A ls Cheyenne die wichtigsten Punkte ihres verkorksten Sonntags aufzählte, blinzelte Ember und hob ihren Becher wieder an die Lippen. Der Becher kippte ganz nach oben, bevor sie merkte, dass er leer war und ihn zurück in ihren Schoß stellte. »Ich schätze mal, achtzig Prozent.«
Die Halbdrow lachte und verschränkte die Arme, wobei sie ihr rechtes Bein über eine der Armlehnen des Sessels legte, während sie sich an die andere lehnte. Nach der Hälfte der Erzählung stellte sie ihre leere Tasse auf den Kaffeetisch. »Achtzig Prozent wovon?«
»Achtzig Prozent dieser Geschichte sind totaler Quatsch.«
Die Mitbewohnerinnen sahen einander an und Cheyenne stieß sich fast von ihrem Stuhl hoch, bevor Ember laut anfing zu lachen. Die Halbdrow verdrehte die Augen und zeigte ihrer Freundin den Mittelfinger. »Das musst du dir abgewöhnen.«
»Wenn du dann so guckst? Niemals!«
»Ich bin nicht leichtgläubig und trotzdem erwischst du mich jedes Mal.«
Ember strich sich ihr Haar aus dem Gesicht und lachte, während es wieder zurück an seinen Platz fiel. »Ich bin einfach so gut. Ich bin wahrscheinlich der einzige Mensch auf der Welt, der dir alles glauben würde, was du gerade gesagt hast.«
»Vielleicht.« Die Halbdrow zuckte mit den Schultern. Außer Bianca Summerlin. ›Nenne es nicht eine Lüge , weil du etwas weglässt, Cheyenne. Sieh es als eine taktvolle Darstellung der Wahrheit, die du präsentieren willst. ‹ Sie schnaubte, als die Stimme ihrer Mutter so deutlich in ihrem Kopf erklang.
»Was?« Embers Lippen verzogen sich zu einem verschmitzten Lächeln.
»Deshalb bist du auch der einzige Mensch auf der Welt, dem ich diesen Mist erzähle, Em.«
»Ich fühle mich geehrt, dass du mir all deine beschissenen Geschichten erzählst. Das weißt du doch.«
»Ja, wie auch immer.«
Die Fae wälzte sich hin und her und schielte auf die abstrakten Gemälde, die an der Wand neben der Eingangstür hingen. »Klingt, als wüssten alle von L’zar Verdys’ Halbdrowtochter, was?«
»Ich denke schon. Anscheinend muss ich jetzt nur noch die Prüfungen abschließen, um ›mein Erbe einzufordern‹, lebende Albträume abwehren, die außerhalb des Portals nicht existieren sollten und einen Krieg zwischen beiden Seiten der Grenze verhindern, mit der Hilfe von L’zars bestem Freund und einer verräterischen O’gúl-Generalin, die lieber alle umbringt, als ein Teamplayer zu sein. Habe ich schon erwähnt, dass sie mal meine Dozentin für fortgeschrittene Algorithmen war?«
»Du hast das ziemlich deutlich gemacht, ja.« Keiner von ihnen konnte sich zurückhalten und beide brachen wieder in Gelächter aus. »Nur kleine Anforderungen an die Tochter eines Rebellenführers, richtig?«
»Fang gar nicht erst damit an.« Cheyenne ließ ihren Kopf zurück auf das weiche, kühle Lederpolster des Sessels fallen. »Ich werde mich alle zehn Minuten kneifen, um sicherzugehen, dass das hier noch echt ist.«
Ember zuckte mit den Schultern. »Niemand hat je behauptet, Cheyenne Summerlin hätte ein langweiliges Leben.«
»Ha. Niemand hat je etwas über irgendetwas gesagt. Mann, wenn ich Maleshi vor einer Woche in ihrem Büro in die Enge getrieben und geschrien hätte, dass L’zar Verdys mein inhaftierter Drowvater ist, wäre ich auf gestern viel besser vorbereitet gewesen.«
»Vielleicht. Es klang aber so, als hättest du es ganz gut hinbekommen.«
Die Halbdrow erwiderte: »Ich arbeite daran. Ich weiß nicht, wie ich mich zusammenreißen soll, wenn diese blöde Halskette den Geist aufgibt und ich nur noch einen hübschen O’gúleesh-Stein trage.«
»Starte eine Souvenirbox.«
»Du bist lächerlich.«
Ember warf ihren Kopf zurück und lachte aus vollem Halse. »Ich meine es ernst. Du bist schon halb fertig mit den Prüfungen. Die Kiste wird sich gleich öffnen und bada-bing, du bist eine superstarke Halbdrow. Du wirst den Anhänger herausziehen, nur um dich an die guten alten Zeiten zu erinnern.«
»Kurz, bevor ich L’zar damit in die Fresse haue.«
»Oder das.« Ember kriegte sich wieder ein, stützte einen Ellbogen auf den anderen Arm und strich sich über das Kinn. »Wann wird der Kerl wieder ausbrechen?«
Cheyenne schüttelte den Kopf. »Wenn er sicher ist, dass es mich nicht umbringt oder so etwas Dummes.«
»Oh, natürlich. Was für ein Arschloch, oder? Mann , das ist so wahnsinnig egoistisch. Dieser Kerl hat über wer weiß wie viele Jahrhunderte versehentlich Dutzende seiner Kinder getötet und jetzt geht er bei dir auf Nummer sicher. Weißt du was? Ich hoffe, er verrottet hinter diesen Gittern.«
»Okay, okay. Verdammt.«
Ember hob mit einem schelmischen Grinsen eine Augenbraue zu ihrer Halbdrow-Freundin. »Glaube nicht, dass ich nicht bemerkt habe, wie lange du mich damit hast weitermachen lassen, bevor du mich gestoppt hast.«
