Kapitel 20

C heyenne wäre fast aus dem Aufzug gesprungen und den Flur hinunter zu ihrer Wohnung gerannt. Sie dachte nicht einmal daran, ihre Schlüssel herauszuziehen, bevor sie an dem Türknauf drehte und feststellte, dass die Tür nicht verschlossen war. Matthews Lachen hallte durch die Wohnung, als sie die Tür öffnete und sie verdrängte das berauschende Gefühl, das sie durchströmte. Man muss doch den Schein wahren, oder?

»Hey«, rief Ember und fuhr um die Kücheninsel herum. »Wie ist es gelaufen?«

»Ich habe einen Studenten ein Arschloch genannt und eine Nicht-Goth-Version von mir selbst von vor zwei Jahren gefunden.« Die Halbdrow zuckte mit den Schultern und warf ihren Rucksack über die Lehne der Ledercouch. »Ich hatte sowieso keine Erwartungen, also ist es nicht so schlimm.«

»Du … hast einen Jugendlichen ein Arschloch genannt.« Die Fae biss sich auf die Unterlippe und runzelte die Stirn. »Echt jetzt?«

»Er hat mich gefragt, wie alt ich bin.«

»Hm.«

»Ja, was nicht automatisch heißt, dass er ein Arschloch ist, aber er hat es nur gesagt, um mich zu ärgern. Oder vielleicht, um mit mir zu flirten, ich weiß es nicht. Dann wurde er persönlich und meinte, dass Unis keine Goths einstellen, also habe ich mich im recht gefühlt.«

Ember schnaubte und warf ihrer Freundin einen Seitenblick zu, während Cheyenne sich gegen die Rückenlehne der Couch lehnte und die Arme verschränkte. »Aber sie haben dich nicht eingestellt.«

Die Halbdrow schüttelte langsam den Kopf und beugte sich zu der Fae. »Aber das wissen sie nicht.«

»Wofür wurdest du nicht eingestellt?« Matthew wischte sich die Hände mit einem Papierhandtuch ab und warf es in den neuen Mülleimer an der Seite der Kochinsel.

Cheyenne betrachtete den Mülleimer und fing dann den Blick ihres neuen Nachbarn auf. »Was geht, Nachbar

Der Kerl kicherte, als er um die Kücheninsel herumging. Entweder bemerkte er den Sarkasmus der Halbdrow nicht oder er war wirklich gut darin, ihn zu ignorieren.

»Sie hat heute ihre erste Vorlesung gehalten«, antwortete Ember für sie.

Cheyenne warf ihrer Freundin einen warnenden Blick zu. Ember wich ihrem Blick aus, aber Matthew war immer noch hinter ihr, also murmelte sie: »Sei nett.«

Die Halbdrow verdrehte die Augen.

»Hey, cool.« Matthew blieb neben Ember stehen und steckte die Hände in die Taschen seiner Jeans. »Bekommen Studenten normalerweise nicht wenigstens ein bisschen Geld fürs Unterrichten?«

»Für ein volles Kurspensum wahrscheinlich.« Cheyenne zuckte mit den Schultern.

»Aber sie bezahlen dich nicht.« Ihr großer Nachbar lächelte und verengte seine Augen.

»Ich wusste nicht, dass du dich für meine akademischen Aktivitäten interessierst, Mann.«

Er lachte und steckte achselzuckend die Hände in die Taschen. »Ich bin nur neugierig.«

Ja, aber er wird nicht den Teil hinzufügen, in dem es ihn nichts angeht, oder?

Cheyenne zog eine Augenbraue hoch und breitete ihre Arme aus. »Ja. Ich unterrichte einen Kurs umsonst. Die VCU gibt mir meinen Master in Computerwissenschaften, nur weil ich einen Kurs unterrichte, also eigentlich nicht umsonst, aber es ist kein Praktikum oder Freiwilligenarbeit.«

»Kein Scherz.« Matthews Augenbrauen zogen sich vor Neugierde zusammen. »Das ist alles, was du für deinen Abschluss tun musst?«

So viele Fragen. »Ich habe dir alles gesagt, Mann. Viereinhalb Stunden pro Woche für drei Semester und dann werde ich meinen lächerlichen Abschluss erhalten.« Die Halbdrow schnalzte mit der Zunge und wartete auf weitere Fragen, die ihr Privatleben betrafen.

