Kapitel 19

C heyenne parkte auf dem Parkplatz für Studierende auf dem Campus der Virginia Commonwealth Universität und schaute auf die Uhr im Armaturenbrett. Fünfzehn Minuten. Kein Wunder, dass Mattie immer so gehetzt aussieht.

Die Halbdrow stellte den Motor ab und hielt inne. »Maleshi. Scheiße, ich weiß einfach nicht, wie ich sie nennen soll.«

Sie stieg aus ihrem Auto aus und warf sich ihren Rucksack über die Schulter, bevor sie den Panamera mit diesem genialen, kleinen Piepen abschloss. Ein junger Mann im braunen Anzug und mit Afrofrisur schloss die Tür seines restaurierten Ford Pinto und lächelte die Gothic-Braut an. »Nettes Auto.«

Cheyenne schaute ihn an und nickte. »Ja, deins auch. Passt zum Siebziger-Outfit.«

»Der Pinto gehört mir. Das ist nur ein Kostüm.« Der junge Mann deutete auf den braunen Anzug.

Die Halbdrow legte den Kopf schief und schenkte ihm ein schiefes Lächeln. »Den Spruch werde ich benutzen.«

»Nein, wirklich. Theaterabteilung.«

»Okay. Hals- und Beinbruch oder so.« Mit einem weiteren Nicken eilte die Halbdrow über den Parkplatz. Das Lachen des jungen Mannes erklang hinter ihr und sie schüttelte den Kopf. Ich habe mich heute auch verkleidet. Mal sehen, wie meine neuen Studenten damit umgehen.

Das brachte sie zum Lachen und sie beschleunigte ihren Schritt, als sie auf den Bürgersteig trat und den Weg über den Campus in Richtung des T. Edward Temple-Gebäudes nahm.

Sie hörte die Gespräche von mindestens einem Dutzend anderer Studierender, vielleicht sogar mehr, bevor sie den mittelgroßen Vorlesungsraum erreichte. Ein weiterer Blick auf ihr Handy ließ sie seufzen, bevor sie die Tür erreichte. Niemand hat bemerkt, dass Professor Bergmann ein oder zwei Minuten zu spät kam. Es ist alles gut.

Niemand bemerkte die Gothic-Tussi, die in den Raum stürmte, auch nicht, als Cheyenne anhielt und die Tür mit einem leisen Klicken hinter sich zuzog. Dann sah ein Mädchen mit halb rasiertem Kopf, das ganz rechts in der ersten Reihe saß, die Halbdrow mit einer hochgezogenen Augenbraue an. Die Halbdrow erwiderte die Geste, als sie nach vorne in den Raum trat. Als würde ich mich selbst als Studentin betrachten. Seltsam .

Die Unterhaltung geriet nicht ins Stocken, auch nicht, als Cheyenne das Pult vorn im Raum erreichte und ihren Rucksack auf den Boden fallen ließ. Sie zählte siebzehn Studentinnen und Studenten auf ihren Plätzen, die meisten lachten und scherzten, zwei oder drei außer dem Mädchen mit dem halb rasierten Kopf lasen in ihren Büchern oder schauten auf ihre Handys.

Ganze zwei Minuten lang wartete die Halbdrow darauf, dass mehr als ein Mädchen sie dort vorne stehen sah. Ich könnte das für den gesamten Zeitraum der Vorlesung tun. Okay, nicht, wenn ich meinen Masterabschluss will.

»In Ordnung.« Cheyenne räusperte sich und die Studierenden, die nicht gerade mit jemand anderem sprachen, sahen sie überrascht an. Ein Junge mit einem lockigen, schwarzen Haarschopf und einem Schnurrbart, der zeigte, dass er noch nicht legal trinken konnte, verschränkte seine Arme und runzelte die Stirn. Die Halbdrow nickte. »Hey.«

Auch das hatte nicht den gewünschten Effekt und Cheyenne dachte: Okay. Die Aufmerksamkeitsspanne wird gemessen.

Sie warf einen Blick auf das Mädchen in der ersten Reihe, das sie mit einem unheimlich vertrauten Gesichtsausdruck beobachtete und zwinkerte ihr zu. Die Augen des Mädchens verengten sich, dann schwang Cheyenne ihren Arm in einem großen Bogen nach hinten und oben, bevor ihre Faust auf das Pult krachte.

Alle Gespräche verstummten augenblicklich. Einige der Studierenden sprangen auf und alle Augen richteten sich auf den vorderen Teil des Vorlesungssaals.

Cheyenne lächelte. »Das ist schon besser.«

»Wer sind Sie?«

»Was, kein ›Guten Morgen‹ zuerst?« Die Halbdrow hob eine Augenbraue zu dem jungen Mann zwei Reihen weiter hinten, der anscheinend dachte, er könne karierte Hemden und geflochtene Hanfketten zurückbringen.

»Äh, guten Morgen?«

»Wo ist Professorin Bergmann?«, fragte ein blondes Mädchen mit geflochtenen Zöpfen, die ihr über die Schultern fielen.

