S owohl Maleshi als auch das Raugorakel hatten bereits Platz genommen, als Cheyenne in das große, staubige Wohnzimmer trat. Sie bewegte sich vorsichtig um die ausgefransten Kissen und kunstvoll gewebten Polster, die auf dem Boden verstreut waren und versuchte, nicht zu sehr auf die dunklen Schatten zu achten, die durch den Raum flackerten, wenn die hängenden Laternen zum Leben erwachten.
Maleshi musterte die schmutzigen Kissen mit einem angewiderten Gesichtsausdruck. »Das Geschäft muss richtig gut laufen, wenn du nicht die Zeit gefunden hast, hier auch nur ein bisschen aufzuräumen.«
Gúrdu winkte mit seiner krallenbewehrten Hand in Richtung des silbernen Tabletts auf einem der niedrigen Tische, auf dem zwei Wasserpfeifen standen. Eine dünne Rauchfahne stieg aus der Schale oben auf einem der Geräte auf und Cheyenne ging dem Tisch und dem, was der Raug dort geraucht hatte, aus dem Weg. Das silberne Tablett erhob sich vom Tisch und schwebte durch den Raum in Richtung der erhöhten Plattform des Orakels, die einem Thron ähnelte. Als es sich neben dem Raug niederließ, der im Schneidersitz auf einem weiteren Stapel schmutziger Kissen saß, stieß die Halbdrow mit der Schuhspitze gegen ein Kissen neben Maleshi.
»Es ist in Ordnung, wenn du nicht daran denkst, wer hier vor dir saß«, flüsterte die Nachtpirscherin.
»Oder solange man nicht durch die Nase atmet.« Cheyenne ließ sich auf das Kissen sinken und kreuzte auch ihre Beine.
Gúrdu vollzog dasselbe seltsame Raugritual – ein weiteres Bündel dünner Zweige wurde in die Wasserschüssel getaucht und über das Gesicht des Orakels von der Stirn bis zur Unterseite des Kinns gezogen. Das laute Knirschen der Zweige zwischen seinen scharfen, fleckigen Zähnen erfüllte den Raum. Gúrdu schloss die Augen und mampfte weiter.
Cheyenne beugte sich zu der Nachtpirscherin. »Muss er das jedes Mal machen?«
»Nein, aber ich habe gehört, dass es einem Orakel hilft, das zu sehen, was es zu sehen versucht. Ein kleiner Energieschub für ihr System, weißt du?«
Selbst mit ihrem Drowgehör konnte die Halbdrow Maleshis geflüsterte Worte kaum über das Knirschen des Raug und das grunzende Schnauben, das mehr nach einem wühlenden Schwein als nach etwas anderem klang, hören. »Wie die Nimlotharsamen.«
Maleshi lächelte und warf Cheyenne einen Seitenblick zu. »Zweige desselben Baumes, Mädchen.«
»Er isst Nimlotharzweige?«
»Wahrscheinlich nicht die leckerste Delikatesse, aber Mozzarella-Käsestangen haben nicht die gleiche Wirkung.«
Die Halbdrow schnaubte und schluckte das kleine Lachen herunter, das ihr zu entweichen drohte. Sie schüttelte den Kopf und schaute auf die Basis der Plattform des Raug. Das heißt aber nicht, dass ich vergessen werde, was am Portal passiert ist.
Als ob die Nachtpirscherin ihre Gedanken lesen könnte, beugte sich Maleshi zu Cheyenne und senkte ihr Kinn. »Wenn du einen Groll hegen musst, Kleine, verstehe ich das. Du wärst nicht die Erste und ich kann damit umgehen. Aber versuch, das beiseitezuschieben, solange wir hier sind, denn ich will, dass du gut aufpasst.«
Cheyenne presste ihre Zähne aufeinander. »Ist das eine Lektion, die ich lernen soll?«
»Nein. Nur ein Idiot beauftragt ein Orakel ohne einen Zeugen.«
»Was?« Die Halbdrow schaute in Maleshis glühende Augen, während der Raug weiter schmatzte.
