H ey, Cheyenne !« Ember beugte sich vor und wedelte vor dem Gesicht der Halbdrow mit den Papieren herum, die Doktor Boseley ihr gegeben hatte.
Cheyenne zuckte zusammen, ihr Fuß rutschte von ihrem Knie auf den Boden und sie blinzelte schnell. »Tut mir leid. Ich war mit meinen Gedanken ganz woanders.«
Stirnrunzelnd neigte Ember ihren Kopf zurück und blinzelte. »Gedanken. Bist du sicher, dass es dir gut geht?«
»Ja, ja. Mir geht’s gut. Seid ihr fertig?«
»Ja. Ich bin bereit, hier rauszukommen und mich mit etwas Leckerem vollzustopfen, weil ich dumm war und nichts gegessen habe, bevor wir hierhergekommen sind.«
Kichernd stand die Halbdrow auf. »Dann lass uns etwas holen gehen. Du hättest noch ein Stück Pizza essen können.«
»Ich war nicht annähernd hungrig genug, um das zu essen, als wir gegangen sind.«
»Okay. Ich hab’s verstanden.« Cheyenne ging auf die Tür zu und hielt sie vom Flur aus offen. »Nach dir.«
Ember legte ihren Kopf schief. »Wie nett.«
Auf dem Weg nach draußen bewegten sie sich langsamer durch den Flur und die Halbdrow warf einen kurzen Blick auf die Fae. Embers Arme zitterten jedes Mal ein wenig, wenn sie die Räder nach vorne drückte, aber sie blieb nicht stehen und sah nicht so aus, als würde sie das stören.
»Willst du, dass ich sozusagen das Steuer übernehme?«
Das Fae-Mädchen schüttelte den Kopf und blickte konzentriert auf die Tür, die in den Warteraum und die Lobby führte. »Ich bin okay, bis wir zum Auto kommen. Danach könnte ich für eine Weile wie Wackelpudding sein.«
»Okay. Wie ist es da drin gelaufen?«
»Weißt du was? Ich mag diese Ärztin.«
Die Halbdrow öffnete die nächste Tür und hielt auch diese auf. »Du scheinst wirklich Glück gehabt zu haben mit den tollen Ärzten, was?«
»Und ich kann dir nur eines davon vorwerfen.« Ember lächelte und hielt nicht an, als sie in die Lobby und zum Ausgang rollte. »Du hast dir eine gute Praxis ausgesucht, Cheyenne. Ganz im Ernst. Danke.«
»Dank der Ärztin. Ich habe dich nur hergefahren.«
Die Fae lachte leise und hielt gerade lange genug an, dass sich die automatischen Türen vor ihr öffnen konnten. »Ich bin mir nicht ganz sicher, wo deine Bescheidenheit aufhört und eine Art seltsame Cheyenne-Verlegenheit beginnt.«
»Was? Ich bin nicht verlegen.«
»Okay. Dann gib zu, dass der einzige Grund, warum ich jetzt so gut behandelt werde, du bist.«
Cheyennes Nase rümpfte sich automatisch. »Ich helfe nur meiner Freundin.«
»Ganz ehrlich, würdest du mir auch so helfen, wenn ich dich nicht gebeten hätte, in dieser Nacht mitzukommen? Wenn ich einfach mit einem Einschussloch in der Wirbelsäule im Krankenhaus aufgetaucht wäre und du keine Ahnung gehabt hättest, was passiert war?«
Wenn sie mich nicht gebeten hätte, mit ihr zu kommen, hätte sie es nicht bis zum Krankenhaus geschafft. Die Halbdrow schloss ihren Panamera auf, als Ember die Rampe vom Bürgersteig auf den Parkplatz hinunterrollte. »Ja, Em. Ich bin mir ziemlich sicher, dass ich immer noch genau das tun würde, was ich tue, wenn du mich nicht gefragt hättest, ob ich mitkommen will und ich deswegen ausgerastet wäre.«
»Es geht also nicht darum, dass du denkst, es sei deine Schuld, dass ich dreimal pro Woche hierherkommen muss?«
Cheyenne öffnete die Beifahrertür und Ember beugte sich vor, um die Räder zu blockieren. »Du hast es schon mal gesagt, Em. Ich bin nicht diejenige, die auf dich geschossen hat.«
»Du hast recht. Du bist diejenige, die mir das Leben gerettet hat.« Ember schaute sie an, sah dann weg und winkte die Halbdrow zu sich. »Lass uns loslegen.«
Die Halbdrow bückte sich und hob ihre Freundin halb hoch, halb stützte sie sie auf den Beifahrersitz des Panamera. Ember gab ihr einen Daumen hoch, dann rollte Cheyenne den Stuhl hinter das Auto, faltete ihn zusammen und verstaute ihn im Kofferraum. Als sie sich hinter das Steuer setzte und den Motor startete, schnallte sich Ember an und starrte geradeaus auf den Eingang der Klinik.