Da ist Bryls menschliche Illusion in zwölf Jahren. Cheyenne zwang sich, nicht zu lachen. »Bergmann hat etwas Größeres und Besseres vor, also müsst ihr mit mir vorlieb nehmen.« Sie breitete die Arme aus und musterte die entgeisterten Gesichter, die sie anstarrten. »Willkommen in meiner Vorlesung.«

»Was meinen Sie mit ›etwas Größeres und Besseres‹?« Das kam von dem großen Jungen, der in der Mitte saß und auch ein Footballspieler hätte sein können.

Die Halbdrow legte den Kopf schief. »Das ist doch selbsterklärend, oder?«

»Aber sie unterrichtet doch noch, oder?«

»Ist ihr etwas zugestoßen?«

»Dann sind Sie also die Vertretung?«

Cheyenne lehnte sich von ihrem Schreibtisch und der Flut von Fragen und lächerlichen Beobachtungen weg und klatschte in die Hände. Das Klatschen schallte durch den Raum und die Stimmen verstummten. Sie verlagerte ihr Gewicht in die Hüfte und verschränkte die Arme. »Okay. Ja. Nein. Auf keinen Fall.« Sie warf den Studentinnen und Studenten, die ihre Fragen geschrien hatten, einen spitzen Blick zu und dachte, dass Ein-Wort-Antworten ausreichen würden.

Immer noch stirnrunzelnd hob der Junge, der versuchte, einen Neunziger-Jahre-Look zu rocken, die Hand. Cheyenne zog daraufhin eine Augenbraue hoch. »Sie haben meine Frage nicht beantwortet.«

»Aha.«

»Wer sind Sie?«

Die Halbdrow rollte die Schultern zurück. »Nennt mich einfach Cheyenne. Das ist gut genug. Damit wir uns alle einig sind, das hier ist Programmieren für Fortgeschrittene 4200 und keine gemütliche Fragerunde. Ich verstehe schon. Es ist die vierte Woche des Semesters und gerade, als ihr dachtet, ihr hättet alles im Griff, bricht eure Welt zusammen, weil Professor Bergmann den Kurs jemand anderem übergeben hat. Ja?«

Zum Glück antwortete darauf niemand.

»Fantastisch. Also, so sieht es aus. Ich unterrichte jetzt diesen Kurs und es ist sehr unwahrscheinlich , dass er so sein wird wie das, was ihr in den letzten drei Wochen hier gemacht habt.« Cheyenne versuchte, ein Lachen zu unterdrücken, was ihr nicht gelang. »Ich werde keine Anwesenheitskontrolle machen, denn es ist mir scheißegal, ob ihr hier seid. Das ist euer Job. Wenn ihr kommt, wollt ihr hier sein, also haben wir das gemeinsam.« Damit habe ich mich gerade selbst widerlegt, nicht wahr? Sie schüttelte den Kopf und zuckte mit den Schultern. »Und wenn ihr nicht zur Vorlesung kommt, solltet ihr besser beweisen können, dass ihr den Stoff beherrscht und die Arbeit erledigen könnt.«

Sie blinzelte und blickte von Gesicht zu Gesicht. Wie auch immer ich das drehe, ich klinge wie eine Heuchlerin. Das wissen sie aber nicht.

»Gibt es noch andere Fragen? Denn heute ist der einzige Tag, an dem ich Sachen beantworte, die nichts mit fortgeschrittener Programmierung zu tun haben.«

»Wie alt sind Sie?« Zwei Jungs, die in der letzten Reihe saßen, grinsten. Als Cheyennes Blick zu ihnen wanderte, beugte sich der Junge links über den langen Tisch, der sich über die Sitze erstreckt und rieb sich die Stirn, um sein Gesicht zu verbergen. Der andere blickte die Halbdrow direkt an und hob einmal die Augenbrauen.

»Das ist süß. Du würdest mit Bravour bestehen, wenn ich deine Dozentin in ›Arschloch-Sein‹ wäre. Natürlich wäre ich auch für diesen Kurs qualifiziert, aber ich hoffe für dich, dass du diesen Kurs auch nur halb so gut schaffst. Wir werden sehen.«

Einige der Studierenden lachten und sahen sich mit großen Augen an. Der Junge, der sich die Stirn rieb, schaute seinen Freund an und konnte sich ebenfalls ein Lachen nicht verkneifen. »Oh, Scheiße, Alter.«

Der Junge, der sich selbst für witzig hielt, lachte wieder kurz, aber diesmal sah er sauer aus. »Du bist sowas von nur die Vertretung.«

Cheyenne drückte ihre Fingerspitzen auf den Schreibtisch und lehnte sich vor. Wow. Ich verhalte mich genau wie Bergmann. »Du hörst dich wirklich sicher an.«

»Das ist doch klar.« Er winkte schnippisch in ihre Richtung. »Ich meine, die Uni wird keine Evanescence-Mitglieder in Vollzeit anstellen.«

Der Freund des Jungen starrte ihn an und schüttelte den Kopf.

