Kapitel 22

S ie ging den Flur hinunter, dorthin, wo das Badezimmer sein sollte und versuchte, sich nicht bei jeder offenen Tür oder jedem Fenster, an dem sie vorbeikam, auffällig umzuschauen. Was zum Teufel ist das für ein Kribbeln?

Sie rieb sich den Nacken und die Schulter, aber das half natürlich nichts. Du kannst nicht einfach hier draußen stehen und die Leute anstarren. Lass es wenigstens echt aussehen.

Als sie den Flur erreichte, der am anderen Ende der Turnhalle entlanglief, wurde sie langsamer, um so viel wie möglich davon zu sehen. Nur eine andere Krankenschwester ging schnell auf sie zu, lächelte und öffnete eine Tür, bevor sie im nächsten Raum verschwand. Irgendetwas ist falsch.

Cheyenne trat ins Badezimmer und schaltete das Licht ein, bevor sie die Tür abschloss. Sie zog den unteren Teil ihrer schwarzen Cordhose hoch und beugte sich vor, um ihren Knöchel zu untersuchen. »Da ist alles in Ordnung. Sie hätten mir doch von den Nebenwirkungen von Dunkelzunge erzählt, oder?«

Die Halbdrow drehte sich um und betrachtete ihr Spiegelbild. Mit einem tiefen Atemzug starrte sie in ihre Augen und versuchte, das Kribbeln auf ihrem Rücken zu vertreiben. Das Gefühl wurde stärker und sie klopfte sich reflexartig auf die Schulter. »Igitt. Das fühlt sich an wie … Käfer überall auf mir.«

Etwas blitzte im Spiegel auf und sie schaute wieder hoch, um die Reflexion des Herz der Mitternacht -Anhängers zu sehen, der einen weiteren sanften, silbernen Impuls abgab. »Oh, komm schon.«

Cheyenne verdrehte die Augen, nahm den Anhänger in die Hand und betrachtete ihn mit gesenktem Kopf. Das Herz hatte sich nicht verändert, aber wenn sie sich genau konzentrierte, sah es so aus, als würden sich die kleinen, silbernen Schlieren in dem schwarzen Stein bewegen. Ich kann ihn nicht abnehmen. Vielleicht ist es ja gar nicht der blöde Anhänger.

Sie sah wieder zu ihrem Spiegelbild auf und schüttelte den Kopf. »Komm wieder zu dir, Cheyenne. Achte auf alles. Werd nicht paranoid. Gut. Gutes Gespräch.«

Als sie die Tür wieder öffnete, schaltete sie das Licht aus und trat erneut in den Flur. Diesmal achtete sie auf die Anspannung in ihrem Gesicht und zwang sich, sich zu entspannen. Die Halbdrow steckte ihre Hände in die Taschen und ging gemächlich den Flur entlang. Ich schaue mich nur um, oder? Es wird niemanden interessieren.

Als sie auf halbem Weg zur anderen Seite der Turnhalle war, blieb sie stehen und lehnte sich an die Wand zwischen zwei geschlossenen Türen. Auf der anderen Seite der Glaswände kniete Doktor Boseley vor Ember. Sie hob einen der Füße der Fae mit beiden Händen an und ließ ihn langsam wieder sinken, bevor sie aufblickte, um ihrer Patientin eine Frage zu stellen. Was auch immer Ember sagte, es brachte die rothaarige Ärztin zum Lachen und Nicken.

Gut. Gute Klinik. Gute Ärztin. Wenigstens wird sich jetzt um Ember gekümmert.

Eine der Türen neben ihr öffnete sich und ein Mann, der etwas größer war als Cheyenne mit ihren 1,60 Meter, trat neben ihr in den Flur. Er trug eine Jogginghose und ein kurzärmeliges Thermohemd. Unter dem dünnen Stoff zeichnete sich sein Bizeps ab, als wäre er in einem richtigen Fitnessstudio.

»Hallo.« Sein Blick fiel auf den Herz der Mitternacht -Anhänger, aber er reagierte nicht darauf. Die Halbdrow zwang sich, die Halskette nicht zu verdecken. »Kann ich Ihnen bei irgendetwas helfen?«

»Oh, nein. Mir geht’s gut. Ich bin nur mit meiner Freundin mitgekommen.« Sie nickte in Richtung der Turnhalle.

