht und die Presse.«
»Die Presse?«, kam es im Chor aus den Mündern der beiden Männer.
»Das ist die vierte Gewalt im Staat. Sie glauben doch nicht im Ernst, dass die sich so etwas entgehen lässt.«
Es folgte die nächste Choreinlage – ein beidseitiges Aufstöhnen.
»Los«, mahnte Lüder den Oberstaatsanwalt. »Ziehen Sie sich etwas über.«
Als die kleine Prozession durch die Diele schritt, wurde sie von Frau Knüppel erwartet.
»Erich? Was hat das zu bedeuten?«
Lüder grinste. »Soll ich es Ihrer Frau erklären?«
Knüppel war komplett verunsichert.
»Ich erkläre es dir später, Schatz.«
»Erich?«
Die drei Männer ließen die verstört wirkende Frau ratlos zurück. Unterwegs herrschte Schweigen im Auto. Lüder hatte sich in den Fond gesetzt und beobachtete die beiden vor sich. Die vermieden es, einander anzusehen. Gesprochen wurde unterwegs nicht.
Hanitzsch fuhr ohne Rückfrage zu Greiffs Wohnung.
Greiff bewohnte eine Etage in der Damaschkestraße in der Löbervorstadt, einem Viertel auf der anderen Seite des Bahnhofs. Das Haus aus der Gründerzeit hatte eine liebevoll gestaltete Fassade, die durch Erker zusätzlich aufgelockert wurde.
Eine rau klingende Frauenstimme fragte über die Wechselsprechanlage, wer der Besucher sei.
»Hanitzsch, Polizei Erfurt«, übernahm der Hauptkommissar das Reden.
»Polizei?«
»Ja. Es ist dienstlich.«
Der Lautsprecher blieb an. Sie hörten es im Hintergrund tuscheln. Dann meldete sich die Frau wieder.
»Kommen Sie rauf.« Der Türsummer ertönte.
An der Haustür stand eine Frau mit unnatürlich blonden Haaren. Sie trug ein knappes Top, das den Blick auf ihre üppige Oberweite freigab. Sie hatte eine Hand an den Türrahmen, die andere an das Türblatt gelegt. Zwischen den Fingern glomm eine Zigarette.
»Wo ist Herr Greiff?«, fragte Lüder.
Sie bewegte den Kopf in Richtung der Wohnung. Zu ihrer Überraschung schob Lüder sie sanft zur Seite, nachdem er ihre Hand von den Haltepositionen gelöst hatte.
»He, he«, protestierte sie. »Was soll das?«
Lüder ging nicht darauf ein. Eine Tür mit Glaseinsatz im oberen Bereich war angelehnt. Durch den Türspalt drang Popmusik. Lüder stieß die Tür auf.
Der Verfassungsschützer hatte sich auf ein knallrotes Stoffsofa geflegelt. Vor ihm stand ein Glas mit einer bernsteinfarbenen Flüssigkeit. Daneben ein zweites. Der Aschenbecher war gefüllt. In der Luft stank es nach kaltem Rauch.
Greiff fuhr erschrocken in die Höhe, als er Lüder sah.
»Sie?«, sagte er.
»Ja, mit Anhang«, erwiderte Lüder.
Greiff wollte aufstehen, aber Lüder befahl ihm, sich nicht zu rühren und auf seinem Platz zu verharren. »Ich möchte sichergehen, dass Sie nicht auch im Besitz einer Dienstwaffe sind wie Ihr Butler Dotz.«
»Butler? Dotz?« Greiff hatte die Überraschung immer noch nicht überwunden.
