E ntweder das oder er führt sie an.« Cheyenne verschränkte die Arme. »Oder L’zar Verdys hat etwas unwiderruflich Dummes getan, nur um die Krone zu verärgern und jetzt holt sie sich sein erstes Kind, das nicht gleich tot umfällt, wenn er es trifft.«
»Hmm.« Mattie tippte mit einem Finger auf ihre Lippen. »Die vierte Option ist, dass alles davon zutrifft. Ich würde mich für diese Option entscheiden.«
»Diese verrückte Drow, die die ganze magische Welt regiert, jagt mich, weil sie L’zar hasst und die Sache persönlich nehmen will.« Die Halbdrow schnaubte. »Das klingt nach einer Menge, die man in eine Erklärung quetschen muss.«
»Nun, Drow sind bekannt dafür, dass sie die Dinge kompliziert machen können. Es ist immer etwas Persönliches, wenn jemand versucht, die Monarchie zu stürzen, stimmt’s? Zumindest für den Monarchen.«
»Das ist Wahnsinn.«
»Ja . Das ist die Welt, in die du geboren wurdest, Cheyenne. Logisch gesehen natürlich nicht, aber das Blut von L’zar Verdys fließt durch deine Adern und es gibt keinen Weg, es wieder loszuwerden. Du hast es selbst gesagt. Er ist ein Verrückter.«
»Ich nicht.«
»Ach, komm schon.« Matties Sticheleien hatten wieder das übliche Maß erreicht, das kaum noch zu ertragen war. »Ein bisschen verrückt bist du schon. Ich bin die Erste, die zugibt, dass auch ich von Zeit zu Zeit einen Anfall von Wahnsinn habe. Wir sind, wer wir sind, Mädchen. Du bist das Kind von L’zar, das sich der allwissenden Prophezeiung eines Orakels widersetzt hat. Ehrlich gesagt, hat das vielleicht mehr mit dir zu tun als alles, was dein Vater bisher getan hat.«
Cheyenne ballte ihre Fäuste an den Seiten und blickte die Nachtpirscherfrau starr an. Beruhige dich, Cheyenne. Sie sagt dir die Wahrheit. Das ist es, was du wolltest. »Er hat nichts getan.«
»Das ist genau der Punkt.« Mattie lachte und schüttelte den Kopf, wobei ihr langes, gewelltes, schwarzes Haar zwischen ihrem Hemd und der Rückenlehne des Sitzes raschelte. »Wenn du die Drowprüfungen bestanden hast und daran zweifle ich nicht, wird sich eine ganz neue Welt vor dir auftun.«
»Das habe ich auch schon mal gehört. Das ist es, was Corian mir nicht sagen konnte, oder? Dass L’zar eine Rebellion gegen die Krone anführt und ich diejenige sein soll, die ihm hilft, die Macht zu übernehmen.«
»Ich kann nicht sagen, was Corian dir nicht erzählt hat.« Mattie zuckte mit den Schultern. »Aber es scheint, als hättest du das schon herausgefunden. Allerdings muss ich dich fragen, warum dir dieser wandelnde Fellknäuel nichts davon erzählt hat? Es ist ja nicht gerade ein Geheimnis, auf beiden Seiten der Grenze.«
»Ja, das habe ich mir schon gedacht.« Cheyenne schüttelte mit einem verwirrten Lachen den Kopf. »Er meinte zu mir, dass er mir nicht sagen wird, wer L’zar in Ambar’ogúl war oder ist , bevor ich die Prüfungen abgeschlossen habe. Er hat auch klargemacht, dass er nichts bezüglich Politik oder der Krone sagen wird.«
Mattie blinzelte. »Sind das zwei unterschiedliche Dinge?«
»Ist das wichtig?«
Sie lächelten einander an. »Nicht im Geringsten.«
»Am Anfang hat es mich verrückt gemacht.« Die Halbdrow fuhr sich mit der Hand durch ihr schwarzes Haar und zuckte mit den Schultern. »Aber ich weiß, was es heißt, Versprechen zu geben und sie zu halten. Oder sie zu brechen. Ich habe mir das selbst zusammengereimt.«
»Und ich muss sagen, dass du das bis jetzt verdammt gut machst.«
»Nun, es wird mir viel besser gehen, wenn ich die Prüfungen bestanden habe und herausfinden kann, wie ich diese idiotischen Stierkopf-Loyalisten davon abhalten kann, überall auf mich loszugehen und meine Sachen in die Luft zu jagen.«
Die Nachtpirscherfrau räusperte sich. »Ich habe gerade verstanden, dass dein Zeug in die Luft gejagt wurde. Diesmal ein Euphemismus?«
»Nö. Deshalb habe ich den Panamera jetzt.«
Mattie legte den Kopf in den Nacken und lachte laut. »Ich würde mich gerne mal mit deinem Versicherungsvertreter zusammensetzen.«
»Meine Versicherung hat mir keinen Porsche besorgt, nachdem mein Ford von einem O’gúl-Loyalisten in die Luft gejagt wurde, also …«
»Genau. Du hast andere Möglichkeiten, dir einen nagelneuen Porsche zuzulegen.«
»Klingt zutreffend.« Cheyenne zuckte scherzhaft mit den Schultern und schaute aus dem Fenster.