»Hm. Das ist toll.«

»Es ist ein Kompromiss.«

Matthew lachte. »Welchen Kurs unterrichtest du denn?«

»Fortgeschrittene Programmierung 4200.«

»Wirklich?«

»Du klingst überrascht, Matthew. Du hast doch gehört, dass ich jemanden ein Arschloch genannt habe, weil er dachte, eine Gothic-Braut könne keinen Masterkurs unterrichten, oder?«

»Ja, ich habe dich gehört.« Der Mann warf Ember einen kurzen Blick zu. Die Fae schaute mit großen Augen auf den Boden vor sich und presste die Lippen so fest aufeinander, dass sie fast verschwanden, während sie versuchte, nicht zu lachen. »Und ich bin ein bisschen überrascht.«

»Aha.«

»Das hat aber nichts damit zu tun, dass du eine Goth bist. Ich hätte dich nur nicht für einen Computerfreak gehalten.«

Die Halbdrow schmunzelte und deutete mit einem Nicken in Richtung des Mini-Lofts. »Die riesige Anlage da oben mit all den Hightechgeräten hat mich nicht verraten?«

Matthew blickte neugierig auf die Hochebene über dem Badezimmer. »Ember hat mir gesagt, dass ich da nicht hochgehen soll.«

»Oh.« Cheyenne kicherte. »Nun, Ember hatte recht. Jetzt weißt du, was ich mache.«

»Ich habe nur …« Er lachte verlegen und zuckte wieder mit den Schultern. »Ich hatte das Bild im Kopf, dass du einen Master in Frauenstudien oder so machst.«

Cheyenne und Ember lachten laut vor Überraschung.

Ihr Nachbar schaute langsam zwischen ihnen hin und her, sein Lächeln wurde breiter. »Und jetzt muss ich ganz von vorne anfangen und es durch Computer und Software ersetzen und … ehrlich gesagt, ich weiß nicht, was da noch alles drin ist.«

Die Nase der Halbdrow rümpfte sich, als sie versuchte, ihn anzulächeln. »Ich bin mir nicht sicher, ob ich es gut finde, dass du ein Bild von mir im Kopf hast.«

»Du weißt, was ich meine.« Er seufzte und schüttelte den Kopf. »Cheyenne kümmert sich um … all die Dinge, die zu deinen verschiedenen Kompetenzen gehören.«

»Wir müssen das nicht jetzt besprechen. Oder jemals, wirklich. Das geht über die Köpfe der meisten Leute hinweg.«

»Ja, ich glaube nicht, dass ich eine Ausnahme bin.« Matthew kicherte. »Ich meine, ich habe etwas mit Cybersicherheit zu tun …«

»Du hast was ?« Cheyenne hob ihr Kinn und sah ihn eindringlich von der Seite an. Mach dich nicht zu sehr über ihn lustig . Du könntest die Grenze überschreiten.

»Nicht so. Ich bin auf der Verkaufsseite der Dinge. Networking, Kundenbetreuung. So etwas in der Art.«

Ember schnaubte verärgert und warf ihrer Freundin einen spitzen Blick zu. »Oder er könnte einfach den richtigen Titel verwenden und sagen, dass er zwei Cybersecurity-Firmen besitzt.«

»Hey, nichts, was ich gesagt habe, war technisch gesehen falsch.« Matthew sah lächelnd auf die Fae herab und schüttelte den Kopf.

Die Halbdrow legte ihre Hände hinter sich auf die Lehne des Sofas. »Nur so zum Spaß, hm?«

»Ich erzähle den Leuten nichts, es sei denn, ich gebe ihnen meine Visitenkarte.«

»So etwas brauche ich nicht.« Cheyenne schnaubte. »Wenn ich dich finden will, muss ich nur meine Wohnung betreten.«

»Woah!« Ember schaute nach unten.

Die Halbdrow warf einen Blick auf ihre Freundin und ihren übermäßig freundlichen Nachbarn und verdrehte die Augen. »Tut mir leid. Ich glaube, ich bin gerade im Modus, Studierende mit bissigem Sarkasmus zum Schweigen zu bringen.«

Das ist sowieso mein bevorzugter M odus.

Die Fae sah Cheyenne mit einem resignierten Gesichtsausdruck an, der dasselbe aussagte.

»Das kann ich mir nur vorstellen. Ich weiß, dass ich nicht in der Lage wäre, mich vor einen Raum voller Studierender zu stellen und zu versuchen, ihnen etwas beizubringen, also nimm es mir nicht übel.« Matthew lächelte die Halbdrow an und sah aus, als wäre die ganze Sache wirklich in Ordnung.

