Nachdem die Matrosen des in La Spezia ausgelaufenen Dampfers Persia nach einer Proviantladung in Messina die Küste Siziliens hinter sich gelassen und die von Thunfisch- und Schwertfischschwärmen durchzogene offene See erreicht hatten, wechselten sie, statt Kurs auf den Suezkanal zu nehmen und in Fernost Wladiwostok oder einen chinesischen Hafen anzusteuern, urplötzlich die Richtung. Und so nahm die wertvolle Fracht aus Gebirgsgeschützen, Gewehren, Munition und Nahrungsmitteln, die die konterrevolutionären Truppen der zarentreuen Kosakengeneräle in Russland unterstützen sollten, den Weg zurück durch die Adria und bewaffnete den Aufstand der freien Stadt Fiume.
Der Legende nach waren es »Uskoken«, Piraten D’Annunzios, die den Kurs der Persia änderten und die heldenhaften Freibeuterkriege in der Adria wiederaufleben ließen, Lebensmittel raubten, Boote enterten und Mythen erschufen, um die von den regulären Truppen des italienischen Heeres besetzte Stadt zu versorgen. Tatsächlich jedoch stammte der Befehl an den entführten Dampfer, Kurs auf Fiume zu nehmen, von Kapitän Giulietti, dem einflussreichen Chef des Bundes der Seeleute, der sich im Namen der Völkerfreiheit und wegen eines vertrackten Tauziehens mit der italienischen Regierung mit D’Annunzio verbündet hatte, um Zugeständnisse für die Arbeiter seiner Gewerkschaft zu erringen. Doch wie dem auch sei, seit die Persia am Abend des 14. Oktober im Hafen von Quarnero festgemacht hat und die Waffen für die Weiße Armee in den Lagern der Legionäre D’Annunzios liegen, ist das Städtchen Fiume ein Schauplatz im internationalen Kampf zwischen den jungen, unterdrückten Völkern und den alten Weltenlenkern, die die Nachkriegsordnung unter allen Umständen ohne sie gestalten wollen.
Andererseits wurde aus Fiume in nur gut einem Monat eine Welt voller Welten, ein Freihafen für Rebellen aller politischen Lager, gleich ob Nationalisten oder Internationalisten, Monarchisten oder Republikaner, Konservative oder Gewerkschafter, Kleriker oder Anarchisten, Imperialisten oder Kommunisten. Die gesamte politische, gesellschaftliche und künstlerische Avantgarde Europas drängt auf den Rummelplatz: Träumer, Libertäre, Idealisten, Revolutionäre, Nonkonformisten, Abenteurer, eine Schar von Helden und verkrachten Existenzen, Ruhelosen und Exzentrikern, Machern und Asketen, Verzweifelten, die nichts zu verlieren haben, und Millionären auf der Jagd nach Empfindungen, jungen Gewalttätern und angesagten Pariser Schriftstellern, vegetarischen Künstlern und reformierten Predigern, Amazonen in Militärkluft und wie Tänzerinnen herausgeputzten Militärs, Verführern auf der Suche nach weiblichen und Päderasten auf der Suche nach männlichen Eroberungen. Das Amalgam ist frenetisch, das Bacchanal orgiastisch, die Zügellosigkeit allgemein, die Enthemmung vollkommen, die Vorstellung ohne Pause und das Fest endlos. Individualismus, Piraterie, Exzentrik, Exzess, Drogen, sexuelle Freiheit, Weltoffenheit, Feminismus, Homosexualität und Anarchismus entheben Fiume der Welt und zugleich über sie hinaus. Eine Welt ist nicht genug. In den Fluren der römischen Regierungsgebäude sind die politischen Karrieristen auf die üblichen Intrigen aus, sie ersinnen Listen, schinden Zeit, schlagen Kompromisslösungen vor. Das ist die Unterwelt. In Gabriele D’Annunzios Augen ist Fiume die Überwelt. An ihr kommt niemand vorbei.
Im Namen der Regierung Nitti schlägt Außenminister Tittoni den Rebellen eine diplomatische List vor: die Stadt unter italienischer Kontrolle, der Hafen und die Eisenbahn unter der Kontrolle des Völkerbunds. Ein Schachzug aus der Vorkriegszeit, doch Nitti fällt nichts Besseres ein. Die Politik der Massen ist von den Interessen der Staatsmänner alten Schlages himmelweit entfernt. In deren Augen muss das Volk auf Abstand und in ständiger Unmündigkeit an der Kandare gehalten werden. Die alten Dinosaurier wissen mit dem Zuspruch des Volkes nichts anzufangen, sie verstehen ihn nicht, suchen nicht danach, finden ihn nicht. Für sie ist Macht eine Partie Canasta unter alten Bekannten am Tisch eines exklusiven Klubs irgendwo in den Hügeln.