Lüder sah sich betont um im Raum. Seinem Geschmack entsprach die Einrichtung nicht. »Kennen Sie Heinz Rühmann? Der kam in einem seiner Filme in einen Raum und stellte fest: ›Hübsch hässlich habt ihr es hier.‹ Das hätte er sicher auch hier angebracht. Immerhin wird es im Knast noch karger werden.«
Greiff sah an Lüder vorbei. »Hanitzsch. Was hat das zu bedeuten? Was soll der Auftritt des Irren hier? Wer hat ihn überhaupt hierhergeführt?«
»Die Fehler, Greiff, die Sie gemacht haben«, antwortete Lüder. »›The Brain‹«, sagte Lüder und grinste, weil niemand der Anwesenden etwas mit seinem internen Codenamen anfangen konnte. Lüder setzte sich auf den niedrigen Glastisch mit dem Chromgestell.
»Weshalb?«, fragte er.
»Was – ›weshalb‹?« Greiff tat, als sei er begriffsstutzig.
»Weshalb ist jemand wie Sie ein Nazi?«
»Ich? Ein Nazi?«
»Ja. Ich weiß vieles, aber nicht, weshalb sich ein Mann in Ihrer Position für die extreme Rechte begeistert. Dabei hat man Ihnen das Vertrauen ausgesprochen und Ihnen die Aufgabe übertragen, unsere freiheitlich-demokratische Grundordnung vor solchem Übel zu schützen. Wie kommen Sie dazu, dieser verqueren Ideologie zu huldigen?«
Greiff fiel in ein gekünstelt wirkendes Lachen. »Das ist ein Scherz.« Er sah an Lüder vorbei den Hauptkommissar an. »Hanitzsch. Was soll diese Farce?«
Der Polizist zuckte hilflos mit den Schultern.
»Hanitzsch würde auch gern wissen, weshalb Sie Bernd Hollstein mit diesem inszenierten angeblichen Attentat ermorden ließen. Klar. Das waren die berühmten zwei Fliegen mit einer Klappe. Es herrschte große Aufregung, weil ein pensionierter Staatsanwalt ermordet wurde. Und das von Islamisten. Da würde jeder nach schärferen Maßnahmen gegen diese Terroristen rufen. Das kam Ihnen entgegen. Noch mehr Zuspruch aus Politik und Bevölkerung. Noch mehr Möglichkeiten, um gegen das Geschwür der Überfremdung vorzugehen. Und Sie hatten einen Ihrer ärgsten Widersacher aus dem Weg geräumt, jemanden, der Ihnen auf den Fersen war.«
Greiff wollte aufstehen. Lüder streckte den Zeigefinger aus und sagte scharf: »Sitzen bleiben.«
Greiff schlug sich mit der flachen Hand klatschend gegen die Stirn.
»Mensch, Hanitzsch. Der Kerl ist komplett irre. Sie wissen doch, wie gut wir Hand in Hand terroristische Umtriebe verfolgt haben.«
»Aber nicht die aus der rechten Ecke.«
»Was verstehen Sie davon?«
»Viel«, erwiderte Lüder ungerührt.
»Sind Sie ideologisch verbohrt?«, schnauzte Greiff Lüder an.
»Weil ich nicht dem rechten Terror folge?«
»Rechter Terror? Sind alle Bürger, die etwas gegen die drohende Überfremdung haben, Terroristen? Nazis?«
»Ich habe Verständnis für die Meinungsvielfalt. Manche sehen in den Schutzsuchenden Menschen, die vor Krieg und Elend geflüchtet sind, denen man hier Unterschlupf gewähren muss. Andere sind in Sorge wegen der großen Zahl der Zuwanderer, die ihre fremde Kultur mitbringen und nicht immer unsere sittlichen und moralischen Werte teilen. Die Wahrheit liegt dazwischen. Niemand kann für sich in Anspruch nehmen, allein das richtige Urteil fällen zu können.«
»Das ist doch Wischiwaschi«, behauptete Greiff. »Sehen Sie sich doch an, welche Kriminalität in unsere Heimat importiert wird. Die Straftaten, die niedriger liegende Hemmschwelle, die Gewalt gegen Deutsche, unsere Frauen, die …« Greiff ruderte wild erregt mit den Armen in der Luft herum.
