Nur wenige Straßen liegen zwischen der Via Paolo da Cannobio, wo sich der »Bau Nummer 2« genannte Redaktionssitz des Il Popolo d’Italia befindet, und dem Bau Nummer 1, der Mailänder Sektion des Arditi-Verbandes in der Via Cerva 23. Als Benito Mussolini im Frühjahr 1919 sein Büro verlässt, um in einer Trattoria zu Abend zu essen, sind es stinkende, elende und gefährliche Straßen.
Wie ein zystischer Splitter mailändisches Mittelalter steckt das Bottonuto unter der Haut der modernen Stadt. Ein Netz aus Gassen und Läden, frühchristlichen Kirchen und Bordellen, Kneipen und Kaschemmen, bevölkert von fliegenden Händlern, Nutten und Vagabunden. Der Ursprung des Namens ist ungewiss. Vielleicht stammt er von der Schlupfpforte für die Truppen, die sich einst auf der Südseite befand. Manche sagen, das Wort, das nach geschwollenen Drüsen klingt, sei das verstümmelte Patronym eines unter Barbarossa eingefallenen Söldnerheers. In jedem Fall ist das Bottonuto ein fauliger Pfuhl direkt hinter dem Domplatz, dem geografischen und baulichen Zentrum Mailands.
Bei seiner Durchquerung muss man sich die Nase zuhalten. Dreck sickert aus den Mauern, der Vicolo delle Quaglie ist zu einem Pissoir verkommen, die Menschen sind so verdorben wie die modrigen Hinterhöfe, alles ist käuflich, am helllichten Tag kommt es zu Raubüberfällen und Prügeleien, die Soldaten drängeln sich vor den Bordellen. Direkt oder indirekt leben alle von der Prostitution.
Mussolini isst spät zu Abend. Nach 22 Uhr taucht er aus dem Redaktionskabuff auf – ein Verschlag, der auf den engen Hof hinausgeht, eine Art vertikaler, über einen Laufgang mit dem Redaktionsraum verbundener Schlauch –, zündet sich eine Zigarette an und macht sich munter und entschlossen auf den Weg in die pestige Enklave. Horden barfüßiger Waisenkinder zeigen aufgeregt auf ihn – »der Spinner«, rufen sie einander zu –, die im Gossendreck hockenden Bettler strecken die Hand aus, die in den Hauseingängen lungernden Zuhälter grüßen ihn mit respektvollem, wiewohl vertraulichem Nicken. Er erwidert jede Aufmerksamkeit. Bei manchen bleibt er stehen und wechselt ein paar Worte, klärt etwas, vereinbart Treffen und kleine Absprachen. Er gewährt seinem Hof der Wunder Audienz. Er schreitet diese eingepferchten Menschen ab wie ein General beim Ausheben einer Armee.
Wurden Revolutionen nicht seit jeher so gemacht: indem man den gesamten Bodensatz der Gesellschaft mit Revolvern und Handgranaten bestückt? Was trennt letztlich den traumatisierten Veteranen vom Dienstentlassenen, der für einen Hungerlohn als Wachmann bei der Zeitung arbeitet, und dem »racheté«, dem von Zuhälterei lebenden Gewohnheitskriminellen? Fähige Arbeitskräfte sind sie allesamt. Immer wieder sagt er das seinem engsten Mitarbeiter und womöglich einzigen wirklichen Berater Cesare Rossi, der an seiner Klüngelei mit diesen Leuten Anstoß nimmt. »Wir sind noch zu schwach, um auf sie verzichten zu können«, sagt er dann, um Rossi zu beschwichtigen. Zu schwach, zweifelsohne: der Corriere della Sera, die Zeitung des blasierten liberalen Bürgertums, hat der Gründung der Kampfbünde nur eine knappe Notiz in der Sparte Vermischtes gewidmet, magere zehn Zeilen, kaum länger als die Meldung zu 64 gestohlenen Kisten Seife.