Cheyenne schnaubte und verdrehte die Augen. »Ich verstehe schon. Er will nicht noch einmal mit einem anderen ungewollten Kind anfangen, wenn mir etwas zustößt. Dafür hat er im Moment sowieso nicht viel Zeit.«
Die Fae schnalzte mit der Zunge. »Dir ist klar, dass die Leute auch während eines Krieges miteinander schlafen, oder?«
»Sieh dich an, du wirfst mit dem Wort ›Krieg‹ um dich, genau wie Maleshi.«
»Genauso unheimlich ist, dass du nur vierundzwanzig Stunden gebraucht hast, um sie nicht mehr Mattie zu nennen.«
Die Halbdrow fuhr sich mit den Händen über das Gesicht und stöhnte. »Ich glaube nicht, dass Mattie Bergmann zurückkommt, zumindest nicht so bald. Die Nachtpirscher-Generalin ist echt durchgeknallt, aber genauso cool.«
»Es ergibt absolut Sinn, warum du sie immer noch so sehr magst.« Ember lächelte und breitete ihre Arme aus. »Wenn du eine Katzenfrau wärst, würdest du genau so sein wollen wie sie, wenn du groß bist.«
»Nein, ich will so werden wie ich, vielen Dank.«
Die Fae machte eine Siegerpose und sagte mit tiefer, verstellter Stimme: »Genau das ist die richtige Einstellung.«
»Warum dachten wir, eine gemeinsame Wohnung wäre eine gute Idee?«
Embers Lachen war so ansteckend, dass Cheyenne nicht anders konnte, als mitzulachen. Dann beruhigte sich die Fae und schüttelte den Kopf. »Aber mal im Ernst. Hast du mal darüber nachgedacht, dass L’zar dich nur beschützen will? Ich meine, eine hundertjährige Strafe im Chateau D’rahl zu verbüßen, nur um sein einziges Kind zu schützen, klingt für mich nach einem akzeptablen Opfer.«
»Er opfert nichts.« Die Halbdrow schwang ihr Bein über die Armlehne und setzte sich aufrecht in den Sessel. »Corian hat mir gesagt, dass er nur interessiert ist, wenn etwas für ihn dabei herauskommt und im Moment würde ich sagen, dass das eine richtige Einschätzung ist.«
»Du glaubst wirklich nicht, dass L’zar einen Finger krümmen würde, um jemand anderem als sich selbst zu helfen?«
»Nicht, wenn er sich damit nicht gleichzeitig selbst hilft, nein.« Cheyenne zuckte mit den Schultern und lehnte sich vor. »Er geht also auf Nummer sicher, bis er weiß, dass sein Druckmittel nicht wie alle anderen tot umfallen wird, sobald er das Gefängnis verlässt, was er jederzeit tun könnte. Ich glaube langsam, dass er da drin Spaß hat.«
Ember lachte kurz und hob ihren Kaffeebecher wieder aus dem Schoß, bevor sie sich daran erinnerte, dass er leer war. »Hast du eine Ahnung, worauf er wartet?«
»Nur eine Vermutung: Ich schließe die Prüfungen ab und erhalte meine wahre Macht mit meinem eigenen Drowerbe und L’zar sagt, die Luft sei rein. Er kommt aus seinem kleinen Urlaubsloch gekrochen und ich muss stattdessen Befehle von einem Irren entgegennehmen.«
»Woah.« Ember lachte. »Du hast das alles geplant, nicht wahr?«
»Eigentlich ist mir das alles gerade in den Kopf gekommen.« Cheyenne schenkte ihrer Freundin ein breites Lächeln, bevor es eine Sekunde später wieder aus ihrem Gesicht verschwand. »Ehrlich gesagt, wenn diese ganze Sache mit dem Albtraum, dem Portal und dem bevorstehenden O’gúl-Krieg nicht wäre, würde ich die Prüfungen wahrscheinlich hinauszögern, nur um ihn so lange wie möglich in Chateau D’rahl zu behalten. Nur so zum Spaß.«
»Weißt du, ich habe Spaß mit dir, Cheyenne, aber darüber hinaus haben wir zwei sehr unterschiedliche Definitionen davon.«
»Ja, das mag sein.« Die Halbdrow zog ihr Handy aus der Gesäßtasche, um die Zeit zu überprüfen. »Und … ich habe dich gerade eine Stunde lang zugelabert. Der Kaffee ist alle. Du siehst heftig verwirrt aus. Zeit für mich, mich frisch zu machen.«
Ember lachte und schlug ihre Hände auf die Armlehnen ihres Rollstuhls. »Ich wusste gar nicht, dass es so etwas wie heftige Verwirrung gibt.«
»Du bist einmalig, Em.« Cheyenne rappelte sich auf und klatschte in die Hände. »Es ist komisch, dass ich das fragen muss, aber wo hast du …?«
»Handtücher sind im Badezimmer.« Ember nickte in Richtung des zweiten Badezimmers unter dem Mini-Loft.
Die Halbdrow erstarrte und blinzelte ihre Freundin an. »Gruselig.«
»Du bist so leicht von mir beeindruckt.«
Cheyenne schüttelte nur den Kopf und winkte ab, während sie sich in Richtung Badezimmer drehte.
Ember lachte wieder und trommelte mit ihren Händen auf die Armlehnen. »Schnapp sie dir, Dozentin Summerlin.«
Als die Halbdrow die Badezimmertür öffnete, trat sie hinein und drehte sich um, um ihren Kopf mit geweiteten Augen wieder ins Wohnzimmer zu stecken. »Töte mich jetzt.«
Das erneute Lachen ihrer Freundin drang ins Badezimmer, bis es vom Rauschen des dampfenden Wassers übertönt wurde.