»Solche Gedanken sind der Nährboden für die Demagogie, die Leute wie Siggelkow oder Golombek verbreiten.« Lüder zeigte auf Greiff. »Die beiden sind für das Politische zuständig. Sie sind der – wie soll ich es nennen? – strategische Militärchef und befehligen eine kleine Untergrundarmee. War es Ihre Idee, eine islamistische Gruppierung namens Almawt lilmushrikin zu erfinden? Sie fühlten sich dabei offenbar so schlau, dass Sie den Fehler machten und das Mordkommando mit dem angeblich gestohlenen SUV Ihres Politgenossen Siggelkow aus Görlitz auf die Reise nach Büsum schickten. Der Wagen musste abgefackelt werden. Für Siggelkow war das kein Problem. Für seinen Schaden würde die Versicherung einstehen. Sie haben die Strippen gezogen und den Plan für die Flucht aus Büsum entworfen. Das Auto musste gewechselt werden. Klar, wenn man in Thüringen wohnt, weiß man, da oben hinterm Deich sind nur Deppen beheimatet. Die merken es nicht, wenn auf der Flucht das Auto getauscht wird. Und wenn sich jemand zufällig das Kennzeichen gemerkt hat, muss er sich geirrt haben. Denn es gibt diese Kfz-Nummer nicht. Das Auto führt eine Zulassung, die gesperrt ist. Niemand erfährt, dass es sich um ein Geheimkennzeichen des Verfassungsschutzes handelt. Das gleiche Spielchen haben Sie auch beim Mordversuch an der Richterin Susewind und mir betrieben. Dumm, dass den Nordlichtern aufgefallen ist, dass Sie dabei dasselbe Auto, den dunklen BMW, benutzt haben.«
»Woher wollen Sie wissen, dass es sich – angeblich – um ein Geheimkennzeichen handelt? Wenn es so geheim ist, dürften Sie es nicht erfahren haben.«
Lüder lächelte und ließ es arrogant aussehen. »Wir haben auch unsere Methoden. Unsere Vorfahren sind mit ihren Schiffen um die Welt gesegelt und haben ohne Computer und GPS navigiert. Da fällt es uns nicht schwer, hinter solch kleine Geheimnisse zu kommen. Dennoch wurde es Ihnen unheimlich. Sie haben mitbekommen, dass ich Ihnen auf die Pelle rückte. Also haben Sie Hanitzsch angestiftet und ihm suggeriert, ich sei gefährlich und wäre darauf angesetzt, die Thüringer Behörden zu verunglimpfen. Sie haben es wirklich geschafft, kurzfristig eine Allianz gegen mich zu schmieden. Als das nicht mehr fruchtete und ich mich unbeeindruckt zeigte, fuhren Sie schärfere Geschütze auf. Da war die Drohung in den sozialen Medien, dann der Shitstorm. Als ich bei Ihnen auf der Dienststelle zu Besuch war, haben Sie eilig die Tür zum Nebenzimmer geschlossen. Dort saß Ihr willfähriger Mitarbeiter Dotz. Während unseres Gesprächs hat Dotz das Bild, das er während einer Observation von mir in Erfurt gemacht hatte, mit dem schwarzen Kreuz über meinem Kopf versehen und es ins Netz gestellt. Das erklärt, weshalb es so kurz nach meinem Besuch bei Ihnen erschien. Meine Handynummer ist zudem nicht am Schwarzen Brett im Supermarkt angeschlagen. Für Sie als Verfassungsschützer war es kein Problem, sie herauszufinden. Auch hinter dem folgenden Shitstorm steckten Sie und Ihre Leute. Sie haben die Profis, die so etwas arrangieren können. Haben Sie sich sehr amüsiert, als Sie als angeblichen Absender das katholische Pfarramt Karlstein im Kreis Aschaffenburg gewählt haben? Die Kirchengemeinde hat davon nichts bemerkt.«
Greiff lachte meckernd. »Wie, sagten Sie, heißen Sie? Grimm? Einer der Gebrüder? Anders kann ich mir die Märchenstunde nicht erklären.«
»Uns liegt ein Geständnis von al-Moudarres vor. Man hat ihn erpresst, sich an den Verbrechen zu beteiligen. Sonst, so sagt er, hätte er zurückgemusst in seine Heimat. Dort hätten ihm Folter und der Tod gedroht. Al-Moudarres ist bereit, gegen Sie auszusagen.«
»Sie glauben doch keinem Kriegsverbrecher?«, sagte Greiff laut.