»In Ordnung.« Cheyenne nickte und zog ihr Handy aus der Gesäßtasche. »Hey, um wie viel Uhr war deine Physiotherapie?«

»Oh. Zwei Uhr.«

»Es ist kurz nach eins. Sollen wir los?«

Ember nickte. »Ja. Ja, ich bin bereit, die Physio zu rocken.«

»Kann ich dir irgendwie helfen?« Matthew fragte nur Ember. Er schien die bissig-sarkastische Gothicfrau, die ihm gegenüberstand, vergessen zu haben.

»Ich glaube nicht.«

»Wir haben es verstanden, Matthew. Danke für das Angebot.«

»Ich bin mehr als glücklich, wenn ich mitkommen kann. Ich helfe mit dem Stuhl. Holt euch etwas zu essen, während ihr dort seid. Wir haben gerade über das Mittagessen gesprochen.«

»Das ist wirklich großartig von dir.« Cheyenne schob sich von der Rückenlehne der Couch weg. Dann legte sie ihrem Nachbarn die Hand auf den Rücken – ihm auf die Schulter zu schlagen wäre lächerlich gewesen, da er mindestens dreißig Zentimeter größer war als sie – und führte ihn zur Haustür. »Im Moment ist das eine Sache zwischen Mitbewohnerinnen, weißt du? Und wir müssen uns fertig machen, also danke, dass du vorbeigekommen bist. Wir sehen uns später, ja?«

»Ja. Wenn ihr irgendetwas braucht, Leute, ich bin gleich gegenüber.«

»Oh, das wissen wir. Vielen Dank, Nachbar.« Cheyenne öffnete die Tür und nahm endlich ihre Hand von seinem Rücken. »Ich wünsche dir einen tollen Montag.«

Matthew lächelte und trat in den Flur. »Ja, dir auch. Oh, hey. Wie hat dir der Kaffee geschmeckt?«

Die Halbdrow blinzelte. »Es ist zum Sterben gut.«

»Ha. Der war gut. Ich dachte mir schon, dass er dir gefällt.«

»Guter Geschmack beim Kaffee, Mann.« Sie wollte die Tür schließen, aber Matthew drehte sich und stieß sie wieder auf. »Ernsthaft?«

»Tut mir leid.« Er steckte seinen Kopf durch die halb geöffnete Tür und lächelte das Fae-Mädchen an, das die ganze Sache beobachtete. »Tschüss, Ember.«

»Ja, bis dann.«

»Ja. Okay.« Matthew zog sich zurück, nickte Cheyenne kurz zu und ging dann den Meter durch den Flur in seine Wohnung.

Cheyenne schloss die Tür und verriegelte sie.

»Willst du mich mit diesem Kerl verarschen

Ember warf ihren Kopf zurück und lachte. »Er ist intensiv.«

»Sowas von intensiv.« Die Halbdrow verzog das Gesicht und schloss die Augen. »Ich kann nicht glauben, dass du gestern den ganzen Tag mit ihm verbracht hast und ihn heute Morgen trotzdem zurückkommen lässt.«

»Komm schon, Cheyenne. Weißt du, wie schwer es ist, jemandem zu sagen: ›Hey, tut mir leid, ich weiß, dass wir gegenüber voneinander wohnen, aber ich möchte, dass du vierundzwanzig Stunden lang nicht zu mir kommst?‹«

»Das hörte sich nicht so an, als ob es sehr schwer wäre.«

Ember verdrehte die Augen. »Ja, aber ich habe kein Problem mit dir.«

»Hast du ein Problem mit Matthew? Denn darum kann ich mich kümmern.«

Die Fae sah ihre Freundin an. »Bitte nicht.«

Sie brachen in Gelächter aus. »Was dann? Willst du dich einfach von ihm verrückt machen lassen? Genau das wird übrigens passieren. Er ist ein Typ, der nicht locker lässt, bis ihm jemand ein klares Nein sagt. Selbst dann braucht es wahrscheinlich drei oder vier Mal, bis er es kapiert hat.«

Ember verschränkte ihre Arme und blinzelte. »Du hast nicht mehr als zehn Minuten mit ihm in einem Raum verbracht.«