Sei’s drum, an diesem Abend im frühen April lässt Benito Mussolini den Blick noch einmal kurz über seinen Hof der Wunder schweifen, dann reckt er den Hals, presst die Kiefer zusammen, wendet das Gesicht unter dem bereits fast kahlen Schädel zum Himmel, um erträgliche Luft zu atmen, schlägt den Jackenkragen hoch, tritt die Zigarette mit dem Absatz aus und setzt sich in Bewegung. Wie ein mächtiges, sieches Lebewesen hinkt die düstere Stadt samt ihren verdorbenen Gassen hinter ihm drein, ein riesiges verletztes Raubtier, das sich dem Ende entgegenschleppt.
Die Via Cerva dagegen ist eine alte, aristokratische Straße, friedvoll und still. Die zweistöckigen Patrizierhäuser mit den stilvollen, luftigen Höfen verleihen ihr etwas Romantisches. Auf dem glänzenden Asphalt hallt jeder Schritt durch die Nacht und lässt die tintenschwarze Luft zirkulieren. Die Arditi haben ein Ladenlokal mit Hinterzimmer besetzt, es gehört Signor Putato, dem Vater eines ihrer Mitglieder, und liegt dem Palazzo Visconti di Modrone direkt gegenüber. Es war nicht leicht, eine Bleibe für diese haltlosen Veteranen zu finden, die das Bürgertum verstören, weil sie im Winter mit aufgeknöpftem Uniformkragen über der nackten Brust und dem Dolch am Koppel herumlaufen. Fabelhafte Soldaten, wenn es darum ging, feindliche Stellungen zu stürmen, wertvoll im Krieg, doch abscheulich im Frieden. Wenn sie nicht in einem Bordell herumlümmeln oder ein Café belagern, hausen sie in diesen beiden kahlen Zimmern, betrinken sich am helllichten Tag, faseln von kommenden Schlachten und schlafen auf dem Boden. So verbringen sie die endlose Nachkriegszeit: Sie verklären die jüngste Vergangenheit, dramatisieren die unmittelbare Zukunft und verdrängen ketterauchend die Gegenwart.
Die Arditi haben ihren Krieg gewonnen, zumindest erzählen sie sich das. Sie verklären sich so sehr, dass Gianni Brambillaschi, ein überdrehter Zwanzigjähriger, im offiziellen Blatt der neuen Vereinigung namens L’Ardito schreibt: »Wer im Krieg nicht bei den Sturmtruppen gekämpft hat, der ist, selbst wenn er im Krieg gefallen ist, nie im Krieg gewesen.« Wobei man ohne sie gewiss nicht die Linie am Piave mit jener Gegenoffensive durchbrochen hätte, die im November 1918 zum Sieg über die österreichisch-ungarischen Truppen führte.
Das düstere Epos der Arditi hatte mit den sogenannten Todeskompanien begonnen, Pioniereinheiten, die den Grabenkämpfen der Infanterie den Boden bereiten sollten. Nachts schnitten sie Löcher in die Drahtverhaue und ließen Blindgänger hochgehen. Tagsüber robbten sie in gänzlich nutzlosen Schutzpanzern voran und wurden vom Artilleriefeuer zerfetzt. Dann hatte jede Truppengattung – Infanterie, Bersaglieri, Alpini – begonnen, ihre eigenen Sturmtruppen zu bilden und besonders geschickte und kühne Frontsoldaten im Umgang mit Handgranate, Flammenwerfer und Maschinengewehr zu schulen. Doch ausschlaggebend war die Ausrüstung mit dem Grabendolch, der römischen Waffe schlechthin. Mit ihr nahm die Legende ihren Anfang.