»Ich schon. Ein unbedarfter junger Mann … Wie kommt er nach Kiel? Woher kennt er die Tochter meiner Partnerin? Da musste ihm jemand geholfen haben. Lutz Schwemmhoff. Den hatten Sie gedungen. Sie sehen, Ihr Kartenhaus fällt zusammen.«
»Ich … Das ist …«, stammelte Greiff hilflos.
»Dotz und Schwemmhoff sollten Claudia Susewind ausschalten. Es traf sich dem Anschein nach gut, dass ich bei dieser Gelegenheit auch ermordet werden würde. Schwemmhoff war der Schütze. Zeugen: die Richterin und meine Wenigkeit. Lassen wir uns überraschen, was Schwemmhoff dazu sagen wird. Und Dotz, der in Ihrem Auftrag handelte. Was haben Sie dem versprochen? Haben Sie ihm Zusagen erteilt? Oder ihn auch erpresst, wie Sie es bei dem Syrer gemacht haben? Die beiden waren auch beauftragt, mich in Erfurt zu bespitzeln. Sie haben es ungeschickt angestellt. Ich habe es bemerkt und Dotz beim Angriff auf mich überwältigt. Mensch, Greiff. Was haben Sie sich bei alldem gedacht? Und dann sind Sie so stümperhaft vorgegangen, haben all die Fehler gemacht, die ich eben aufgezählt habe. Wie konnte eine Niete wie Sie so weit aufsteigen?«
Der Treffer saß. »Ich eine Niete? Ich habe mir für meine deutsche Heimat den Arsch aufgerissen. Verfassungsschutz!«, schrie Greiff. »Jawohl! Ich habe die Verfassung geschützt. Krebsgeschwüre können Sie nicht homöopathisch behandeln. Besprechen. Klangschalen. Vitamine. Was weiß ich. Sie müssen dem Krebs mit dem Messer zu Leibe rücken.«
»Und dieses Messer haben Sie angesetzt?«
»Nicht so, wie Sie es hier behaupten.«
Lüder lachte hämisch. »Genau so war es.«
»Gerd. Bereite diesem Spuk ein Ende«, forderte Greiff Hanitzsch auf.
»Endlich sind wir einer Meinung«, stimmte Lüder zu. »Der Hauptkommissar wird eine Streife anfordern.«
»Sie wollen mich verhaften? Sie? Mich?«
Lüder schüttelte den Kopf. »Nicht ich. Knüppel macht das.«
Greiff sah den Oberstaatsanwalt an.
Knüppel machte einen bekümmerten Eindruck. Er straffte sich und trat einen Schritt vor.
»Herr Greiff. Ich nehme Sie hiermit gemäß Paragraf 127 Abs. 2 der Strafprozessordnung fest. Die Voraussetzungen eines Haftbefehls sehe ich als erfüllt an. Außerdem besteht Gefahr im Verzug. Sie werden unverzüglich einem Haftrichter vorgeführt werden.« Er schnippte mit dem Finger Richtung Hanitzsch. »Fordere eine Streife an«, sagte der Staatsanwalt im Befehlston.
Greiff war blass geworden. Er fasste sich kurz ans Herz. Schweißperlen traten auf seine Stirn.
»Sorgen Sie auch dafür, dass Schwemmhoff und Dotz verhaftet werden«, ergänzte Lüder. »Wir wollen noch heute mit den beiden sprechen.« Er rieb sich feixend die Hände. »Verdi hat den Gefangenenchor komponiert. Wir werden heute noch den chorus sacramenti hören.«
Alle sahen ihn fragend an.