»Sieh dir das an.« Mattie deutete mit einem Nicken auf Persh’al, Corian und die Kobolde, die – alle mit menschlichem Täuschungszauber, aber dennoch unverkennbar – mit Plastiktüten in der Hand aus dem Laden traten. »Gerade noch rechtzeitig, denke ich. Ich habe noch eine Frage an dich, Cheyenne.«
Die Halbdrow drehte sich um und begegnete dem Blick ihrer Freundin. »Ja?«
»Wie hat Corian reagiert, als du ihm gesagt hast, dass du mich kennst?«
Cheyenne konnte sich ein überraschtes Lachen nicht verkneifen. »Ich habe ihn gefragt, ob er den Namen Maleshi schon mal gehört hat. Das war alles, was ich hatte. Er, äh … Nun, er ist ein bisschen ausgerastet. Er hat mir befohlen, nicht mit dem Namen um mich zu werfen und mir gesagt, es hätte nichts damit zu tun, dass er mich trainiert oder so.«
»Na gut.«
»Es kam nicht noch mal auf, bis ich ihm dein Zauberbuch gezeigt habe.«
Mattie hustete und warf einen misstrauischen Blick aus der Windschutzscheibe, als der Rest der Gruppe sich dem Geländewagen näherte. »Du hast es ihm gezeigt ?«
Die Halbdrow lächelte. »Ob du es glaubst oder nicht, Mattie, ich habe einen Nachtpirscher gefunden, der mehr als bereit war, mir von der Drow-Vermächtniskiste zu erzählen, mich darin zu unterrichten und mir neue Zaubersprüche beizubringen. Zugegeben, mit dir kommt man dafür viel leichter zurecht.«
»Ha. Außerdem ist es viel schwieriger, mich ins Gesicht zu schlagen.«
»Langsam glaube ich das auch.«
Mattie atmete einmal tief ein und aus und öffnete dann die Tür, damit die anderen magischen Wesen einsteigen konnten. »Vielleicht war ich ein bisschen nachlässig, als ich das Zauberbuch ohne Vorwarnung herausgegeben habe. Mir ist nie in den Sinn gekommen, wer es sonst noch sehen könnte. Ich bin einfach aus der Übung.«
Cheyenne hüpfte hinter Mattie her und lehnte sich gegen die Seite des Autos, als Persh’al die Fahrertür öffnete.
Die Nachtpirscherfrau beugte sich zu der Halbdrow und murmelte: »Warte, bis du mich in Aktion siehst.« Mit einem Augenzwinkern öffnete sie die Tür auf der Beifahrerseite und setzte sich hinein, bevor Corian die Vorderseite des Wagens erreicht hatte.
Er warf einen Blick durch das Beifahrerfenster und hob dann eine Augenbraue zu Cheyenne. »Habt ihr zwei euch nett unterhalten?«
»Ja. Ich glaube, wir haben jetzt alles aufgeholt.« Sie zog den Hebel, um den mittleren Sitz nach vorne zu klappen und trat für die Kobolde zur Seite. Er wird nicht fragen. Solange er nicht derjenige ist, der es mir sagt, bricht er sein Versprechen nicht.