Dagegen ist D’Annunzio vollauf damit beschäftigt, die Massen nach seinem Willen zu formen. Im Vertrauen auf den Zuspruch der Bevölkerung von Fiume hat er, um der Verhandlungskrise zu begegnen, die Gemeindevertretung der Stadt am 16. Oktober kurzerhand aufgelöst und für den 26. Oktober Gemeinderatswahlen angesetzt. Sein Plan ist simpel: Am 30. Oktober jährt sich der zum Kriegsende erklärte und von der italienischen Bevölkerung vollzogene Anschluss Fiumes an Italien zum ersten Mal. Nun muss das Wahlergebnis als des Volkes laute Stimme das ein Jahr zuvor getane feierliche Gelöbnis bekräftigen. So ticken die Massen, wenn man sich um sie kümmert und sie nicht ignoriert: Man muss nur vorangehen, dann folgen sie.
Der Wahlkampf gipfelt in einer großangelegten Kundgebung im Teatro Verdi. Am Abend des 24. Oktober ist das Theater bereits zwei Stunden vor Beginn gerammelt voll. Als der Comandante um 21:00 Uhr erscheint, hat er einige Mühe, für Ruhe zu sorgen. Trotz seiner wiederholten Handzeichen wird mindestens eine Viertelstunde lang anhaltend und hingebungsvoll applaudiert. Als der Dichter endlich zu Wort kommt, ist sofort klar, dass etwas Neues im Gange ist.
D’Annunzio beginnt mit einem Lobgesang auf Fiumes Streben, italienisch und eine freie Stadt des freien Italiens zu sein. Mit kartografischer Genauigkeit beschreibt er die idealen Grenzen dieser freien Nation. Haarklein zählt er Regionen und Dörfer, Inseln und Archipele bis zur letzten bedeutungslosen Klippe auf. Bis hierhin ist es die übliche schulmeisterlich beharrliche nationalistische Rede. Aber dann gewinnt sie plötzlich an Fahrt und schwingt sich abermals empor. Die Rede trägt den Titel »Italien und Leben«, doch an diesem Abend ist Fiume mehr als nur eine italienische Stadt. Wie durch Zauber wurde sie zum Leuchtfeuer, das Licht in die Welt bringt, zum »Funken des neuen Feuers, das das Abendland erhellen wird«. Zudem ist Fiume nicht mehr »Olocausta«; wie ein Priester, der nach einer Glaubenskrise in seiner Lebensmitte zu Gott zurückfindet, hat D’Annunzio ihre zweite und ungleich schwerere Berufung entdeckt: Fiume ist zur »Stadt des Lebens« geworden.
Der Verwalter D’Annunzio weiß, dass die wirtschaftliche Situation sich verschlechtert, der Hafen am Boden ist, die Bedarfsgüter knapp werden, die neue Währung die Inflation befeuert, und doch erhöht der Spieler in ihm den Einsatz. Der Flieger zieht den Steuerknüppel zu sich heran und verkündet, die große Sache sei eine Sache der Seele und der Unsterblichkeit. Immer weiter geht es hinauf, man gewinnt an Höhe.
Alle Aufständischen gleich welcher Abkunft versammeln sich unter unserem Zeichen. Die Wehrlosen werden bewaffnet. Macht stellt sich gegen Macht. Von der unbezähmbaren irischen Sinn Féin bis zur grünen Fahne, die in Ägypten Halbmond und Kreuz vereint, werden sich sämtliche Erhebungen des Geistes gegen die kruden Fleischfresser an unserem Feuer neu entfachen. Dies ist der neue Kreuzzug aller Armen und Freien gegen die usurpatorischen, jeglichen Reichtum an sich reißenden Nationen, gegen die Raubtiere. Deshalb ist unsere Sache die größte und schönste, die dem Wahnsinn und der Feigheit dieser Welt gegenübersteht. Es ist Zeit, sich auf die Zukunft zu stürzen.
Während D’Annunzio am 24. Oktober 1919 im Teatro Verdi spricht, setzt die Zeit aus, sie dehnt sich bis zum Überdruss oder wird vom Augenblick verschluckt. Es gibt keine Taktik, keine Strategie, auch ist es kein Mensch, der zu den Menschen von Fiume spricht: Es ist ein Ereignis mit unabsehbaren Folgen. Sein Tun hat kein Ziel, sondern vollzieht sich im Hiatus zwischen historischer Heldentat und kindischer Laune; wie ein Derwisch dreht sich Fiume, die Stadt des Lebens, auf ewig um seine eigene Achse.
Die Wahlen geraten zu einer triumphalen Volksabstimmung zugunsten des Dichters und seiner Zukunft.