»Das muss ich nicht, Em. Er ist eine Kopie der Hälfte der Leute, die früher bei meiner Mutter aufgetaucht sind und sie um Rat, Unterstützung oder ein gutes Wort bei wem auch immer gebeten haben. Sie klopfen immer noch an ihre Tür und ich habe die meiste Zeit meines Lebens damit verbracht, ihnen dabei zuzusehen. Wenn Matthew Thomas sich mit Politik beschäftigt, wette ich mit dir, dass er mindestens eine Person kennt, die schon mal bei meiner Mutter war.«

»Das ist verrückt.«

»Ja. Aber hey, wenn du jemanden brauchst, der ehrlich zu dem Typen ist, sag mir Bescheid. Ich habe auch die meiste Zeit meines Lebens damit verbracht, Bianca Summerlin dabei zuzusehen, wie sie anmutig ein Machtwort gesprochen hat, also bin ich mir sicher, dass ich das auch für dich regeln kann.«

»Das hast du vor zwei Minuten ziemlich gut gemacht.«

»Das war gar nichts.« Cheyenne schmunzelte und ihre Fae-Freundin seufzte.

»Mir tut wirklich jeder leid, der sich mit dir anlegt, Halbdrow.«

»Meine schlechte Seite macht etwa neunundneunzig Prozent der ganzen Sache aus.«

Sie lachten und Ember fuhr sich mit der Hand durch die Haare. »Ich bin in dem einen Prozent von Cheyenne Summerlin. Wir sollten jetzt aber wirklich los.«

»Stimmt. Was brauchst du?«

»Ich erledige das schon.« Ember rollte schnell durch die Küche und in ihr Schlafzimmer.

Cheyenne ging zum Kühlschrank und holte die zwei übrig gebliebenen Pizzastücke heraus, die in Alufolie eingewickelt waren. Als Ember mit ihrer Handtasche auf dem Schoß wieder herauskam, hatte sie bereits eines davon gegessen.

»Wow. Mein ganzes Weltbild darüber, wie schnell man ein Stück Pizza verschlingen kann, ist jetzt offiziell erschüttert.«

»Ich habe viele Talente«, murmelte die Halbdrow mit vollem Mund.

»Offensichtlich.« Die Fae beäugte ihre Freundin und die kalte Pizza, die Cheyenne in ihrer Hand hielt. Dann nickte sie in Richtung Eingangstür. »Lass uns gehen.«

»Bin direkt hinter dir.« Sie warf die zerknüllte Folie in den Mülleimer, umrundete die Kücheninsel und rannte zur Tür. Sie lehnte sich gegen sie, um durch das Guckloch zu schauen und entriegelte sie dann. »Okay, die Luft ist rein.«

»Komm schon. Lass ihn in Ruhe, ja?«

»Was, so wie er di ch in Ruhe lässt?« Cheyenne lachte. »Wir kommen zu spät, wenn er seine Tür öffnet und uns auch nur für eine Sekunde sieht.«

Ember schüttelte den Kopf. »Dann sollten wir uns beeilen.«

»Ich erledige das, Em.« Als sie die Tür aufzog, drehte die Halbdrow das Schloss am Griff und hielt die Tür auf, damit ihre Mitbewohnerin in den Flur rollen konnte. Dann zog sie die Tür zu und griff nach den Griffen an der Rückseite des Rollstuhls ihrer Freundin. »Halt dich fest.«

»Was machst du …?«

Es war keine Drowgeschwindigkeit, aber es war so schnell, wie Cheyenne es schaffen konnte, ohne den Anhänger wieder abzureißen und Ember einen Herzinfarkt zu verpassen. Ember kreischte und lachte, als sie den Flur hinunterstürmten, dann drückte die Halbdrow immer wieder auf den Rufknopf des Aufzugs und starrte auf Matthew Thomas’ Wohnungstür am anderen Ende des Flurs. »Komm schon, komm schon!«

»Oh, mein Gott. Er ist nicht der Boogeyman.«

»Wirklich? Denn er taucht immer zu den schlechtesten Zeiten auf.«

Endlich öffneten sich die Türen und Cheyenne drehte den Stuhl herum und zog ihre Freundin rückwärts in den Aufzug. Ember drückte auf den Knopf für den ersten Stock. Kurz, bevor sich die Türen vor ihnen schlossen, hörte die Halbdrow, wie die Haustür ihres dilettierenden Nachbarn aufschwang und die beiden Frauen brachen wieder in Gelächter aus.