Kapitel 32

W eißt du, wie viele Kinder davon träumen, in so einem Haus zu wohnen?«

»Ich hoffe, nicht genau so.« Cheyenne ließ die Tür zu ihrem alten Schlafzimmer offen und schob Ember in Richtung des letzten Zimmers im hinteren Teil des zweiten Stocks des Hauses. »Wenn noch jemand den Grundplan für dieses Haus in die Finger bekommt, bin ich mir ziemlich sicher, dass jemand verklagt werden wird.«

»Sie nimmt ihre Privatsphäre wirklich ernst, nicht wahr?«

Eine Sekunde lang sagte Cheyenne gar nichts. Wie soll ich auf so eine Frage antworten? »Ja, das tut sie. Das war mein ganzes Leben lang Priorität Nummer eins, Em. Nichts zu verraten. Lass die Leute nicht die wahre Person hinter dem Bild sehen, das der Rest der Welt sieht. Alles ist ein Geheimnis und jedes Geheimnis hat einen Preis.«

»Man bezahlt sie für Geheimnisse?«

»Manchmal. Aber es geht nicht immer um Geld. Neben all den anderen Dingen, die sie tut, tauscht Bianca Summerlin auch Geheimnisse aus und handelt mit ihnen. Das ist vielleicht das Einzige, was die Leute über sie wissen. Dass man sich an sie wenden muss, wenn man den Job richtig machen will. Zumindest in politischer Hinsicht.«

»Verrückt. So war auch deine ganze Kindheit hier, nicht wahr?«

»Ja. Ich meine, klar, es gab gewisse Vorteile.« Cheyenne versuchte, ihr Lächeln zu unterdrücken, als Ember lachte. »Ich bin mir nicht sicher, ob ich irgendetwas davon ändern würde, ehrlich gesagt. Aber es war nicht nur schöne Familienzeit und glückliche Tage mit lebenslangen Erinnerungen im Summerlin-Haus.«

»Ich weiß, wie sich das anfühlt.«

»Aber ich habe mich ganz gut entwickelt.« Sie lachten beide, dann ließ Cheyenne ihre Freundin vor den Flügeltüren stehen, die aus leicht gebeiztem, poliertem Holz bestanden. »Bevor ich herausgefunden habe, wie ich mein Gehirn an den Computer anschließen kann, war das mein Lieblingszimmer im ganzen Haus.«

»Ich kann mir nicht vorstellen, dass irgendetwas besser sein könnte als dein Zimmer, aber okay. Zeig es mir.«

Die Halbdrow packte beide Griffe, drehte sie herunter und stieß die Türen auf. Der Raum war halbkreisförmig geschnitten und die breite, geschwungene Wand auf der Rückseite bestand ausschließlich aus Fenstern. Auf jeder Seite des Raumes standen andere Möbel: Sofas, Sessel, Schaukelstühle und Beistelltische. In der Mitte des Raumes, vor den großen Fenstern, standen zwei cremefarbene Sessel mit passenden Hockern, die beide auf den riesigen Wald und den sanft abfallenden Hügel hinter dem Haus gerichtet waren.

Übermütig griff Cheyenne wieder nach den Griffen des Rollstuhls und schob Ember quer durch den Raum zum Fenster. »Der beste Platz im Haus.«

»Kein Scheiß.« Der Fae blieb der Mund offen stehen, als sie das Tal vor ihnen betrachtete. Die Sonne war fast untergegangen, aber das fahle Licht und ein schwacher, orangefarbener Schein durchfluteten das Tal noch immer mit genug Licht, um doppelt so viel zu sehen wie von der Veranda aus, die unter ihnen lag. »Das ist das Schönste, was ich je gesehen habe.«

»Ja, das ist schon was.«

»Okay, also alles andere hier hat einen Namen. Wie heißt der hier?«

Cheyenne kicherte und verschränkte die Arme. »Der Frühstücksraum.«

»Töte mich jetzt.«

Da sie dazu nichts mehr zu sagen hatte, ließ die Halbdrow ihren Blick über die Wiese und das Tal schweifen. Die Narbe des neuen Portals zog sich wie eine offene Wunde vom Rand der Baumgrenze bis zum Haus. Das verändert den Gesamteindruck der Dinge.

»Ich würde mich hier einschließen und nie wieder weggehen, wenn ich die Wahl hätte.« Ember nahm noch einen Schluck von ihrem Wein, konnte sich aber nicht dazu durchringen, den Blick abzuwenden.