In einem Krieg, der das herkömmliche Bild des angreifenden Soldaten zunichte gemacht hatte, in dem Giftgase und tonnenweise aus fernen Stellungen abgefeuerter Stahl zum reglosen Kauern in den Schützengräben verdammten, in einem technologischen Blutbad, in dem die Wendigkeit des voranstürmenden Kämpfers gegen das Sperrfeuer chancenlos war, hatten die Arditi den Nahkampf Mann gegen Mann wiederbelebt, den gewaltsamen Körperkontakt, das Zucken des Getöteten, das die bebende Klinge auf die Hand des Tötenden überträgt. Statt Angreifer hervorzubringen, hatte der Grabenkrieg Millionen Soldaten in defensive Naturen verwandelt, die sich als Opfer einer unentrinnbaren Weltkatastrophe sahen. In einen Krieg der zur Schlachtbank geführten Schafe hatten die Arditi jenes Selbstvertrauen zurückgebracht, das nur das meisterliche Metzeln mit einer kurzen Stichwaffe beschert. Unter dem Stahlgewitter, inmitten des anonymen Massensterbens, des industriellen Blutvergießens, hatten sie das zum Äußersten bereite Individuum zurückgebracht, den Heldenkult antiker Krieger mitsamt jener ganz speziellen Furcht, wie sie nur ein Messerstecher zu verbreiten weiß, der seine Opfer aus ihren Löchern zerrt, um sie mit eigenen Händen umzulegen.
Obendrein hatten die Arditi sämtliche Vorteile der Schizophrenie kultiviert. Ihre Spezialeinheiten waren nicht der Disziplin des Truppensoldaten unterworfen, sie marschierten nicht, waren vom zermürbenden Dienst im Schützengraben befreit, mussten sich nicht damit abplacken, Gänge zu schaufeln oder Stollen in den Fels zu schlagen, sondern lebten zwanglos in der Etappe, wo sie an Kampftagen von Versorgungslastern eingesammelt und geradewegs bei den zu erobernden Stellungen abgeladen wurden. Diese Männer konnten zum Frühstück einen österreichischen Offizier abstechen und sich zum Abendessen in einer Vicentiner Trattoria die Stockfischcreme schmecken lassen. Alltag und Mord rund um die Uhr.
Nach seinem Ausschluss aus der sozialistischen Partei und dem Verlust der proletarischen Armeen rekrutierte Mussolini diese Männer instinktiv vom Fleck weg. Bereits am 10. November 1918, dem Tag der Siegesfeiern, hatte sich der Herausgeber des Il Popolo d’Italia nach der Ansprache des Abgeordneten Agnelli am Denkmal der Cinque Giornate zu den Arditi auf den Lastwagen gesellt, über dem die schwarze Fahne mit dem Totenschädel flatterte. Als man im Caffè Borsa die Sektgläser erhob, trank er unter den Millionen Kämpfern ausdrücklich auf sie: »Kameraden! Ich habe euch verteidigt, als der Feigling euch verleumdete. Ich sehe etwas von mir in euch, und vielleicht erkennt ihr euch in mir.«
Und sie, diese tapferen Krieger, die das Oberkommando ausgerechnet in jenen glorreichen Tagen mit militärisch sinnlosen Gewaltmärschen durch die venetische Ebene zwischen Piave und Etsch demütigte, um diese plötzlich lästig und nutzlos gewordenen Männer zu beschäftigen, hatten sich mit ihm identifiziert. Als Gehasster und professioneller Hasser wusste er, dass ihr Groll wuchs und sie schon bald zu gänzlich verbitterten Veteranen machen würde. Er wusste, dass sie abends in ihren Zelten auf die Politiker, die Befehlshaber, die Sozialisten und das Bürgertum fluchten. Die Spanische Grippe hing in der Luft, und in den Tiefebenen Richtung Küste grassierte die Malaria. Bereits verstoßen und vom Fieber gebeutelt, während der ruchlose Tod in der Erinnerung verblasste, ließen die Arditi die Cognacflasche kreisen und lasen einander die Worte dieses Mannes vor, der sie von seinem Mailänder Büro aus für »das furchtlose Leben, den verwegenen Tod« pries. Drei Jahre lang waren sie eine Kriegerelite gewesen, eine auf den Titelseiten der Kinderzeitschriften heroisierte Phalanx: flatternde Krägen, Handgranaten, Messer zwischen den Zähnen. Zurück im zivilen Leben würden sie sich binnen weniger Wochen in eine Horde Asozialer verwandeln. Zehntausend tickende Zeitbomben.