»Oh. Ich habe mich für den Tag sogar schick gemacht.« Der schwarze Lippenstift ist immer das Tüpfelchen auf dem i, nicht wahr? Die Halbdrow zog die Mundwinkel nach unten, während sie den Kopf senkte. »Ich schätze, ich habe das Memo über diskriminierende Einstellungen aufgrund der persönlichen Modeauswahl verpasst. Aber das gilt doch nicht für Studierende, oder? Ich meine, du bist ja hier.«

Das Lachen war dieses Mal etwas weniger amüsiert und viel nervöser. Cheyenne sah den Jungen an, der sie anglotzte und versuchte, sich nichts anmerken zu lassen, während sie darauf wartete, dass er ihr einen weiteren Blindgänger zuwarf. Er tat es nicht. Es ist Zeit, einen Gang zurückzuschalten, Cheyenne. Du hast deinen Standpunkt klargemacht .

Mit einem tiefen Atemzug schloss sie kurz die Augen und klopfte mit den Fingerspitzen auf den Schreibtisch. »Hört zu, ihr seid alle hier, um zu lernen. Es ist mir egal, wie ihr ausseht oder wie ihr eure Zeit außerhalb des Kurses verbringt. Das geht mich nichts an. Da wir alle volljährig sind, gehe ich davon aus, dass ihr mit der Tatsache umgehen könnt, dass das in beide Richtungen geht. Wenn ihr nicht mögt, wie ich mich kleide oder wie ich unterrichte, könnt ihr entweder ein Semester durchhalten oder ihr könnt abbrechen und etwas anderes machen. Das ist eure Entscheidung und glaubt mir, ich werde mir deswegen nicht den Kopf zerbrechen. Aber wenn ihr schon mal hier seid, habe ich wohl deutlich gemacht, dass ich euch zur Rede stellen werde, wenn ihr Mist baut, selbst wenn ich ein Arschloch sein muss. Was übrigens nicht meine Priorität ist. Ich bin nur hier, um euch zu zeigen, wie ihr alles schreiben könnt, was in euren Köpfen vorgeht. Sind wir uns da einig?«

Die Studierenden nickten, warfen sich gegenseitig Blicke zu und rutschten auf ihren Stühlen herum. Der Junge, der sich für einen harten Typen hielt, verschränkte die Arme, presste die Lippen aufeinander und blickte sie eindringlich an. Wenigstens passt er auf.

»Okay. Also.« Cheyenne klatschte wieder und wusste nicht, was sie sonst mit ihren Händen tun sollte, also steckte sie sie in ihre Hosentaschen. »Professor Bergmann hat mir einen lächerlich vagen Überblick über das gegeben, was hier bisher passiert ist. Was hat sie als Letztes mit euch besprochen?«

Das Mädchen mit dem halb rasierten Kopf, das die Füße vor sich ausstreckte und einen Knöchel über den anderen legte, hob einen Finger.

Die Halbdrow blinzelte sie an und versuchte, nicht zu lächeln. »Ja.«

»Wie man sich in Datenmainframes von Hochsicherheitssystemen hackt.«

Der Kurs brach in Gelächter aus. Cheyenne lächelte belustigt und zeigte auf das Mädchen, das nur ein oder zwei Jahre jünger sein musste als sie. »Netter Versuch. Die Uni würde mich rausschmeißen, wenn ich hier stünde und das unterrichten würde.«

»Aber du kannst es doch unterrichten, oder?« Das Mädchen warf ihrer neuen Dozentin einen prüfenden Blick zu.

Cheyenne biss die Zähne zusammen und stieß dann ein Lachen aus. »Fangen wir damit an, wo ihr in eurer unendlichen Weisheit als Studierende steht, ja? Von da aus bauen wir auf. Alle Fragen, die über das hinausgehen, was man in einem Programmierkurs für Fortgeschrittene lernt – und da fängt der Spaß erst richtig an – schickt ihr am besten per verschlüsselter E-Mail.«

Das Mädchen, das auf ihrem Platz saß, genau wie Cheyenne in den letzten vier Jahren auf ihrem Platz gesessen hatte, war die einzige Studentin im Raum, die den Scherz zu verstehen schien. »Hast du Sprechstunden?«

»Ha. Nein.« Die Halbdrow zwang sich, das Gespräch an dieser Stelle abzubrechen und hob stattdessen ihren fast leeren Rucksack auf den Tisch, um ihren Laptop herauszuholen. »Ich nehme an, dass jeder seinen eigenen mitgebracht hat. Sonst seid ihr wahrscheinlich im falschen Kurs.«

Als die neuen Studierenden von Cheyenne Summerlin ihre Laptops und Ladekabel herausholten, gab es noch mehr amüsiertes Gekicher. Der Raum füllte sich mit Rascheln und dem Klicken von Plastik und Fingern auf den Tasten. Die Halbdrow zog den Stuhl hinter sich heran, setzte sich und beobachtete junge Erwachsene, die keine Ahnung hatten, wer sie wirklich war, während sie sich darauf vorbereiteten, mehr zu lernen, als sie erwartet hatten.

Ein echtes Déjà-vu und eine ganz neue Wertschätzung für Bergmann. Auch wenn sie nicht echt ist.