»Das habe ich einmal gemacht.«

»Ha. Ich kann vor mir sehen, wie sie versuchen, die Tür aufzubrechen.«

»Ziemlich genau.« Cheyenne untersuchte den Portalkamm. Keine Lichter. Keine Monster. So weit, so gut.

Bei dem leisen Geräusch von langsam über den Kies knirschenden Reifen drehte sie sich ruckartig um. »Das ging schnell.«

»Was?«

»Ein paar Transporter bringen FRoE-Agenten den Berg hinauf.«

Ember blinzelte die Halbdrow mit einem ungläubigen Lächeln an. »Ich weiß, dass du die Fähigkeit hast, alle verrückten Dinge viel früher als jeder andere zu hören, aber ich bin trotzdem immer wieder erstaunt.«

»Nun, danke.« Cheyenne lehnte sich über die Seite des Stuhls ihrer Freundin und nickte. »Ich muss da unten noch ein paar Dinge erledigen. Ich kann dich mit runternehmen, wenn du willst.«

»Auf keinen Fall. Lass mich genau hier. Schließ die Tür hinter dir ab. Ich komme klar.«

Schmunzelnd klopfte die Halbdrow auf die Lehne von Embers Stuhl. »Den ersten Punkt kann ich erledigen. Aber ich werde die Türen nicht abschließen. Summerlins machen denselben Fehler nicht zweimal.«

»Okay, geh schon.«

Cheyenne drehte sich um und eilte über den kurzen Flur zwischen dem Frühstücksraum und der massiven Treppe. Sie nahm immer zwei Stufen auf einmal und hielt sich am unteren Geländer fest, um sich herumzuschwingen, bevor sie zurück zum Arbeitszimmer ihrer Mutter lief.

»Mom?« Sie blieb vor der offenen Flügeltür stehen und blickte in Bianca Summerlins mit Holz und Leder eingerichtetes Privatzimmer. Der Stuhl hinter dem schweren Schreibtisch war leer, aber ihre Mutter hatte die Flasche Glenmorangie Single Malt auf dem Tablett abgestellt. Jetzt trinkt sie den guten Scotch. Vorsichtig.

Die Halbdrow ging schnell durch das Haus, als das Knirschen der Reifen draußen immer lauter wurde. Die Flügeltüren zur Veranda waren geschlossen, aber Bianca Summerlin stand an ihrem Platz vor dem Geländer und blickte auf das immer dunkler werdende Tal hinaus. Das Glas Scotch in ihrer Hand war halb leer.

Cheyenne öffnete eine der Türen und machte einen zaghaften Schritt nach draußen. »Sie sind hier.«

»Danke, Cheyenne.« Die Frau hob das Glas an die Lippen, während sie ihren Ellenbogen auf der Hand des anderen Arms abstützte, den sie vor ihrem Bauch hielt. »Mach ihnen klar, dass niemand einen Fuß in dieses Haus setzt.«

»Das werde ich.« Die Halbdrow wartete, falls ihre Mutter sich umdrehen wollte. Es wurde klar, dass Bianca sich eine Weile nicht von der Stelle rühren würde, also zog sich ihre Tochter ins Haus zurück und zog die Tür leise wieder zu.

Eleanor trat von der anderen Seite des Esstisches in den Raum, bevor Cheyenne in den gegenüberliegenden Flur kam.

»Hey, Ember ist oben im Frühstücksraum, nur damit du es weißt«, informierte die Halbdrow sie und blickte zum Fuß der Treppe.

»Das ist in Ordnung, Cheyenne.« Eleanor nickte und überlegte nun, wie sie Bianca durch den Rest dieser verrückten Nacht helfen konnte. »Ich gehe gleich hoch und schaue, ob sie etwas braucht.«

»Danke, Eleanor. Die Leute sind gerade vor der Tür aufgetaucht, also werde ich …«

»Was immer du tun musst, Schätzchen.« Die Frau lächelte die Halbdrow an, bis Cheyenne sich schließlich umdrehte, um zur Haustür zu gehen. Mit einem langsamen Kopfschütteln trat Eleanor auf die Veranda, um mit ihrer besten Freundin die unerwartete Bedrohung zu überstehen.