Die Trattoria Grande Italia ist ein bescheidenes, schmuddliges und verqualmtes Lokal. Die Einrichtung ist einfach, die Preise sind moderat, die Stammgäste wechselnd. Zu dieser Abendstunde sind es vor allem Journalisten und Theaterleute, Schriftsteller, Komiker; keine Tänzerinnen. Nur die rotweiß karierten Tischdecken unter den Flaschen mit piacentinischem Gutturnio leuchten im Schummerlicht. Die Gäste sind ausschließlich männlich und fast alle bereits betrunken.
Mussolini steuert auf einen Ecktisch zu, an dem drei Männer ihn erwarten. Man sitzt dort für sich, abseits der Fenster, und hat einen guten Blick auf den Eingang. Aus der Hinterstube rechterseits dringt der gesellige Lärm einer Runde sozialistischer Drucker. Als Benito Mussolini Jacke und Hut ablegt, bevor er sich setzt, wird es dort einen Moment lang still. Dann folgt umso erregteres Stimmengewirr. Er wurde erkannt. Sofort ist er Gesprächsthema.
Auch seine Tischgenossen sind bekannte Gesichter. Zu seiner Rechten sitzt Ferruccio Vecchi, ein Landsmann aus der Romagna, Ingenieurstudent, Vertreter der futuristischen Bewegung, Interventionist und vielfach dekorierter Arditi-Anführer. Im Januar hat er die Hilfskasse und den Nationalen Verband der Arditi Italiens gegründet. Schwarzer Musketierspitzbart, eingefallene Augen, tuberkulös, gnadenloser Verführer. Über ihn kursieren unglaubliche und ungeheuerliche Geschichten: Es heißt, er sei über zwanzig Mal verwundet worden, habe einen österreichischen Schützengraben mit Handgranaten im Alleingang erstürmt und die Frau seines Oberst gevögelt, als sie nachts neben ihrem schlafenden Gatten lag.
Doch wirklich übel ist die andere Seite des Tisches. Dort sitzt eine kleine, untersetzte, specknackige Gestalt, deren Kopf direkt auf den Schultern zu sitzen scheint. Das dümmliche Grinsen in der pausbackigen Visage spiegelt schiere kindliche Grausamkeit. Hin und wieder hebt der Stierjunge den Kopf, hält die Luft an und stiert ins Leere wie vor dem Objektiv eines Fotografen. Nicht nur die Pose, auch die Kleidung ist theatralisch: Unter der graugrünen Militärjacke trägt er einen schwarzen Rollkragenpullover mit Stickerei auf der Brust, ein weißer Schädel mit einem Dolch zwischen den Zähnen. Am Koppel, das seine Hosen zusammenhält, baumelt ein weiterer Dolch, ein echter mit Perlmuttgriff.
Er heißt Albino Volpi, dreißig Jahre, Tischler, wegen allerhand Vergehen mehrfach vorbestraft, Angehöriger der Arditi, von Zivilgerichten wegen Beamtenbeleidigung, Diebstahl, Einbruch, schwerer Körperverletzung und vom Militärgericht wegen Fahnenflucht verurteilt. Von ihm erzählt man sich keine Abenteuer, man flüstert sie. Zwei Legenden umgeben ihn, eine heldenhafte und eine kriminelle. Besessen von Gewalt, zog er des Nachts im Krieg angeblich auf eigene Faust los, kroch aus dem vordersten Schützengraben, pirschte sich, mit nichts als dem Dolch bewaffnet, vollkommen lautlos auf allen Vieren zum feindlichen Graben vor und schnitt der schlafenden Wache die Kehle durch, aus reiner Lust am pfeifenden Zischen des Blutes, das aus der Halsschlagader strömt. Man munkelt, er habe eine ganz spezielle Art, das Messer zu führen … Fraglos ist er ein »Kaiman des Piave« gewesen, einer jener Soldaten, die darauf getrimmt waren, nachts den Fluss zu durchqueren, um die Wachen auf der österreichisch besetzten Seite abzumurksen. Nackt, die Haut mit grauer Tonerde beschmiert, um mit der Ufervegetation zu verschmelzen, schwammen sie durch die eisige Strömung des Oktoberhochwassers, um einen kleinen, grausamen Tod in das feindliche Lager zu bringen. Sie hatten keinerlei praktischen Nutzen, weder taktisch noch strategisch, und doch waren die Kaimane für den Sieg unerlässlich gewesen. Legendengestalten – womöglich gab es sie nicht einmal, und sie waren reine Propagandageschöpfe –, die ein seit Urzeiten überliefertes Geheimnis hüteten: dass die Nacht dunkel und voller Schrecken ist.