»Bist du okay?«
Die Fae blinzelte und drehte sich langsam in Richtung der Halbdrow. Ihr Blick brauchte etwas länger, um sich von den Eingangstüren zu lösen. »Das wird sich verrückt anhören.«
Cheyenne biss sich auf die Lippe, um nicht zu lachen. »Versuch’s doch.«
»Ich glaube, ich … habe da drin etwas Seltsames gespürt. Bevor du eine Klugscheißer-Bemerkung machst: Ja, ich bin mir sicher, dass es nicht nur die Auswirkungen der Physio sind.«
»Es ist wirklich unheimlich, wie gut du mich kennst, Em.«
Die Fae antwortete mit einem verwirrten Kichern und wandte sich wieder der Klinik zu. »Das ist nicht sehr schwer. Aber das war … okay, ich weiß nicht einmal, was es war.« Embers Hand wanderte abwesend unter ihrem schwingenden Pferdeschwanz hindurch zu ihrem Nacken.
»Wie jemand, der gleichzeitig ein vibrierendes Handy und ein Wärmepflaster an deinen Hals hält?«
Embers Augen wurden unglaublich groß, bevor sie sich Cheyenne zuwandte. »Und Käfer.«
»Ja. Und Käfer.« Die Halbdrow unterdrückte ein weiteres Lachen. »Äh, das ist ziemlich cool.«
»Das ergibt doch keinen Sinn.«
»Aber es ist cool.«
»Cheyenne, ich weiß nicht, was ich damit anfangen soll! Ich bin schon bis zum Hals damit beschäftigt, herauszufinden, wie ich das Leben in diesem blöden Stuhl wieder auf die Reihe kriege. Der ist übrigens wirklich toll. Vielen Dank auch dafür.«
Die Halbdrow schürzte ihre Lippen und sagte kein Wort.
»Aber das ist alles, womit ich im Moment umgehen kann. Ich kann nicht … Ich meine, nein. Nein, nein.« Ember schüttelte energisch den Kopf und ihr Pferdeschwanz klatschte gegen die Kopfstütze. »Das ist verrückt.«
»Hmm, nicht wirklich.«
»Fang nicht damit an.« Die Fae hielt Cheyenne einen Finger ins Gesicht und versuchte, so streng wie möglich zu sein. Trotzdem brach sie in ein verwirrtes Lachen aus. »Das kann doch nicht wahr sein.«
»Ist dir nie in den Sinn gekommen, dass das eine Möglichkeit ist?«
»Weißt du was? Du kannst jetzt nicht die Stimme der Vernunft sein. Du wusstest nicht einmal, dass ich eine Fae bin und dein Gehirn ist fast explodiert, als ich dir erklärt habe, dass ich keine Magie habe.«
Die Halbdrow lehnte sich zurück und verschränkte die Arme. »Und jetzt explodiert dein Gehirn.«
»Natürlich explodiert mein Gehirn! Ich habe es aufgegeben, mir Magie zu wünschen, als ich herausgefunden habe, dass der Weihnachtsmann und die Zahnfee nicht echt sind.«
»Das ist ein perfekter Vergleich, Em. Feiertagsmaskottchen für Kinder und echte Magie. Das ergibt absolut Sinn.«
»Danke.«
»Für eine Achtjährige.«
Ember verdrehte die Augen. »Ich war übrigens fünf. Mein idiotischer Cousin hat das an Heiligabend kurz vor dem Schlafengehen ausgeplaudert.«
»Autsch.«
»Ja.«
»Meine Mutter kam nicht einmal auf die Idee, mich an so etwas glauben zu lassen, also habe ich nichts, was mit dieser Enttäuschung vergleichbar wäre.«