Als Cheyenne durch die Vordertür trat, stiegen die FRoE-Agenten gerade aus den drei schwarzen Geländewagen, die vor der breiten Steintreppe angehalten hatten. Sie zog die Tür fest hinter sich zu und ging schnell die Treppe hinunter zu ihnen.

Rhynehart stieg aus dem Beifahrersitz des nächstgelegenen Geländewagens und trug bereits eine Dämpfungsweste. Er klemmte einen Helm unter einen Arm und schloss die Tür, bevor er auf die Treppe zuging. »Was zum Teufel ist hier oben los?«

»Nicht da lang. Komm mit.« Cheyenne schob sich an ihm vorbei und ging um das Haus herum. Dabei bemerkte sie die Büsche, die sie beschädigt hatte und verzog das Gesicht.

Mit einem lauten Pfiff und einem Winken bedeutete Rhynehart den anderen, der Halbdrow hinterherzugehen und sein Team von Agenten folgte ihm mit ihren Westen, Helmen, Pistolen, Gewehren und Granaten.

Die Halbdrow wurde nicht langsamer und blieb auch nicht stehen, um auf sie zu warten, als sie die, in den Hang zwischen dem Haus und der Baumgrenze des dichten Waldes gehauenen, Steinstufen hinunterging. Rhynehart holte sie schnell ein und sie joggten gemeinsam die Treppe hinunter. »Im Ernst, Mädchen. Ich bekomme um halb acht die Tür eingetreten und muss mir anhören, wie Sir betrunken über eine Halbdrow-Besserwisserin wettert und wie viele Köpfe noch rollen werden, weil sie versucht, unseren Job für uns zu erledigen.«

»Das ist wirklich alles, was er dir erzählt hat?«

»Ja, bevor er meinte, wir sollen ein Eingrenzungsteam aufstellen. Er sagte, ich würde den Rest direkt aus dem Mund der Drow erfahren.«

»Es gibt ein neues Portal, Rhynehart.«

»Sehr witzig. Sag mir bitte, was hier wirklich los ist.«

»Genau. Klar. Neues Portal.«

Sie erreichten das Ende der Treppe und liefen schnell über das Gras zum anderen Ende des Feldes. Die Stiefel der anderen Agenten trampelten in schneller Folge hinter ihnen her.

»Willst du mich jetzt verarschen?«

»So gerne ich auch drei Autos voll mit deinen Jungs für einen Scherz hierher bringen würde, nein. Kein Scheiß. Das hier ist echt.«

»Das ist nicht möglich.«

Cheyenne warf ihm einen vernichtenden Blick zu, bevor sie ihn nicht mehr ansehen konnte. »Sag mir das noch mal, wenn du das Ding siehst.«

Fast alles Licht war aus dem klaren Himmel über ihnen verschwunden, aber es war mehr als genug, um die dunklen Speere aus schwarzem Fels zu sehen, die vor ihnen sechs Meter hoch in die Luft ragten. Die Halbdrow ballte die Fäuste, als sie sich näherten und bewegte sich nach rechts um die erste Steinsäule herum, um Rhynehart die ganze Aussicht zu ermöglichen.

Die Augen des Agenten weiteten sich, als er die Wand aus schimmerndem, dunklem Licht sah, die zwischen den schwarzen Säulen schimmerte. »Das sieht überhaupt nicht aus wie …«

»Die Grenzportale, die du kennst? Ja, genau das ist der Punkt. Es verhält sich auch nicht wie eines.«

»Wie zum Teufel ist das hierhergekommen?«

»Es hat einen riesigen Riss in den Boden gerissen und alles andere ist einfach in die Höhe geschossen. Das ist im Moment nicht die wichtigste Frage.«

Rhynehart legte seinen Helm auf den Boden, während die anderen Agenten sich hinter ihnen verteilten. Einige von ihnen flüsterten sich gegenseitig zu, was zum Teufel sie da zu suchen hatten, aber Cheyenne ignorierte sie. »Ich nehme an, du weißt, was die wichtigste Frage ist.«

»Ja. Könnt ihr euch darum kümmern, bis ich herausgefunden habe, wie ich es loswerden kann?«

Der Mann warf ihr einen Seitenblick zu. »Wir kriegen das schon hin. Das ist unser Job.«