»Den Nahkampf gibt es nicht mehr«, hatte es über den Ersten Weltkrieg bedauernd geheißen. »Kein Verbrecher ist je ein Kriegsheld gewesen«, pflegte jeder redliche und aufrechte Offizier zu sagen. Der Mann, der Mussolini gegenübersitzt und das Gesicht in einer Kasserolle mit Wirsing und Speck, Schweinsfüßen und Schweinskopf vergräbt wie ein Tier, das die blutverschmierte Schnauze in die Eingeweide seiner Beute wühlt, scheint beiden Behauptungen Hohn zu sprechen.
An Mussolinis Tisch wird wenig geredet. Schweigend verdrückt man seine Ration und stiert dumpf auf den Grund des Glases. Man weiß bereits alles. Da gesellt sich ein dicker, polternder Kerl zu ihnen – lockerer schwarzer Binder, der große Hut schräg auf dem Kopf – und fängt an, von irgendwelchen grässlichen Vorkommnissen zu faseln, Explosionen und blutigen Raufereien. Es ist nicht klar, ob er Bericht erstattet oder eine Drohung ausspricht. Mussolini macht ihm ein Zeichen zu schweigen. Der finstere Schwafler hält mit offenem Mund inne, in dem anstelle der einst bei einer Kundgebung durch einen Steinwurf ausgeschlagenen Vorderzähne ein Krater klafft. Er heißt Domenico Ghetti, stammt ebenfalls aus der Romagna, war als junger Mann mit Mussolini im Schweizer Exil, ist Anarchist, Pfaffenmörder, Finsterling, Gewaltmensch, Ränkeschmied, Entwurzelter.
Dann macht ihm Mussolini ein Zeichen, sich zu setzen, und bestellt ihm einen Teller Lasagne. Dass der Herausgeber des Il Popolo d’Italia nachts allein zu Fuß nach Hause gehen kann, verdankt er nicht zuletzt der Sympathie, die er in den verrohten Kreisen der Mailänder Anarchie genießt. Ghetti macht sich ans Essen, und am Tisch der Arditi kehrt wieder Stille ein.
Derweil schwillt der Radau in der Hinterstube an. Der Wein fließt, und Gesang wird laut. Die Arbeiter des Avanti!, der sozialistischen Zeitung mit Sitz in der Via San Damiano direkt hinter der Via Cerva, stimmen aus voller Kehle »Bandiera rossa« an. Jetzt trinken sie auf den 17. Februar, den Tag, an dem Mailand und ganz Italien nach dem flüchtigen Rausch des Sieges über den österreichischen Erzfeind bestürzt feststellen mussten, dass ihnen ein neuer Feind ins Haus stand: die bolschewistische Revolution.
An jenem denkwürdigen Tag waren vierzigtausend streikende Arbeiter zum Klang von dreißig Kapellen zur Arena gezogen, hatten rote Fahnen geschwenkt und Schilder gereckt, auf denen sie den soeben siegreich beendeten Krieg verdammten. Ein sadistischer Hexentanz, in dem die Verstümmelten wie grausige lebende Beweise gegen ihre kriegslüsternen Dienstherren zur Schau gestellt wurden. Die Sozialisten spuckten uniformierten Offizieren, die ihnen tags zuvor noch den Angriff befohlen hatten, ins Gesicht, verlangten die Aufteilung des Bodens, verlangten Amnestie für Deserteure.
Dem anderen Mailand, dem nationalistischen, patriotischen, kleinbürgerlichen, das 1915 zehntausend Freiwillige in den Krieg geschickt hatte, dem Italien Benito Mussolinis, war dieser Aufmarsch erschienen, als würden »die Ungeheuer des Verfalls wieder lebendig«, als falle die eben erst befriedete Welt »einer Krankheit anheim«.
