Kapitel 21

A ls Cheyenne Ember zur Eingangstür der Physiotherapieklinik in Midlothian rollte, zog die Fae ihr Handy heraus und prüfte die Uhrzeit. »Hey, sieh dir das an. Ich hätte nicht gedacht, dass wir genug Zeit haben, aber wir sind zehn Minuten zu früh dran.«

»Ich habe doch gesagt, ich bin schnell.«

»Du wirst immer besser darin, mir dabei zu helfen, mich in und aus diesem Stuhl zu hieven.«

Die automatischen Türen öffneten sich und die Halbdrow schob ihre Freundin hinein. »Apropos in und aus dem Stuhl …«

»Mhm.«

»Ich konnte nicht übersehen, dass du schon aufgestanden warst, als ich aus meinem Zimmer kam. Du hast doch nicht Matthew …?«

»Okay, hör sofort auf damit. Erstens: Nein. Nein. Auf gar keinen Fall. Einfach …« Ember lachte und schüttelte ihren Kopf.

Die Patienten, die in der Lobby saßen, sahen kurz auf, bevor sie sich langsam wieder ihren Zeitschriften und Handys zuwandten. Sie starren nicht einmal die Gothic-Tussi an. Hm.

»Der Check-in ist da drüben.« Ember zeigte auf eines der vielen Fenster, die entlang des Tresens im hinteren Bereich angeordnet waren und sie gingen in diese Richtung.

»Und zweitens?«, hakte die Halbdrow nach.

»Was? Oh. Zweitens habe ich etwas, das mir hilft, das selbst zu tun. Du bist aus dem Schneider.«

»Oh.« Cheyenne verlangsamte das Tempo und stellte sich hinter einer Frau an, die sich auf Krücken stützte und einen Gipsfuß hatte. »Ich habe es gar nicht so gesehen, dass ich im Schneider bin.«

»Ich muss dich leider enttäuschen.«

»Bitte. Ich bin nicht enttäuscht. Ich wusste nur nicht, wie das klappen würde. Ganz ehrlich, Em, ich fühle mich schlecht, weil ich dich hängen gelassen habe. Weißt du, wenn du mich gebraucht hättest …«

»Hey, ich habe dir gesagt, dass ich dich anrufe, wenn ich Hilfe brauche, okay? Es gibt eine Menge Dinge, die ich noch tun kann, zum Beispiel herausfinden, wie ich mit weniger Leuten auskommen kann.«

Die Halbdrow nickte. »Na gut. Betrachte mich als schuldlos.« Sie lächelte, als Ember schnaubte und strich sich die Haare aus den Augen. »Also, was hast du besorgt?«

»Das zeige ich dir später. Wir sind dran.« Ember nickte in Richtung des nächsten Check-in-Fensters und Cheyenne schob sie nach vorne, um den Stein ins Rollen zu bringen.

»Ember Gaderow. Ich habe um zwei Uhr einen Termin zur Physiotherapie bei Doktor Boseley.«

»Ember. Ja.« Die Frau mittleren Alters hinter dem Tresen mit dem dicken, braunen Haarschopf auf dem Kopf lächelte freundlich. »Wir sind so froh, dass Sie hier sind.« Sie tippte auf ihrer Tastatur und nickte. »Es sieht so aus, als hätte Doktor Andrews alle Ihre Unterlagen und … jede einzelne Information, die wir für Ihre Akte brauchen, hierher geschickt. Aha. Er wollte Sie wohl so schnell wie möglich überweisen.«

Ember drehte sich über ihre Schulter und warf Cheyenne einen fragenden Blick zu. Die Halbdrow hob die Augenbrauen und zuckte mit den Schultern. Ertappt.

Die Fae drehte sich wieder zu der Frau hinter dem Tresen um. »Ist das nicht normal?«

»Oh, äh, der Prozess dauert bei neuen Patienten in dieser Klinik normalerweise ein bisschen länger. Aber wenn sich Ihre persönlichen Daten in den letzten Tagen nicht geändert haben, können wir loslegen.«

»Ich bin ehrlich gesagt am Freitag umgezogen.«

»Wirklich ?« Die Frau warf einen Blick auf Cheyenne und sofort wieder auf die neue Patientin. »Sie haben sich ganz schön viel vorgenommen, was?«

»Nicht allein, keine Sorge.«

»Hmm.« Mit einem angespannten Lächeln holte die Frau Embers Akte hervor und nickte. »Ich trage die Adresse gleich ein. Nur zu.«

Während Ember die Adresse der neuen Wohnung übermittelte und alles andere überprüfte, drehte sich Cheyenne um und warf einen neugierigen Blick in die Klinik. Sauber. Ruhig. Unauffällig. Warum kribbelt es dann in meinem Nacken?