Der Bodybuilder-Typ nickte und verschränkte die Arme. »Ist sie das erste Mal hier?«

»Ja, tatsächlich.« Cheyenne wandte sich ihm zu und hob die Augenbrauen. »Gut geraten.«

»Nun, ich habe lange genug beobachtet, wie die Leute hier ein und aus gehen. Außerdem ist Doktor Boseley bei neuen Patienten sehr charmant.«

»Oh-oh. Haben wir es hier also mit Doktor Boseley und Miss Hyde zu tun?«

Er lachte. »Definitiv nicht. Sie ist wirklich gut. Zugegeben, ich habe den Terminplan durchlesen, bevor ich hier rauskam und gesehen, dass sie gerade einen Termin mit einer neuen Patientin hat.«

»Ach so. Verstehe.«

»Ich war mir nicht sicher, ob Sie kommen würden.«

Cheyenne erstarrte und schaute durch das klare Glas in die Turnhalle. »Wie bitte?«

»Normalerweise sind es nur enge Freunde und Familienmitglieder, die mit neuen Patienten zu den ersten Sitzungen kommen.«

Die Nervosität der Halbdrow löste sich ein wenig. Er redet nur über normale medizinische Dinge. »Nun, bei Ember und mir ist es irgendwie beides. Wir sind nicht verwandt, aber ich glaube, ich bin das, was für sie im Moment einer Familie am nächsten kommt. Es gibt nur sie und mich, seit … nun, seit sie im Rollstuhl gelandet ist.«

»Ich verstehe das.« Der Mann neben ihr nickte und beugte sich dann zu der Halbdrow.

Cheyenne blickte ihn an und lehnte sich weg. »Was machen Sie da?«

»Sie brauchen es nicht zu erklären, phér móre . Sie haben sich entschieden. Wir werden uns hier gut um sie kümmern. Machen Sie sich darüber keine Sorgen.«

Die Halbdrow sah ihn schockiert an. »Was gewählt?«

»Wie eine Familie, richtig?« Er nickte in Richtung Ember und Doktor Boseley auf der anderen Seite des Glases. »Es ist gut, dass Fae einen so starken Geruch haben. Sonst wäre ich mir da nicht so sicher gewesen. Ein Mensch wird es nicht schaffen, aber Ihre Freundin ist eine vollblütige Fae, durch und durch. Nur ohne ihre Magie, was?«

Langsam blinzelnd nickte Cheyenne und versuchte, nicht ahnungslos zu wirken. Wenn er ein Loyalist wäre, würde er jetzt versuchen, mich zu entführen.

»Drei.« Der Mann lächelte und schwang kurz auf seine Zehenspitzen, bevor er wieder nach unten sank.

»Wie bitte?«

»Wir sind zu dritt in dieser Klinik, phér móre . Es ist reiner Zufall, dass Sie Ihre Nós Aní hierher gebracht haben und nicht woanders hin, aber ich bin froh, dass Sie es getan haben. Wenn Sie sich Sorgen gemacht haben, sie allein zu lassen, bis sie stark genug ist, haben Sie mein Wort, dass wir sie beschützen werden, solange sie hier ist.«

»Das weiß ich zu schätzen. Ich muss aber zugeben, dass es sich so anhört, als ob Sie mir sagen wollen, dass Ember in Gefahr ist.«

Er zuckte wieder mit den Schultern. »Das kann man nie wissen, oder? Besonders in Zeiten wie diesen. Hey, ich muss wieder an die Arbeit, aber sagen Sie dem Cu’ón im Namen von Haus Keldryk Bescheid, ja? Wir sind so weit. Ich schätze, das ist auch für Sie bestimmt, oder?«

»Ich denke schon.« Die Halbdrow runzelte die Stirn und ging trotzdem das Risiko ein, als sie ihre Hand ausstreckte. »Wie ist Ihr Name?«

»Marsil.« Er nahm ihre Hand und drückte sie fest. Als er den Kopf senkte, sah es wie eine kleine Verbeugung aus. »Mark hier, aber das ist nur auf dem Papier der Erde, verstehen Sie?«