»Okay. Kleines Detail. Dieses Portal ist nicht nur von außen anders.«

»Ist das eine Art Goth-Code für etwas?«

Das ignoriere ich einfach. Cheyenne schloss ihre Augen. »Eure Aufgabe ist nicht, magische Wesen davon abzuhalten, hinüberzugehen. Ehrlich gesagt bezweifle ich, dass man hier überhaupt andere magische Wesen durchkommen sieht.«

»Dann weiß ich nicht, warum wir diese verdammte Fahrt gemacht haben.«

Die Halbdrow hob beide Hände, um ihm ihre verletzten Handflächen zu zeigen. »Ich habe meine Hände nicht selbst aufgespießt, falls du immer noch verwirrt bist. Hast du jemals gehört, dass die O’gúleesh, die die Überfahrt gemacht haben, über das Dazwischen reden?«

»Ein oder zwei Mal.«

»Ja, das ist es, was den Grenzübergang so schrecklich macht.«

Rhynehart warf einen Blick auf die schimmernde Lichtwand und schüttelte den Kopf. »Bitte sag mir nicht, dass du versucht hast, durch dieses Ding zu gehen.«

»Nein. Aber diese Arschloch- Dinger, die es nur zwischen beiden Seiten der Grenze geben sollte, haben versucht, durchzukommen. Genau hier, auf diesem kleinen Fleckchen Gras, auf dem wir stehen.«

»Das kann doch nicht dein Ernst sein.«

Die Halbdrow zeigte auf ihren Kopf. »Das ist mein ernstes Gesicht, Rhynehart.«

»Als ob ich einen Unterschied zwischen deinen Gesichtsausdrücken erkennen könnte. Weißt du eigentlich, wie verrückt du gerade klingst?«

»Oh, ja. Ich weiß. Ihr müsst mir einfach glauben, sonst sind wir alle am Arsch.«

Der Mann seufzte und kniff sich in die Nase, dann blickte er die Länge des Portalkamms hinunter und nickte. »Gut. Ich nehme dich beim Wort, aber wenn ich herausfinde, dass du mir nur etwas vormachst …«

»Das wirst du nicht. Sorge einfach dafür, dass alles, was versucht, durchzukommen, auf der anderen Seite der schwarzen Wand bleibt. Verstanden?«

»Ja.« Er fing an, seine magiedämpfenden Handschuhe anzuziehen und schaute Cheyenne nicht an, als er flach murmelte: »Sonst noch etwas?«

»Auf den größten Tentakel zu schießen ist ein guter Weg, um das Hauptding so wütend zu machen, dass es versucht durchzukommen. Aber wenn du ihn zuerst erledigst, kannst du dir vielleicht eine kleine Pause gönnen, um etwas zu essen oder so.«

»Was zum Teufel hast du geraucht?«

Cheyenne legte dem Agenten eine Hand auf die Schulter und rüttelte leicht an ihr. »Oh. Sie sind auch Gestaltwandler. Also, egal wie es aussieht, erwarte nicht, dass es lange so bleibt. Halte dich nicht zurück.«

Rhyneharts Kopf wackelte auf seinen Schultern, als sie noch einmal zur Beruhigung an seiner Schulter rüttelte, aber er konnte nur auf die schwarze Wand starren, die sich zwischen all den schwarzen Steinspeeren erhob. »Gestaltwandler.«

»Danke, dass du die Fahrt gemacht hast. Ihr könnt hier draußen machen, was ihr wollt, aber das Haus ist tabu.«

»Aha.« Ohne ein weiteres Wort wandte er sich von ihr ab und ging auf seine Agenten zu, die sich in einer lockeren Gruppe hinter ihm versammelt hatten.

Die Halbdrow musterte ihre Gesichter und erkannte keinen einzigen von ihnen. Denn Sir will nicht, dass sich die Halbdrow mit seinen Agenten anfreundet. Nachricht erhalten.

Sie drehte sich noch einmal um und ging zurück zum Haus, als das letzte Licht verschwand. Als sie auf die Veranda blickte, hob sich die Silhouette ihrer Mutter deutlich von den Lichtern ab, die durch die Fensterwand des Hauses fielen. Bianca Summerlin blickte nicht auf die dunkle Gestalt der Halbdrow, die sich ihren Weg über den Rasen bahnte, sondern konzentrierte sich auf das Team von Agenten in schwarzen Uniformen, die sich am Waldrand ihres Grundstücks tummelten. Die Frau hob das Glas mit dem guten Scotch an ihre Lippen und schmeckte ihn kaum.