»Cheyenne?«

»Was?«

Ember lächelte verwirrt und deutete hinter sich zu den Stühlen, die auf der anderen Seite der Lobby aufgestellt waren. »Wir können jetzt gehen.«

»Richtig. Tut mir leid.« Sie schob ihre Freundin von der Theke weg und ging in Richtung des Wartebereichs.

»Okay, lass los.« Die Fae griff nach oben, um die Hände ihrer Freundin von den Griffen zu lösen und Cheyenne ließ sie mit einem Kichern los. Ember rollte sich in den weitgehend leeren Warteraum und blieb neben dem nächsten Stuhl stehen. »Geht es dir gut?«

Cheyenne schaute sich noch einmal in der Lobby um und verengte ihre Augen. »Mir geht es gut.«

»Genau. Weil du vorhin weggetreten warst und jetzt nach etwas in einer Physioklinik suchst. Willst du mich aufklären?«

Die Halbdrow drehte sich zu ihrer Freundin um und lächelte sie mit geschlossenen Lippen und unschuldigen Augen an. »Kann man nicht einfach die medizinische Einrichtung seiner besten Freundin überprüfen?«

Ember schnaubte. »Nicht, wenn es so aussieht, als ob du denkst, dass du beobachtet wirst.«

Bemerkt sie das auch? »Es ist alles gut, Em. Ich will nur sichergehen, dass du am richtigen Ort bist, verstehst du?« Cheyenne ging zu dem Stuhl auf der anderen Seite ihrer Freundin und setzte sich.

Die Fae runzelte die Stirn und musterte die Halbdrow mit einem prüfenden, intensiven Blick. »Okay, der einzige Grund, warum ich dir nicht sage, dass du die Entscheidung mir überlassen sollst, ist, dass du …« Ember beugte sich zu Cheyenne und senkte ihre Stimme. »Dass du für all das hier bezahlst. Versuch gar nicht erst, es vor mir zu leugnen. Wir wissen beide, was los ist.«

Schmunzelnd legte die Halbdrow einen ihrer schwarzen Vans auf ihr Knie und schlang ihren Arm über die Lehnen der Stühle, die neben ihr an der Wand standen.

»Wenn du versuchst, diesen Ort auszukundschaften, weil du denkst, dass es nicht der beste Ort für mich ist, dann ist das in Ordnung und ich weiß das wirklich zu schätzen. Ich werde nicht die Hand beißen, die meine Rechnungen für die Physiotherapie bezahlt.«

Cheyenne lachte und erwiderte nichts.

»Aber im Ernst.« Ember lehnte sich in ihrem Stuhl zurück und legte den Kopf schief. »Wenn da noch etwas anderes vor sich geht, das nichts damit zu tun hat , dass ich irgendwann aus diesem Stuhl aufstehe, solltest du es mir besser sagen.«

»Nichts ist los, Em. Ich verspreche es.« Das Kribbeln im Nacken der Halbdrow wurde wieder stärker und wanderte langsam über ihre Schultern. Nicht meine Drow ma gie. Es steht niemand hinter mir. Was zur Hölle?

»Versprichst du das?« Ember hob eine Augenbraue und Cheyenne begegnete dem Blick ihrer Freundin und hielt ihn fest.

Schau nicht weg. »Ich verspreche es. Ich schiebe das jetzt beiseite und verspreche dir auch, dass ich dir von allem anderen erzähle, was passiert, egal ob du dabei bist oder nicht. So, wie ich es bisher getan habe.«

»Ja, okay.« Ein skeptisches Lächeln zeichnete sich auf den Lippen der Fae ab. »Dann hör auf, wie eine Amateurdetektivin auszusehen, die zum ersten Mal verdeckt ermittelt, hm?«

»Weißt du was? Ich schleiche schon so lange, wie ich denken kann, durch die Gegend, ohne dass mich jemand sieht. Das ist keine Amateurdetektivarbeit, okay?« Die Halbdrow lachte und versuchte, das ständige Kribbeln in ihrem Nacken und ihren Schultern zu ignorieren. »Ehrlich gesagt, Frau Gaderow, bin ich ein bisschen beleidigt von Ihren Vermutungen.«

»Aha. Heben Sie sich die Bianca Summerlin-Nummer für Ihre Studierenden auf, Frau Professor.«

»Du gehst zu weit.«

»Vielleicht.«

Einen Moment lang saßen sie so da und die Halbdrow ließ ihren Blick zurück in die Lobby und zu den Patienten schweifen, die sich zwischen den Krankenschwestern und Assistenten tummelten, die durch die Türen ein und aus gingen.