Mit einem überraschten Lachen lehnte die Fae sich nach vorne. »Ist das dein Ernst? Kein Weihnachtsmann? Kein Osterhase, keine Kobolde, keine Zahnfee? Nichts?«
Cheyenne schüttelte den Kopf und zuckte mit den Schultern. »Nichts.«
»Das ist eine der traurigsten Sachen, die ich je gehört habe. Warum hat deine Mutter nicht mitgespielt?«
»Weil ich magisch bin, Em.« Die Worte sprudelten viel lauter aus Cheyenne heraus, als sie beabsichtigt hatte und Ember lehnte sich ein wenig von ihr weg. »Und wahrscheinlich auch, weil Bianca Summerlin nicht die Art von Mensch ist, die sich mit Märchen und Fantasie beschäftigt. Du weißt schon, kindische Spiele und so weiter.«
»Aber du warst ein Kind.«
Die Halbdrow zuckte mit den Schultern. »Ich bin viel schneller erwachsen geworden, als alle erwartet haben und das lag nicht daran, wer meine Mutter ist. Das habe ich der Drowseite zu verdanken.«
»Unglaublich. Das erklärt einiges, wenn man darüber nachdenkt.«
Cheyenne lachte und schlug ihre Hände auf das Lenkrad und umklammerte es fest. »Aber wir reden hier nicht über mich ! Wir reden über dich und die beste Entdeckung deines Lebens!«
»O Gott.« Ember rieb sich erneut den Nacken und blickte auf den Eingang der Klinik. »Ich habe Magie.«
»Die magielose Fae hat Magie! Was ist hier los?« Cheyenne schlug mit der Hand auf die Hupe. Eine Frau, die auf die Klinik zuging, sprang auf und drehte sich mit einem wütenden Blick um.
»Nein, nicht Sie. Tut mir leid!« Ember schüttelte den Kopf und winkte der Frau entschuldigend zu, als die Halbdrow in Gelächter ausbrach. »Im Ernst, hör auf damit. Du verpasst noch jemandem einen Herzinfarkt.«
»Ich flippe aus!« Cheyenne drehte ihren Kopf zu ihrer Freundin und lächelte breit. »Und wir haben keine Ahnung, was passieren wird. Das ist großartig.«
»Nur du wärst von dieser Idee begeistert. Ich bin am Arsch.«
»Auf keinen Fall, Em. Du fängst doch gerade erst an.«
»Scheiße.«
Die Halbdrow legte den Kopf schief, schnallte sich an und legte den Rückwärtsgang ein. »Hast du noch Hunger?«
»Wenn ich nein sage, werde ich es später bereuen.«
»Ausgezeichnet. Wohin möchtest du gehen, metaphorisch gesprochen?«
Ember schlug ihrer Freundin leicht gegen die Schulter und schüttelte den Kopf, wobei sie erfolglos versuchte, irritiert auszusehen. »Irgendwohin, wo nicht dieser Parkplatz ist, Halbdrow. Ich muss aufhören, das Gebäude anzustarren.«
Mit einem knappen Nicken fuhr Cheyenne aus dem Behindertenparkplatz und auf die Straße zu. Sie tippte auf die Hupe und wippte mit dem Kopf hin und her. »Die Fae hat gerade ihre Magie zurückbekommen. Ich darf sie herumfahren.«
»Hör auf mit der Hupe. Meine Güte.« Ember bedeckte ihr Gesicht mit ihren Händen und lachte. »Mach das hier nicht zu etwas, das es nicht ist, okay? Ich kann meine Magie nicht ›zurückbekommen‹, wenn ich sie nie hatte.«
»Oder hattest du vielleicht welche?«
Ember holte tief Luft, ballte die Fäuste und schloss die Augen. »Fahr einfach.«