»Das ist frei übersetzt: der Chor des Verfassungsschutzes. Was meinen Sie«, dabei sah er Greiff an, »wie Dotz und Schwemmhoff singen werden.«
Der Verfassungsschützer zog es vor, zu schweigen. Lüder konnte seiner Körperhaltung entnehmen, dass er aufgegeben hatte.
Sie warteten schweigend auf die Streife. Hanitzsch erteilte den Uniformierten Anweisungen. Dann fuhren sie zur Kriminalpolizeiinspektion Erfurt.
Es dauerte eineinhalb Stunden, bis Marvin Dotz gebracht wurde. Man hatte ihn zu Hause abgeholt. Er machte einen nahezu verstörten Eindruck und gab sich unwissend, als er Lüder, Knüppel und Hanitzsch gegenübersaß.
»Sie sollten mit meinem Vorgesetzten sprechen«, sagte er im Glauben, man wolle von ihm Informationen haben, zu deren Herausgabe er nicht berechtigt war.
»Mit Greiff haben wir schon gesprochen. Der wartet in einer Arrestzelle. Die zweite ist für Sie reserviert. Haben Sie eine Zahnbürste dabei?«, begann Lüder.
Dotz wurde blass. Mit flatternden Augenlidern sah er die drei anderen der Reihe nach an.
Lüder erklärte, dass man dem Treiben der Verfassungsschützer auf die Schliche gekommen war und dass man Dotz der Teilnahme an einem Mord, mehrfachen Mordversuchs und weiterer Straftaten bezichtigte. Lüder winkte fast huldvoll Hanitzsch zu. Der Hauptkommissar verstand die Geste und blätterte vor Dotz die bekannten Fakten auf. Lüder nutzte die Zeit, um den Mitarbeiter des Verfassungsschutzes zu beobachten. Dotz schlug die Augen nieder. Immer wieder, wenn Hanitzsch den nächsten Punkt aufzählte, suchte er Lüders Blick. Er wich ihm aber sofort aus. Dem Mann war das schlechte Gewissen anzumerken.
»Was haben Sie dazu zu sagen?«, fragte Hanitzsch mit schneidender Stimme.
Dotz bat um ein Glas Wasser. Nachdem er einen kleinen Schluck getrunken hatte, brach sein Widerstand völlig zusammen.
»Ich bin da hineingeschlittert«, erklärte er. »Mir war klar, dass man im Außendienst auf einem schmalen Grat wandert, manchmal auch grenzfällig unterwegs ist. Greiff hat mir versichert, dass alles abgesegnet sei. Ich hätte die volle Rückendeckung seinerseits und der Amtsspitze.«
»Für Mord?«, hakte Lüder erstaunt nach.
Dotz schüttelte heftig den Kopf. »Da ging es noch um andere Dinge. Die Eskalation der jüngsten Zeit … Das war nicht geplant. Davon war auch nicht die Rede. Das ist so … so …«, suchte er nach einer Erklärung. »So, als würde man bei grauem Himmel das Haus verlassen mit der Erfahrung, dass ein paar Regentropfen nichts ausmachen, und ist dann überrascht, wenn ein verheerender Wolkenbruch über einen hereinbricht.«
Er gestand seine Beteiligung an dem fingierten Attentat und behauptete, sein Vorgesetzter habe ihn gezwungen, mitzumachen. Als er gemerkt habe, was dort ablief, sei es schon zu spät gewesen. Ja! Er habe in Büsum den SUV gefahren und im Hinterhof auf den als Frau verkleideten Attentäter gewartet. Man hatte ihm erzählt, den Menschen solle ein Schrecken verpasst werden. Dass ohne sein Zutun und seine Gegenwart Menschen ermordet oder verletzt wurden, habe er nicht gewusst. Er gestand, auch den BMW beim Attentat auf Lüder und die Richterin gefahren zu haben. Auch da habe er erst im letzten Moment begriffen, dass die – angebliche – Observierung in einen Mordversuch münden würde. Es war, sagte Dotz, sicher manches grenzwertig von dem, an dem er beteiligt war. Aber Mord oder Mordversuch … Nein! Nicht mit ihm. Er sei froh, dass er jetzt reinen Tisch machen könne.