»Ember?«

Beide magischen Wesen drehten sich zu der offenen Tür zu ihrer Linken und Ember hob ihre Hand. »Ja.« Dann drehte sie sich zu der Krankenschwester um, die mit einem Klemmbrett in der Hand dastand und sah über ihre Schulter zu Cheyenne. »Komm schon.«

»Was?« Die Halbdrow setzte sich aufrecht auf den Stuhl. »Nein, ist schon gut, Em. Ich muss nicht mit dir gehen.«

»Das weiß ich. Beweg deinen Arsch aus dem Stuhl und komm mit mir.«

Cheyenne hielt sich an der Stuhlkante fest und sah die Frau an. »Ist das okay?«

Die Frau zuckte mit den Schultern und schaute Ember an. »Wenn sie das will, kein Problem.«

»Also komm mit.« Die Fae deutete mit dem Kopf in Richtung Tür.

Die Halbdrow sprang auf, rieb sich die Hände an den Hosenbeinen und ging durch die Tür, während die Frau sie aufhielt. »Danke.«

»Natürlich. Hier entlang, Ember. Mein Name ist Sarah. Ich bin die Assistentin von Doktor Boseley.«

»Hallo. Das ist meine beste Freundin, Cheyenne.«

Die Halbdrow nickte mit einem schwachen Lächeln. »Moralische Unterstützung.«

Sarah lächelte breit. »Das ist toll. Jeder braucht ab und zu jemanden zur Unterstützung, oder? Dafür sind wir ja auch da. Doktor Boseley hat bereits einen hervorragenden Behandlungsplan für Sie erstellt. Sie wird ihn zuerst mit Ihnen durchgehen. Sprechen Sie darüber, wie es Ihnen momentan geht und was Sie in den nächsten sechs, zwölf oder achtzehn Monaten erreichen möchten. Dann wird sie Ihnen die verschiedenen Phasen Ihres individuellen Physiotherapieplans erklären und Sie können heute damit anfangen, wenn Sie bereit sind.«

»Ich war schon bereit, bevor ich das Krankenhaus verlassen habe.«

Sarah öffnete eine Glastür, die zu einem Raum führte, der wie ein Kraftraum in einem Fitnessstudio aussah, nur mit Geräten, die Cheyenne nicht kannte und einem Haufen anderer unbekannter Geräte. »Das ist das ›Fitnessstudio‹, in dem Sie mit Doktor Boseley hart arbeiten werden. Sie bekommen auch eine Liste mit Übungen, die Sie zwischen den Sitzungen zu Hause machen können. Sehen Sie sich ruhig um. Sie sollte in ein paar Minuten hier sein.«

»Toll. Danke.« Ember lächelte die Assistentin freundlich an und Sarah erwiderte die Geste an die beiden magischen Wesen, bevor sie die Tür wieder öffnete.

Cheyenne spähte durch die Glaswand des Raumes und beobachtete die Frau, die den Gang hinunter zu einem anderen Büro oder Untersuchungsraum ging. »Scheint ein anständiger Ort zu sein, oder?«

»Es sieht aus wie eine Turnhalle.«

Die Halbdrow kicherte. »Ja, den gleichen Gedanken hatte ich auch. Aber sieh mal, du hast diesen riesigen Physio-Spielplatz ganz für dich allein!«

»Haha.« Ember zog ein Haargummi von ihrem Handgelenk und band ihr Haar zu einem hohen Pferdeschwanz. »Ist es komisch, dass ich ein bisschen nervös bin?«

»Überhaupt nicht.« Cheyenne warf noch einmal einen prüfenden Blick in den Raum und auf die Ausrüstung. »Drei Tage pro Woche hier und du bist im Nu wieder auf den Beinen.«

»Das ist der Plan. Es ist mir egal, wie niedrig die vollständige Erholungsrate ist.«

»Du schaffst das, Em.« Die Halbdrow schaute nach unten und sah, wie sich die Hände ihrer Freundin um die Armlehne des Stuhls krallten. »Oh, mein Gott. Es hat mich gerade getroffen.«