»Reg dich nicht so auf. Er wird mich nicht angreifen. Glaube ich.«
»Toll.« Cheyenne wandte sich wieder der Plattform an der Wand zu und legte den Kopf schief. »Ich bin nur hier, um zu sagen, dass ich alles gesehen habe, falls er das tut.«
»Leg mir keine Worte in den Mund, Mädchen. Prophezeiungen werden ein bisschen … brenzlig. Ich hatte keine Ausrüstung dabei, um eine magische Kamera aufzustellen, aber ich hatte dich. Hör zu, was aus dem Mund des Raug kommt und präge es dir ein. Hast du das verstanden? Wir müssen es später noch einmal durchgehen, wenn wir etwas von seinem Geplapper verstehen wollen.«
Die Halbdrow presste die Lippen zusammen und kämpfte gegen den Drang an, nach draußen in die frische Herbstluft zu gehen und dort auf die Nachtpirscherin zu warten. »Gut. Aber du wirst eine Rechnung für die Stunden bekommen, die ich hier als persönliche Assistentin verbringe.«
»Ha. Vielleicht muss ich diesen Schuldschein überweisen …«
»Opfergabe!« Gúrdus tiefe, knarrende Stimme donnerte durch den Raum.
Cheyenne und Maleshi zuckten beide ein wenig auf ihren Kissen zusammen. Die Nachtpirscherin seufzte und warf der Halbdrow einen beunruhigten Blick zu, dann nahm sie den zerbrochenen Käferpanzer in beide Hände und hob ihn in Richtung des Orakels. »Die Opfergabe.«
Als Gúrdu seine Augen öffnete, waren sie auf den Panzer gerichtet, der im Licht der flackernden Laternen um sie herum glitzerte. Er schnippte mit seiner krallenbewehrten Hand in Richtung der Nachtpirscherin und die schwarze Muschel erhob sich in die Luft und trieb auf ihn zu. Die roten Klauen schmiegten sich um das Fragment des albtraumhaften Zwischenwesens, als er es aus der Luft schnappte. Dann packte er den Panzer mit beiden Händen und ließ ihn mit einem leisen Brummen in seinen Schoß sinken. Seine Augen schlossen sich wieder. »Frag.«
Maleshi holte tief Luft und sah den Panzer an. »Wie ist die Quelle der Opfergabe aus dem Dazwischen in diese Welt gelangt und wie können wir sie aufhalten?«
Die Oberlippe des Raug hob sich zu einem Knurren und entblößte seine verfärbten Zähne und die Nimlotharzweige, die zwischen ihnen steckten. »Das ist mehr, als du darfst.«
»Wenn ich dein Leben rette, kann ich so viele Fragen stellen, wie ich will, Gúrdu. Leg dich nicht mit mir an.«
Ein grollendes Lachen entwich dem Orakel, aber er sagte nichts weiter.
Der Raum wurde still. Die Flammen in allen Laternen flackerten in einem Windhauch ohne Quelle. Cheyenne schaute sie an, als jede Flamme in jeder Laterne auf das Dreifache ihrer normalen Höhe aufloderte. Der schwache Schein der Flammen verdunkelte sich zu einem unheimlichen, giftigen Grün. Dann wurde jedes Quäntchen Wärme aus dem Raum gesaugt.
Die Halbdrow kauerte auf ihren gekreuzten Beinen und biss die Zähne zusammen, um nicht zu zittern. Maleshi stieß einen langsamen Atemzug aus und betrachtete den Käferpanzer aufmerksam. Ihr Atem strömte wie Rauch aus ihr heraus und das dünne Knistern von sich rasch bildendem Eis ertönte aus der Schale mit Wasser neben dem Orakel, als es zufror.
Gúrdus Augenlider flatterten und als er seine Augen wieder öffnete, strahlten sie dasselbe unheimliche, grüne Licht aus, obwohl sie ganz weiß waren. Seine Stimme hallte durch den Raum, als er sprach, es war aber nicht nur seine Stimme, sondern mindestens ein halbes Dutzend verschiedene, von monströs tief bis hin zu einem Quietschen. »Die Fäulnis in der Mitte des Herzens breitet sich aus. Im Inneren ist nichts mehr übrig, also sucht es jetzt nach neuem Fleisch, das es verzehren kann. Was im Inneren beginnt, wird im Äußeren enden und der Kreislauf wird sich vor seinem Untergang zurückdrehen.«
Die Flammen züngelten in den Laternen noch höher, bevor sie auf eine immer noch unnatürliche Höhe sanken. Als das Orakel einen langen, keuchenden Atemzug tat, schwankte Maleshi ein wenig auf dem Kissen neben Cheyenne.