Als besonders verstörend hatten Mussolini und seinesgleichen die Tatsache empfunden, dass die Sozialisten Frauen und Kinder vorweg marschieren ließen. Der politische Hass, den diese zarten Münder herausbrüllten, war erschreckend und machte die erwachsenen Männer, die für den Krieg gewesen waren, fassungslos und bestürzt. Aus ganz einfachem Grund: Der antimilitaristische, antipatriotische Schrei aus Frauen- und Kinderkehlen ließ diesen krämerischen, autoritären, patriarchalischen, misogynen Männerschlag Schreckliches und Unerhörtes erahnen: eine Zukunft ohne sie. Während sich der Pulk durch die Straßen schob, hatten Bürger, Händler und Gastwirte hastig die Fenster geschlossen, die Rollläden heruntergelassen und die Türen verrammelt. Angesichts einer solchen Zukunft mauerte man sich lieber im Gefängnis der Gegenwart ein.
Tags darauf hatte Mussolini einen flammenden Leitartikel »Gegen die Rückkehr der Bestie« verfasst. Als Kriegsverfechter hatte er feierlich versprochen, die von den Demonstranten beleidigten Toten zu verteidigen, bis aufs Blut, »selbst wenn dazu in den Straßen und auf den Plätzen unserer Stadt Schützengräben ausgehoben werden müssten«.
Am Tisch der Sozialisten ist man inzwischen zu Likören und Schnäpsen übergegangen. Die Ausgelassenheit schlägt höher, der vom Alkohol geschärfte Hass spitzt sich zu. Der Name Mussolinis, des »Verräters«, ist deutlich zu hören, eine heisere Stimme brüllt ihn heraus.
Albino Volpi, der am Ecktisch gerade seinen Speck kleinschneidet, wechselt instinktiv den Griff um das Messer. Mussolini, blass und von den Schmähungen der alten Kameraden gekränkt, hält ihn mit einem unmerklichen Kopfschütteln zurück. Er presst die Lider zusammen, öffnet die Lippen ein wenig und zieht die Luft durch die Zähne, als würde der bohrende Schmerz einer alten Verwundung ihn durchzucken, ein jugendlicher Liebeskummer, ein an Pocken gestorbener Bruder.
Der Verräter. Dann reißt er sich zusammen. Er wendet den Kopf, um zu schauen, wer ihn beleidigt hat, und sieht einen jungen Burschen, kaum zwanzig Jahre alt, schmächtig, rothaarig, Sommersprossen auf der hellen Haut. Der Junge hält seinem Blick stand, voller Stolz, als gälte es, die unterdrückte Menschheit zu befreien.
Mussolini nimmt seinen Hut. Das Geleit der Arditi weist er brüsk zurück. Auf dem Weg zum Ausgang meint er im Augenwinkel wahrzunehmen, wie Albino Volpi abermals den Griff ums Messer wechselt.
Mussolini wendet sich ab und tritt auf die Straße. »Arditi gegen Pazifisten, Sozialisten gegen Faschisten, Bürgerliche gegen Arbeiter, Männer von gestern gegen Männer von morgen.« Die Mailänder Nacht empfängt ihn wie das Wirkfeld zweier ineinander verwobener Kräfte, die parallel existieren, durch seine Adern fließen und ihm das stete, untrügliche Gefühl vermitteln, dass eine der beiden die andere töten muss.
Zu Hause am Foro Bonaparte warten seine Frau Rachele und zwei Kinder auf ihn. Doch es ist noch früh. Er beschließt, noch einmal das Bottonuto zu durchqueren und im Vicolo delle Quaglie Station zu machen, um die Gifte des Tages bei einer Prostituierten abzulassen, bei einer dieser begehrten und verachteten öffentlichen Frauen, die er und die anderen Veteranen seines Schlages gern »fleischliche Nachttöpfe« nennen.
Während Benito Mussolini zu Fuß die Via Cerva hinaufgeht, meint er einen erstickten Schrei aus dem Restaurant zu hören. Doch er ist sich nicht sicher. Vielleicht ist es nur die Stadt, die im Schlaf schreit.