»Wollt ihr den ganzen Tag da stehen, während ein Portal explodiert oder steigt ihr ins Auto?« Byrd lehnte sich gegen den Rücksitz und kicherte. »Wenn ich das nächste Mal aussteige, steige ich nicht wieder ein.«
»Oh, du willst also zu Fuß zurückgehen?« Lumil schnaubte und schnallte sich an. »Denn niemand öffnet dir ein Portal, durch das du nach Hause springen kannst, wenn wir fertig sind.«
»Scheiße.«
Cheyenne schob die Rückenlehne des Sitzes wieder nach vorne und rutschte ganz hinüber, um hinter Persh’al zu sitzen. Corian beobachtete sie mit zusammengekniffenen Augen, stieg als Letzter ein und schloss die Tür. »Los geht’s.«
* * *
Als sie an demselben Abschnitt der Schotterstraße im Green Ridge State Forest in Maryland anhielten, grunzte Persh’al und spähte in den Wald auf der anderen Seite. »Auf dass sich der Kampf nicht wiederholt, was?«
»Selbst wenn es so wäre, wäre es das erste Mal für mich.« Mattie öffnete ihre Tür und stieg schnell aus. Sobald die anderen aus dem Geländewagen ausgestiegen waren, nickte Corian auf der anderen Straßenseite und sie machten sich schweigend auf den Weg durch den dichten Wald zur Lichtung, der etwa einen halben Kilometer lang war.
Nach etwa fünf Minuten hielt Cheyenne inne. »Wartet.«
Die ganze Gruppe
blieb stehen, drehte sich zu ihr um und wartete darauf, dass sie den Befehl erklärte. Wenigstens muss ich nicht um ihre Aufmerksamkeit kämpfen. Die Halbdrow verdrängte ein kleines Unbehagen unter so vielen Blicken und konzentrierte sich auf das, was sie zum Stehenbleiben veranlasst hatte. »Etwas ist anders.«
Corian hob die Augenbrauen und blickte sich im Wald um. »Was zum Beispiel?«
Cheyenne schloss ihre Augen und zwang ihren Atem zu einem ruhigen, langsamen Rhythmus. Das Herz der Mitternacht hat nichts mit dem Drowgehör zu tun. »Stimmen«, murmelte sie. »Vielleicht ein Dutzend? Schwer zu sagen von hier aus, aber wir sind nicht allein.«
»Mann, ich liebe es, Drow bei ihrer Arbeit zuzusehen.« Byrd grinste und musterte die Halbdrow. »Ich vermisse es auch, einen dabei zu haben.«
»Verschleiert euch«, murmelte Corian. »Wenn ein Dutzend Leute da draußen so viel Lärm machen, passen sie nicht so genau auf, wie sie sollten.«
Eine Runde von Zaubersprüchen umkreiste die Gruppe, bis nur noch Cheyenne und Mattie zu sehen waren. Cheyenne warf einen Blick auf die Nachtpirscherfrau, die lächelte und ihren eigenen Unsichtbarkeitszauber sprach. »Vielleicht arbeiten wir später an dem hier, hm?«
»Ich bin dabei.« Kaum waren die Worte über die Lippen der Halbdrow gekommen, verschwanden sie und die ehemalige Generalin.
»Lasst uns gehen«, befahl Corian direkt vor ihr. »Im Moment sind wir hier, um zuzuschauen.«
»Ich entscheide darüber, wenn wir dort sind, vae shra’ni .« Matties tiefe Stimme verriet einen Hauch von ihrer früheren Befehlskraft. Die Gruppe machte sich wieder auf den Weg durch die Bäume in Richtung der Lichtung und des neuen Grenzportals.
Cheyenne hörte aufmerksam zu, während sie lautlos durch das dichte Unterholz schritt. Wenn sie nach unten blickte und sich selbst nicht sehen konnte, wurde ihr schwindlig, also richtete sie ihren Blick so weit wie möglich nach vorne. Sie hörte leichte Schritte zu ihrer Linken und zu ihrer Rechten, obwohl es sich nur wie drei Paare anhörte. Wenigstens die Hälfte von uns weiß, wie man leise ist.
Je näher sie der Lichtung kamen, desto lauter wurden die etwa ein Dutzend Stimmen – geschriene Befehle, gemurmelte Sprüche, viel Schlurfen und ein Klirren, das verriet, dass schwere Gegenstände gegeneinanderprallten. Alle ein bis zwei Minuten ertönte ein leises Knacken über den wachsenden Stimmen. Jetzt sind es definitiv mehr als ein Dutzend.
Dann waren die Halbdrow und ihre O’gúleesh-Freunde an der Baumgrenze. Ein schwacher Schimmer von silbernem Licht blitzte in der Luft hinter dem nächstgelegenen Baum auf – eine körperlose, silberne Hand, die sich hob und der unsichtbaren Gruppe signalisierte, anzuhalten.