»Derjenige, der in der Schande Tapferkeit sieht, wird fallen. Derjenige, der in der Dunkelheit geboren wurde, wird die Klinge schwingen. Schneide das Herz heraus, schneide die Fäulnis heraus. Die Fesseln der alten Gesetze erheben sich. Für den letzten Nachkommen heißt es: Schicksal oder Ketten.«
Maleshi kippte auf ihrem Kissen nach vorne. Cheyenne drehte sich zu ihr um und sah, wie die Augen der Nachtpirscherin mit dem bösartigen Grün der Flammen glasig wurden. Zwischen den aufgesprungenen Lippen der Ex-Generalin entsprangen in schneller Folge Dampfschwaden.
Wenn sie nicht in der nächsten Minute damit aufhören, klettere ich auf die Plattform und halte es selbst auf.
»Blut verbindet sich mit Blut, das mit Chaos verbunden ist!« Die letzten Worte wurde mit der verstörenden Mischung an Stimmen aus dem Mund des Orakels geschrien. Die grünen Flammen in den Laternen züngelten, bevor sie mit einem Mal erloschen. Obwohl die Lichter im Flur draußen brannten, war der Raum in Dunkelheit getaucht. Etwas knackte und splitterte neben der Plattform, dann kamen die einzigen Geräusche von Maleshi und Gúrdu, die beide langsam und gleichmäßig atmeten.
Cheyenne hob eine Hand in Richtung des Herz der Mitternacht -Anhängers unter ihrem Oberteil und hielt den Atem an, um zu lauschen. Was zum Teufel ist das?
Die Laternen erwachten wieder zum Leben, mit normal großen Flammen und gelbem Licht. Die klirrende Kälte verschwand und wurde durch die normale Temperatur der Wohnung ersetzt, die sich im Vergleich dazu jetzt angenehm warm anfühlte. Trotzdem fröstelte die Halbdrow und rieb sich durch den Ärmel ihres Kapuzenpullis die Arme.
Maleshi stöhnte ein wenig, aber bevor Cheyenne fragen konnte, ob es ihr gut ging, setzte sich die Nachtpirscherin wieder aufrecht hin. Ihre Augenlider flatterten auf und sie schmatzte mit den Lippen. »Preiselbeeren. Immer noch.«
Gúrdu räusperte sich mehrmals und hob seinen massigen, grauen Kopf. Auch seine Augen hatten wieder ihr normales, orangefarbenes Leuchten angenommen und verengten sich, als sie von einer Seite des Raumes zur anderen huschten. Dann blickte er auf die zerbrochenen Fragmente des Käferpanzers, die am Rand der Plattform vor ihm herumlagen. »Du hast nicht erwähnt, welche Fäden hier zusammenlaufen, Generalin.«
Maleshis Nasenflügel blähten sich und sie schnalzte angewidert mit der Zunge gegen ihre Zähne. »Wenn ich von allen Fäden wüsste, Orakel , würden wir dieses Gespräch nicht führen.«
»Wir hätten es gar nicht erst führen sollen.« Gúrdu lehnte sich zur Seite, um die Schüssel mit Wasser vom silbernen Tablett zu nehmen. Er schnippte mit einer roten Klaue gegen die Oberfläche, wodurch die Eisschicht zerbrach und schluckte das ganze Wasser in weniger als fünf Sekunden herunter. Wasser und Zweigstücke liefen ihm aus den Mundwinkeln und von seinem grauen Kinn. Die Schüssel landete klappernd auf dem Podest, als er sie zur Seite warf und sich mit einem Handrücken die Lippen abwischte. »Das ist eine Nummer zu groß für dich.«
»Das höre ich nicht zum ersten Mal.« Maleshi rollte mit den Schultern und grunzte. »Und ich bin immer noch in einem Stück. Ich nehme es mit Vorsicht auf, wenn es dir nichts ausmacht.«
»Salz in einer offenen Wunde.« Gúrdu schaukelte nach hinten und stieß einen gewaltigen Rülpser aus. Ein Hauch grün schimmernden Lichts schoss aus seinem Mund und verschwand.