»Was?«

»Das sind deine Prüfungen.«

Ember lehnte sich in ihrem Stuhl zur Seite und lachte laut. »So ist das nicht.«

»Okay, ja, du bist keine …« Cheyenne blickte durch die Glaswände und senkte ihre Stimme. »Du bist keine Drow und du hast keine blöde Kiste, die sich dreht und fliegt und Zaubersprüche auf dich wirft.« Das Fae-Mädchen schnaubte. »Aber das ist doch dein großes Ding, oder? Du kommst hierher und hast Doktor Boseley, die dir dabei hilft. Ich habe die Frau noch nicht einmal kennengelernt und ich bin mir ziemlich sicher, dass ich sie Corian jederzeit vorziehen würde.«

»Oh, verdammt.«

»Ich meine es ernst.« Die Halbdrow lachte. »Du machst die Arbeit, du hast ein Ziel, du steigst auf und wenn du deine Prüfungen abschließt, bekommst du einen supercoolen Stock von deiner besten Freundin.«

Ember stöhnte und legte den Kopf schief. »Wenn ich jemand anderes wäre, Cheyenne, wäre ich vielleicht beleidigt über diesen Vergleich.«

»Hey, wenn du jemand anderes wärst, würdest du mich für verrückt halten, weil ich von fliegenden Kisten, Zaubersprüchen und Drowprüfungen rede.«

Sie lachten beide. »Ich weiß es zu schätzen, dass du versuchst, dafür zu sorgen, dass mir das alles nicht so unheimlich ist.«

»Funktioniert es?«

»Vielleicht ein bisschen.«

»Du willst mir sagen, dass es funktioniert?« Die Halbdrow zeigte auf ihre Freundin und lachte. »Ich werde weitermachen.«

»Völlig unnötig.«

»Aber es funktioniert doch!«

Ember schlug mit dem Handrücken auf das Handgelenk der Halbdrow. »Hör auf damit.«

»Oh, ein weiterer Punkt für Embers Prüfungen. Du musst nicht herumlaufen und Blitzen ausweichen. Das ist ein Vorteil.«

»Hör doch auf damit.«

Die Tür öffnete sich und eine Frau mit dichten, leuchtend roten Locken, die ihr bis knapp unter das Kinn fielen, trat zu ihnen herein. »Hallo, Ember. Ich bin Doktor Boseley.«

»Hey.« Die Fae streckte den Arm aus, um der lächelnden Frau die Hand zu schütteln.

»Schön, Sie kennenzulernen. Wie geht es Ihnen heute?«

»Wir können loslegen.« Ember stieß ein nervöses Lachen aus.

»Gut. Wir müssen noch ein paar Dinge durchgehen, dann können wir anfangen.«

Cheyenne bemerkte nicht, dass sie beim Anblick der Yogahose und des langärmeligen Thermoshirts der Ärztin die Stirn runzelte, bis Doktor Boseley der Halbdrow ihre Hand unter die Nase hielt.

»Doktor Boseley.«

Schnell blinzelnd nahm Cheyenne Boseleys Hand und schüttelte sie kräftig. »Cheyenne.«

»Freut mich, auch Sie kennenzulernen. Ich lerne gerne die Freunde und Familienangehörigen meiner Patienten kennen. So sind wir alle im selben Team, wissen Sie?«

»Ja, sie war unglaublich hilfsbereit.« Ember warf der Halbdrow einen kurzen Blick zu und zuckte mit den Schultern.

»Gut. Wenn Sie also bereit sind, lassen Sie uns darüber reden, was bei Ihnen gerade los ist. Sie sind erst letzten Donnerstag aus dem VCU Medical Center entlassen worden, richtig?«

Ember nickte. »Ja.«

»Tut mir leid. Entschuldigen Sie mich.« Cheyenne wies mit dem Daumen auf die Fenster und den dahinter liegenden Flur. »Wo ist die Toilette?«

»Oh, ja. Den Flur zu Ihrer Linken hinunter, dann kommen Sie an dem anderen Flur am anderen Ende des Raumes vorbei und es ist die erste Tür auf der linken Seite.«

»Toll. Danke. Geht es dir gut?«

Ember sah die Halbdrow an und nickte langsam. »Ja. Dir auch?«

»Ja, sobald ich das Bad gefunden habe. Tut mir leid.«

Die Fae zuckte abweisend mit den Schultern und Cheyenne öffnete die Glastür, um in den Flur zu treten.

»Kommen Sie einfach rein, wenn Sie zurück sind«, rief Doktor Boseley ihr nach.

Die Halbdrow gab den beiden einen Daumen hoch und ließ die Tür leise hinter sich zufallen.