Zehn Wurfminen.
Cesare Rossi war so wütend auf die ehemaligen Genossen, dass er die Sprengkörper persönlich aus einem der Lager am Hauptbahnhof geholt hat, wo man sie bereits vor dem Krieg versteckt hatte, als sie für Sabotageakte während eines Eisenbahnerstreiks herhalten sollten. Rossi war das Versteck wohlbekannt, weil er damals an der Spitze des gewalttätigsten Flügels ihrer Gewerkschaft stand. Jetzt, wenige Jahre später und voller Hass auf den wer weiß wievielten, für den folgenden Tag angekündigten Sozialistenstreik – diesmal gar »Superstreik« genannt –, ist selbst ein vernünftiger Mann wie Rossi das Risiko eingegangen, sich des Nachts mit einem verlässlichen Freund in den Verladebereich zu schleichen, wo ein faschistischer Zugführer ihnen Stück für Stück zehn Bomben aushändigte, die er Stück für Stück zu seinem Freund trug, der mit einem Koffer auf dem Bahnhofsvorplatz wartete. Hätte man ihn angehalten, wäre er ein gestrandeter Reisender ohne Geld für ein Hotel gewesen, der wegen der Unruhen an der Weiterfahrt gehindert wurde. Ein armer Reisender mit zehn Bomben im Gepäck. Sein aberwitziger Plan sah vor, das Chaos zu nutzen, um den Sitz des Avanti! und die Arbeiterkammer zu verminen.
Mussolini konnte den Irrwitz seines Redakteurs gerade noch stoppen. Als er Rossi die Grausamkeit dieses Plans vor Augen führte, der sich nicht um unschuldige Opfer scherte, hielt dieser dagegen, die Drucker des Avanti! seien allesamt militante Sozialisten, und in der Arbeiterkammer verkehrten ausschließlich Feinde des Faschismus. Die Bomben befinden sich noch immer im Haus des Komplizen in der Via Durini, nur wenige Schritte vom Sitz der Zeitung entfernt.
Wenn selbst einer wie Rossi ein Attentat vorbereitet, ist alles zu spät. Man steuert unweigerlich auf die Tragödie zu. Die vom »Superstreik« des 20. Juli geschürte Umbruchserwartung ist derart hoch, dass sogar zehn in einer Wohnung im Stadtzentrum deponierte Wurfminen folgerichtig erscheinen. Wasser auf die Mühlen derer, die glauben, auf der Schwelle zu einem neuen Zeitalter zu stehen. Kein Einlenken zwischen den Fronten. Zwischen Sozialisten und Faschisten, so Rossi, kann es mehr oder weniger lange Waffenstillstände geben, am Ende machen sie einander trotzdem nieder.
Mussolini versucht, bei den Geschehnissen Oberwasser zu behalten. Er schwankt zwischen Sehnsucht nach den alten Genossen und der Notwendigkeit, neue zu finden. Am 17. Juli hat die erste in Mailand abgehaltene Versammlung der Fasci Mittel- und Norditaliens beschlossen, sich dem »Superstreik« mit allen Mitteln entgegenzustellen. Nicht mehr als ein Dutzend Städte in Gestalt weniger Hundert Mitglieder waren vertreten, dennoch haben die Faschisten zum ersten Mal für die harte Linie gestimmt, gegen die »roten« Aufrührer, die »schmutzige Rasse, die Italien entehrt« und sich Lenins Russland statt ihr gegen Österreich siegreiches Vaterland zum Vorbild nimmt.
So viel auf Seiten der Bewegung, doch um Oberwasser zu behalten, verliert Mussolini auch die Institutionen nicht aus dem Blick: Auf seine Anweisung hin hat sich Michele Bianchi bereits mit dem Präfekten von Mailand abgestimmt und ihm zur Wahrung der öffentlichen Ordnung die Fasci zur Verfügung gestellt. Der Präfekt hat ihm eine brisante Neuigkeit mitgeteilt: Laut einem vertraulichen Rundschreiben der Regierung ist die Unterstützung der Faschisten zur nötigenfalls gewaltsamen Unterdrückung umstürzlerischer Bestrebungen zum ersten Mal ausdrücklich vorgesehen, vorausgesetzt, sie folgen den Weisungen der Behörden. Um das Vorrücken der »Roten« aufzuhalten, lässt sich der liberale Staat also von den Faschisten helfen, die sich einem Streik der Volksmassen zum ersten Mal frontal entgegenstellen.
Doch andererseits wurden am Vorabend des »Superstreiks« erneut Vermutungen über ein wahlorientiertes Bündniskomittee sämtlicher interventionistischer Linksgruppierungen laut, das nur zwei Monate zuvor endgültig begraben zu sein schien. Ausgerechnet am Vorabend des »Superstreiks« versammeln sich die Anführer der Sozialisten, die sich 1915 entgegen der offiziellen Parteilinie für den Kriegseintritt Italiens eingesetzt hatten, in der Aula des Mailänder Beccaria-Gymnasiums. Sämtliche Abtrünnige vom Sozialismus herrschender Prägung sowie die Radikalen der patriotischen Linken sind zugegen.
Mussolini spricht als einer der Ersten und hält eine gewandte Rede. Er skizziert eine soziale und wirtschaftliche Neuorganisation, die den Wohlstand der Arbeiter in den Mittelpunkt stellt, jedoch frei ist von jedwedem bolschewistischen Einfluss. Einen Moment lang scheinen alle überzeugt und einig zu sein. Es heißt sogar, wenn man alte Gräben und persönliche Querelen überwinde, könnte man zur Wahl im November womöglich gemeinsam antreten. Endlich scheint das Schiff in See zu stechen. Vielleicht lässt sich auf eine friedliche Küstenfahrt hoffen, die, allem Gezeter gegen die »Kaste« zum Trotz, in einem Sitz im Parlament münden könnte.
Doch es ist schwer, sich mit einem kleinen Küstenschiff über Wasser zu halten, wenn die Revolution an die Tür klopft. Der von sämtlichen Arbeiterorganisationen Europas offiziell ausgerufene »Superstreik«, der gegen die ausländischen Interventionen in Russland zur Unterstützung der gegenrevolutionären Kräfte ein Zeichen setzen will, kommt als einfache Demonstration daher, dennoch scheint alles auf einen frontalen Zusammenstoß hinauszulaufen. Selbst der Abgeordnete D’Aragona von den gemäßigten Sozialisten erklärt: »Nachrichten von einem Revolutionsversuch und von Blutvergießen sollten nicht überraschen. Seine Auswirkungen mögen überschaubar bleiben, doch der Aufstand ist beinahe unvermeidbar.« Auf der Gegenseite hat ihm der junge britische Kriegs- und Luftfahrtminister Winston Churchill beigepflichtet. Laut Churchill sind die Bolschewiki sogar »Feinde der Menschheit«, die von Moskau aus eine »weltweite Verschwörung zur Vernichtung der Zivilisation« anführen. Die »asiatische Pest« stehe buchstäblich vor der Tür. Derweil liegen die zehn Wurfminen in einem Kohleofen in der Via Durini versteckt.
Als er nach der Versammlung im Beccaria-Gymnasium spätabends in die Redaktion zurückkehrt, muss sich der Herausgeber des Popolo d’Italia am Stacheldrahtzaun vorbeidrücken, der den Eingang absichert. Daneben schlägt sich Albino Volpi die Zeit damit tot, seine Pistole mit akribischer Verbissenheit zu laden und zu entladen. Der Blutgeruch ist überall.