»Wie kommt man überhaupt in eine solche Situation?«, wollte Lüder wissen. »Als Verfassungsschützer sollten Sie wissen, welchen Auftrag Ihre Behörde hat.«
Greiff habe ihm erzählt, berichtete Dotz stockend, die Zuwanderer würden die Macht übernehmen. Zunächst auf demokratischem Weg, ganz einfach, weil es eine Frage der Zeit sei, bis sie den Deutschen zahlenmäßig überlegen sein würden. Wehe dem. »Wir müssen die Zukunft unserer Nachfahren sicherstellen. Schon heute gibt es Regionen und Stadtteile, in denen diese Leute die Oberhand haben. Dagegen muss man etwas tun«, hatte Greiff ihm suggeriert. »Darin ist sich auch die Politik einig.« Dotz wisse ja, wie die deutschbürgerlichen Kräfte der Vernunft an Zuspruch gewännen. »Nicht nur die politisch etablierte Politik, die vor diesen Gefahren warnt, auch die sich dahinter formierende mit einem deutlicheren Bekenntnis zu nationalen Werten …«
»Sie sprechen von Golombek und Siggelkow aus Görlitz?«, warf Lüder ein.
»Genau«, bestätigte Dotz.
»Und die Taten haben Sie gemeinsam mit Lutz Schwemmhoff ausgeführt?«
Dotz nickte kräftig. »Der Plan war, dass Schwemmhoff sich als muslimische Frau verkleidet und mit dieser Maskerade Angst und Schrecken in Büsum verbreitet. Es sollte ein Zeichen gesetzt werden, dass die islamistische Brut überall zuschlagen kann und die Bürger sich nirgendwo sicher fühlen können.«
Das alles, versicherte Dotz, werde er auch im Protokoll unterschreiben und vor Gericht bestätigen. Dann erzählte er noch, dass er öfter mit Schwemmhoff zusammengearbeitet habe – zusammenarbeiten musste – und dass Schwemmhoff, durch Greiff persönlich geführt, als »freier Mitarbeiter« und V-Mann für den Verfassungsschutz tätig war.
Zu fortgeschrittener Stunde wurde Lutz Schwemmhoff gebracht. Man hatte ihn in einer Kneipe in seiner »Vorstadt«, wie nach Lüders Einschätzung in Erfurt die Stadtteile genannt wurden, aufgegriffen. Dort hatte er mit »Kumpeln« beim Bier zusammengesessen. Schwemmhoff wirkte leicht angeheitert, aber nicht volltrunken. Im Unterschied zu Dotz gab er sich fast cool.
»Was wollt ihr von mir?«, fragte er mit leicht belegter Zunge.
Hanitzsch erklärte, dass man Greiff und Dotz verhaftet habe und dass sie auch schon gestanden hätten. Der Hauptkommissar hatte es so neutral formuliert, dass man auch heraushören konnte, Greiff sei geständig gewesen.
»Und von al-Moudarres liegt auch ein Geständnis vor, unter anderem wegen der Vergewaltigung der Tochter meiner Partnerin«, fügte Lüder hinzu.
Schwemmhoff feixte höhnisch. »So? Hat der kleine geile Araber das gesagt? Ich Gutmensch wollte ihm etwas von unserem schönen Deutschland zeigen. Die See. Da bin ich mit ihm nach Kiel gefahren. Was macht der Wichser? Fällt über das nächste Mädchen her. Wundert mich nicht. Die hat dem wohl schöne Augen gemacht und mit den Titten gewackelt.«
Lüder fiel es schwer, ruhig zu bleiben. Schwemmhoff hatte ihn bei diesen Worten direkt angesehen und dabei dreckig gelächelt.