Maleshi beugte sich wieder zu Cheyenne. »Hast du das alles mitbekommen?«
»Ja.« Die Halbdrow sah ihre Freundin mit großen Augen an. »Was ist mit dir passiert?«
»Ich habe meine Prophezeiung bekommen, Mädchen. Das war der leichte Teil.«
»Und das Schwierige daran ist …?«
»Herauszufinden, was das bedeutet.« Die Nachtpirscherin schlug die Hände auf die Knie, nickte und stieß sich von den Kissen ab. »Besten Dank, Raug. Jetzt sind wir quitt.«
Gúrdu schob einen krallenbewehrten Finger durch den Haufen Panzerstücke vor ihm. »Wohl kaum.«
»Ja, das nächste Mal bringe ich die Bezahlung mit. Was verlangst du heutzutage eigentlich für deinen Weltraum-Quatsch?«
»Mehr als du dir leisten kannst, wenn du die Sache weiterverfolgst.«
»Das habe ich auch schon mal gehört. Solange du nicht etwas prophezeist, in dem mein Name und die Worte ›du wirst sterben‹ vorkommen, werde ich es darauf ankommen lassen. Eine Ahnung von dir ist keine weitere Prophezeiung, Gúrdu. Das wissen wir beide.«
Cheyenne stand auf und betrachtete den Raug. Er weiß etwas.
Das Orakel sah von dem Scherbenhaufen auf und warf einen Blick auf die Halbdrow und die Nachtpirscherin. Dann hob er den Finger und zeigte auf Cheyenne. »Sie hätte es anbieten und fragen sollen.«
»Sie ist nicht diejenige, die den Gefallen einfordert, oder?« Maleshi wischte sich den Staub von der Hose und trat vorsichtig zwischen die Kissen, die um sie herum verstreut waren. »Und wenn ich mir jetzt keine weitere Prophezeiung leisten kann, kann ich auch nicht für das Kind bezahlen.«
»Das müsstest du nicht.« Der Raug ließ seine Hand wieder sinken. »Diese hier liegt in der Mitte von mehr als einem Faden.«
»Was du nicht sagst. Nur ein Vollidiot könnte das nicht herausfinden. Komm schon, Cheyenne. Ich fühle mich kribbelig und von dem Geruch hier drin wird mir schlecht.«
Als die Nachtpirscherin sich einen Weg durch das Durcheinander von Kissen, Asche, Staub und was sonst noch darunter wuchs, bahnte, war Cheyenne unfähig, sich zu bewegen. »Was soll das heißen?«
»Wirklich? Ich habe einen Prophezeiungs-Kater und muss kotzen. Wie viel durchsichtiger kann es noch werden?« Maleshi erreichte das Ende des Kissenmeeres und stolperte, bevor sie sich mit einer Hand an der Wand abfangen konnte. Sie schaute über ihre Schulter und blickte sich wild im Zimmer um, bevor sie feststellte, dass Cheyenne sich nicht bewegt hatte. »Oh, um Himmels willen!«
»Dass ich im Mittelpunkt von mehr als einem Faden liege«, murmelte die Halbdrow achselzuckend. »Was heißt das?«
Die orangefarbenen Augen des Orakels weiteten sich. »Ist das also deine Frage?«
»Ja, ich frage dich, was das bedeutet.« Cheyenne krümmte ihre Finger an ihren Seiten. Ich würde ihn wieder mit Drowmagie bedrohen, wenn da nicht dieser blöde Anhänger wäre. »Du hast es gesagt und jetzt musst du mir sagen, was du damit meinst. Was sind das für Fäden?«
Ein langsames, hinterhältiges Lächeln breitete sich auf den dicken, grauen Lippen des Raug aus. »Bring ein Opfer dar, Drow.«