Cheyenne bewegte sich nach rechts und blieb hinter einem anderen Baum am Rand der Lichtung stehen, um einen genaueren Blick darauf zu werfen. Die meisten der schwarzen, glitzernden Panzer des Käferschwarms waren weggeräumt worden, aber einige Teile lagen noch hier und da verstreut. Ein dünner Tentakel war dort liegengeblieben, wo Corian ihn am Rand des Portalkamms abgetrennt hatte. Die Steintürme, die Cheyenne niedergerissen hatte, lagen immer noch über der breitesten Spalte des Portalkamms, aber es schien, als hätte sich der Schwerpunkt des Portals weiter nach unten verlagert, dorthin, wo die Zerstörung nicht hingelangt war. Die hohe Wand aus dunklem, schimmerndem Licht war auch noch da.
»Etwas mehr als ein Dutzend, was?«, flüsterte Mattie.
»Ich kann nicht alles hören«, flüsterte die Halbdrow zurück.
Mindestens drei Dutzend magische Wesen tummelten sich auf der Lichtung und hantierten mit riesigen Kisten aus schwarzem Metall. Die meisten Kisten waren in Dreier- oder Viererstapeln aufgereiht und unterschieden sich nur durch die Farbe ihrer Griffe – rot, weiß oder silbern. Alle hatten die Form eines Stierkopfes mit weißer Farbe auf die Seite gestempelt.
Ein weiterer leiser Knall ertönte auf der Lichtung und ein riesiger, brüllender Oger taumelte zwischen den schwarzen Steinsäulen hervor. Er fuchtelte mit den Armen vor sich herum und schlug sich etwas aus dem Gesicht, das nicht da war.
»Ich habe noch einen«, rief jemand.
»Hey, das ist Kilresh!«
Ein hünenhaftes magisches Wesen, das eine schwarze Militärjacke mit einem silbernen Stierkopf auf dem Rücken trug, zeigte auf den verwirrten Oger und rief forsch: »Jemand sollte diesen Oger in die Schranken weisen, bevor er noch mehr Vorräte zerstört.«
Cheyennes Augen wurden groß, als sie die graue, rot gefärbte Hand sah, die aus dem Ärmel der Militärjacke ragte. Der spitze Finger endete in einer langen, roten Klaue. Na toll. Sie haben einen Raug, der Befehle gibt.
Sie lauschte dem fast unhörbaren Knirschen von trockenem Laub neben sich, bevor Corian zwischen Mattie und der Halbdrow stehen blieb, ohne einen von beiden anzustoßen. »Vielleicht haben wir dich doch nicht gebraucht, Generalin.«
Mattie stieß ein leises Zischen aus. »Das beweist nur, dass jemand die Situation ausnutzt.«
»Offensichtlich. Die Krone steckt hinter dieser Sache.«
»Hinter den Nachschublieferungen und der neuen Legion von Tagelöhnern, ja. Ich bin hier, um herauszufinden, wer hinter dem neuen Portal steckt.«
»Maleshi, warte!«
Es gab ein kurzes Handgemenge und aufgewirbelte Blätter, bevor einer der Nachtpirscher zischte.
»Nimm deine Hände von mir«, flüsterte Mattie aufgebracht. Dann konnte man hören, wie sie auf die Lichtung hinaustrat. Die Luft flimmerte, als ihre Gestalt wieder sichtbar wurde und dann stürmte Maleshi Hi’et, die Nachtpirscherin, über das offene Gras auf die ahnungslosen magischen Wesen zu, die von der Krone über die Grenze geschickt worden waren.
Corian tauchte direkt neben Cheyenne auf und ließ schnell ihren Unsichtbarkeitszauber fallen, während Persh’al und die Kobolde das Gleiche mit ihrem taten.
Byrd beugte sich vor, um den Blick des Nachtpirschermannes zu erhaschen. »Was zum Teufel macht sie da?«
»Was immer sie will, anscheinend.« Corian Augenbrauen zogen sich zusammen und seine Katzennase zuckte. »Wie sie es immer tut.«
»Willst du sie nicht aufhalten?«
»Ich behalte lieber meinen Kopf auf meinen Schultern, danke.«
Maleshis langes, schwarzes Haar flatterte im Wind und die Spitzen ihrer büschelartigen Katzenohren waren das einzige Zeichen dafür, dass sie sich ohne ihre menschliche Verkleidung auf die Gruppe der O’gúleesh zubewegte. Cheyenne beugte sich zu Corian. »Warum gehen wir nicht mit ihr da raus?«
»Weil sie das allein machen will.«
»Wir sind also nur hier, falls sie Unterstützung braucht, was?«
»Das wird sie nicht.«