»Und das andere … Ist ein bisschen schiefgelaufen. Da in Büsum … Wir wollten der Gerichtstante einen kleinen Schrecken einjagen. Mehr nicht. Die hat doch völlig unkontrolliert Tabula rasa gemacht, mit dem anderen Vollpfosten, dem Superstaatsanwalt. Da kommt dieser Arsch aus dem Westen und meint, uns die Welt erklären zu können.«
»Sie haben bei der Stasi angeheuert?«
Schwemmhoff nickt. »Jawohl«, sagte er militärisch knapp. »Die wollten damals die Besten haben. So wie mich. Ich war noch gar nicht ganz dabei, da ging der Laden den Bach runter, und die Typen aus dem Westen haben alles okkupiert. Schöner Scheiß. Danach war alles kaputt.«
»Wie sind Sie zum Verfassungsschutz gekommen?«
»Greiff hatte Zugriff auf meine Kaderakte. Er hat mich angeworben. Mit meiner Vergangenheit, so hat er mir erklärt, könne man mich nicht ins Beamtenverhältnis übernehmen. Das war der Unterschied zur Verlogenheit des Westens. Nach dem Krieg hätten die alle Nazis wieder in verantwortliche Positionen gehievt. Was sollte ich machen? So wurde ich freier Mitarbeiter. Und habe als V-Mann gearbeitet.«
»Unter anderem bei den HH-Leuten, zum Beispiel beim Rechtsrockkonzert in der Alten Brotfabrik«, stellte Lüder fest.
»Woher wissen Sie das?«, fragte Schwemmhoff.
»Es gibt noch mehr V-Leute, nicht nur Sie.«
Schwemmhoff grinste. »Clever, der Mann. Also, noch einmal. Das Ding da in Büsum … Das war nur als Warnschuss gedacht. Wer ahnt denn, dass dieser schießwütige Bulle«, dabei zeigte er auf Lüder, »zurückballert.«
»Wir gehen von einem Mordversuch aus«, mischte sich Oberstaatsanwalt Knüppel ein.
»Blödsinn«, tat es Schwemmhoff ab.
»Da wäre noch der Mord an Staatsanwalt Hollstein und der mehrfache Mordversuch an anderen Passanten.«
Schwemmhof winkte nur ab. »Ja – schön – gut … oder nicht gut. Greiff hat wohl zu heftig reagiert, als er uns beauftragte.«
»Sie und Dotz.«
»Genau. Greiff hat an allen Fäden gezogen. Es war seine Idee. Hollstein war uns und den Leuten im Hintergrund auf den Fersen. Der war richtig verbohrt. Hat Greiff gesagt. Er meinte, die politischen Kräfte hinter ihm fürchteten um die Früchte ihrer Arbeit, bevor sie überhaupt richtig anfangen konnten. Wenn die Mehrheit der Wähler erst einmal an den richtigen Stellen das Kreuz gemacht hätte, gäbe es auch mehr Freiheit beim Schutz der Heimat. Dann bestünden realistische Chancen, dass ich ins Beamtenverhältnis übernommen würde. Die Möglichkeiten würden steigen, wenn man in der Bevölkerung die Angst schürt, zum Beispiel durch ein Attentat, das wie ein islamistisches aussehen würde. Ehrlich. Ich wollte nicht, aber Greiff, das Schwein, hat mich erpresst. Er wusste ja von den … den … sagen wir mal, kleinen Unregelmäßigkeiten, die ich vorher begangen hatte. Ich weiß …« Schwemmhoff hob wie zur Abwehr die Hand. »Die Anweisungen dazu kamen von ihm. Aber der Hund ist gerissen. Wer hätte es ihm nachweisen können? Ich bin ja schon länger als V-Mann tätig. Sagte ich schon. Ich war im Umfeld des NSU eingesetzt. Das Ding ist ja geplatzt. Greiff hatte Glück und hat mich auch rausgehalten. Dafür wurde ich immer wieder zur Verrichtung strafbarer Handlungen gezwungen. Und mit jeder Tat wuchs das Erpressungspotenzial mir gegenüber. Greiff hat auch etwas von einer Todesschwadron gefaselt. Geheime Kommandosache.«
»Erzählen Sie«, forderte Hanitzsch Schwemmhoff auf.