»Ja. Cheyenne.«

Marsil lächelte wieder freundlich, dann ließen sich ihre Hände los und er schlug sich schnell eine Faust auf die Brust, bevor er sie wieder fallen ließ. »Natürlich weiß ich schon, wer Sie sind. Aber ich hatte nicht erwartet, Ihren Namen zu erfahren. Vielen Dank.«

»Nun, es ist der einzige, den ich habe, Sie kommen also nicht in Gefahr, ihn zu verwechseln.«

»Komisch.« Das magische Wesen, das einen menschlichen Täuschungszauber als medizinischer Fachmann in Embers Physioklinik trug, senkte erneut den Kopf und ging langsam den Flur entlang in Richtung des vorderen Teils des Gebäudes. »So lange, wie Sie brauchen, phér móre . Wir werden uns um sie kümmern.«

Er drehte sich wieder um und verschwand um eine andere Ecke, bevor sie die Chance hatte, ihm noch einmal zu danken.

Cheyenne räusperte sich und blickte auf das sanft pulsierende Herz der Mitternacht hinunter, das auf ihrer Brust ruhte. Anscheinend habe ich Ember als meine Nós Aní gewählt, was auch immer das bedeutet. So viele m agische Wesen tauchen einfach aus dem Nichts aus.

Sie schüttelte den Kopf und steckte den Anhänger unter ihr lockeres, schwarzes Hemd. Der Anhänger sah lächerlich aus, weil er sich gegen ihr Hemd drückte, aber sie wollte kein Risiko mehr eingehen, indem sie ihn draußen ließ. Gut, dass Corian mir endlich seine Nummer gegeben hat.

Mit einem Blick den Flur hinauf und hinunter raffte sich die Halbdrow auf und ging zurück zur Tür, die in die Turnhalle führte. Sie öffnete sich leise, aber Ember war auf das konzentriert, was Doktor Boseley ihr auf einer Karte der menschlichen Wirbelsäule in Farbe zeigte und hörte nicht, wie ihre Freundin eintrat. Cheyenne ging zu den Metallstühlen mit schwarzen Plastiksitzen und -lehnen an der Glaswand und setzte sich. Dann zog sie ihr Handy heraus und öffnete die SMS von Corian, die den Buchstaben C zeigte.

»Gut genug«, murmelte sie und öffnete eine neue Nachricht.

Hat P schon gefunden, wonach er gesucht hat?

Sie versuchte, nicht auf ihr Handy zu starren, während sie auf eine Antwort wartete. Es dauerte etwa fünfundvierzig Sekunden.

Noch nicht.

Ich denke, das ist inzwischen ziemlich offensichtlich. Der Typ gibt sich wirklich Mühe, seine Versprechen zu halten. Sie rümpfte die Nase, zuckte dann mit den Schultern und schrieb die SMS, die sie eigentlich schicken wollte.

Was ist ein Nós Aní?

Die kleinen Punkte am unteren Rand ihres Bildschirms blinkten auf und ab.

Ein Zweiter im Bunde, ein Stell vertreter . Rassenspezifisch für dich. Kann jeder sein. Ich kann persönlich mit dir reden, aber lösche diese Nachrichten. Es ist dumm, sie über eine offene Leitung zu senden. Das weißt du doch.

»Tut mir leid«, flüsterte die Halbdrow ihrem Handy spöttisch zu. Sie löschte alle Nachrichten, bis auf die erste, die er ihr geschickt hatte. Wenn ich nach Hause komme, recherchiere ich gründlicher.

Cheyenne lehnte sich in ihrem Stuhl zurück, schlug ein Bein über das andere und verschränkte die Arme. Sie schenkte Ember ein Lächeln und einen Daumen hoch, als die Fae über ihre Schulter blickte und die Halbdrow im Raum sitzen sah. Ember zuckte mit den Schultern und drehte sich um, als Doktor Boseley sie fragte, ob sie bereit sei, es noch einmal zu versuchen.

Für den Rest der zweistündigen Sitzung war Cheyenne wie weggetreten und ließ alles von gestern noch einmal Revue passieren. Ember muss eine Wahl haben, wenn sie diesen Nós Aní-Auftritt machen will. Ich habe ihr versprochen, ihr alles zu erzählen, aber wie zum Teufel soll ich das erklären?

Sie bemerkte nicht einmal, dass das Kribbeln in ihrem Nacken verschwunden war.