»Also … So genau weiß ich das auch nicht. Das stand wohl in meiner Kaderakte, die Greiff sich organisiert hatte. Irgend so ein Kasper hat dort reingeschrieben, dass ich bei Bewährung und Ausbildung durchaus für operative Einsätze geeignet sein könnte. Greiff baute darauf auf. Allein die mögliche Zugehörigkeit zu dieser Exekutivelite bot Erpressungspotenzial. Die Schwadron hatte früher zu DDR-Zeiten Abtrünnige und Verräter, also Überläufer, eliminiert. Aus ihnen rekrutiert sich bis heute – als illegitimer Nachfolger – ein Kommando, das Verräter ausschaltet. Mir kam es vor, als wenn sich dahinter eine Drohung verbarg.«
»Was wissen Sie über dieses Geheimkommando?«
»Ich?« Schwemmhoff ließ ein meckerndes Lachen hören. »Mensch, ich bin doch nur der letzte Arsch. Der arme Hund, dem man einen Knochen hinwirft, wenn er brav die von ihm geforderten Kunststücke macht.«
Ja! Auch Schwemmhoff war bereit, komplett auszusagen.
»Das reicht.« Oberstaatsanwalt Knüppel wirkte zufrieden und packte Lüders Hand, bevor der reagieren konnte. »Ohne Ihre Hilfe wären wir diesem Komplott nicht auf die Spur gekommen. Nicht so schnell«, schränkte Knüppel ein. »Nehmen Sie es uns nicht übel, dass wir uns zunächst erst einmal vergewissern mussten, in welche Richtung Sie ermitteln, bevor wir die Zusammenarbeit mit Ihnen suchten«, verdrehte er die Tatsachen. »Wir werden nicht lockerlassen und Greiff durch die Verhörmühle drehen. Was wir jetzt schon gegen ihn vorliegen haben, reicht aus. Wir werden auch darauf dringen, eine mögliche Tatbeteiligung von Golombek und Siggelkow aufzudecken.«
Lüder nickte nur. Freundschaft würde er weder mit Knüppel noch mit Hanitzsch schließen.
Obwohl Mitternacht lange vorbei war, machte er sich auf den Heimweg nach Kiel.
Am Horizont zeigte sich der erste Streifen Helligkeit, als er die Förde erreichte. Es war Wochenende. Die ganze Stadt schien zu schlafen. Die Geschäftigkeit in den Bäckereien, im Krankenhaus, bei der Polizei oder in anderen Einrichtungen spielte sich im Verborgenen ab. Aber nicht jede Aktivität, die zunächst unsichtbar ist, muss eine schlechte sein.
Für weitere philosophische Gedanken war er zu müde. Er versuchte, leise ins Haus zu gelangen, um kein Familienmitglied zu wecken, schon gar nicht Margit, die unbedingt Ruhe benötigte.
Lüder war überrascht, als er wenige Minuten nach seinem Eintreten leise Schritte auf der Treppe hörte. Margit. Sie hatte sich in einen Morgenmantel gehüllt. Ihre Füße waren barfuß. Sie sah ihn an, kam auf ihn zu, streckte die Arme aus.
»Schön, dass du da bist«, sagte sie. Ihre Stimme war müde, aber bestimmt.
Lüder nahm sie in den Arm, hielt sie ganz fest und küsste ihre Stirn.
Nach einer ganzen Weile reglosen Festhaltens sagte sie: »Du bist heute Nacht durchgefahren. Soll ich dir etwas zu essen machen? Kaffee kochen? Ich trinke eine Tasse mit. So wie früher.«
Lüder packte sie an den Schultern und schob sie ein Stück von sich. Dann sah er ihr in die Augen.
»Willst du meine Frau werden?«