Man hat beschlossen, die einzige Mailänder Wahlkundgebung der Fasci auf der Piazza Belgioioso abzuhalten, die sich, umgeben von vornehmen, neoklassizistischen Palazzi, wie ein fürstlicher Freiluftsalon im eleganten Herzen der Stadt befindet. Bei einer Ortsbegehung wenige Tage zuvor zögerte Mussolini nicht lange: »Hier ist es ganz wunderbar«, hatte er innerhalb von fünf Minuten beschlossen, weil der Platz nur zu einer Seite offen ist und sich im Fall eines Angriffs gut verteidigen lässt.
Der Wahlkampf findet in einem gefährlichen, von geradezu fanatischer messianischer Erwartung erfüllten Klima statt. Die sozialistischen Arbeiter greifen sämtliche Veranstaltungen derer an, die sich 1915 für den Krieg ausgesprochen haben. Sie greifen sie an mit der Hingabe, die Gepeinigte ihren Peinigern vorbehalten. Sobald sich die Interventionisten jeglicher Couleur auf den Plätzen zeigen, sieht die proletarische Masse in ihnen keine politischen Gegner, sondern Feinde. Dem namhaften und integren Wortführer der moderaten Sozialisten, Bissolati, wurde ein Auftritt in der Provinz Cremona verwehrt, weil er sich 1915 für den Krieg ausgesprochen hatte und mit sechzig Jahren als Freiwilliger selbst in den Kampf gezogen war. Während der Kundgebung des Republikaners Pietro Nenni in Meldola in der Romagna waren Gewehrschüsse gefallen. In Sampierdarena wurde die Kundgebung des interventionistischen Sozialisten Canepa durch Knüppelschläge der maximalistischen Sozialisten beendet.
Um sich vor möglichen Angriffen zu schützen, hat Mussolini eine Gruppe alter Republikaner und Anarchisten aus der Romagna kommen lassen. Er sagt, er will sie als »Ehrengarde und Todesschar« an seiner Seite. Leandro Arpinati ist auch dabei und wieder einmal dafür zuständig, ihm Rückendeckung zu geben. D’Annunzio hat sechzig Legionäre geschickt und Mussolini befugt, noch weitere einzustellen und sie mit Mitteln der Spendenaktion für Fiume zu bezahlen. Aus den umliegenden Städten sind Faschistengruppen angereist. Für die Anreise und Übernachtung ist eine Vergütung von 30 Lire vorgesehen. Der Eisenbahner und Gründer des Kampfbundes von Cremona hat für vier seiner Leute 100 Lire statt 30 verlangt. Er behauptet, es seien zu allem bereite Verbrecher. Geschultes Personal. Albino Volpi und ein paar weitere Arditi haben ihre Rucksäcke mit Eisenstangen und Handgranaten gefüllt. Mussolini hat genaue Anweisungen erteilt: Die Angehörigen des faschistischen Blocks haben keinen Laut von sich zu geben, um eventuelle Störenfriede auszumachen; sollte es zu Auseinandersetzungen kommen, muss das unbeteiligte Publikum umgehend durch die Via Morone verschwinden; keine Frauen und Kinder; die Kundgebung soll zügig über die Bühne gehen und findet auch bei Regen statt.
Die Wahl der Kandidaten war gleichfalls rasch erledigt. Sobald klar war, dass die Faschisten mit einer eigenen Liste in den Ring steigen würden, brauchte es nicht mehr als zehn Minuten. Ein bisschen Fußvolk und ein paar illustre Namen, Kämpfer allesamt. Von 19 Kandidaten waren 18 an der Front gewesen, davon sieben Freiwillige, fünf mit silbernen Tapferkeitsmedaillen, acht Verwundete und zwei Verstümmelte. Die bekannten Namen neben dem Spitzenkandidaten sind Filippo Tommaso Marinetti, der antiklerikale Podrecca, der Gewerkschafter Lanzillo, der Industrielle De Magistris. Auch Arturo Toscanini steht auf der Liste, der berühmte Dirigent und eifrige Anhänger des Mailänder Fascio. Von seiner Kandidatur hat der Maestro auf einer Versammlung in einer Schulturnhalle erfahren, bei der er etwas abseits an einem Gewichteständer lehnte. Marinetti hat ihn überredet, anzunehmen. Toscanini hat die Liste auch mit 30 000 Lire unterstützt. Das Programm ist das von San Sepolcro, verbrämt mit dem sozialistischen Beiwerk, von dem Mussolini sich nicht trennen will: Abschaffung des Senats, Steuerreform, Beschneidung des Reichtums, Beschlagnahme kirchlicher Güter, Versorgung der Verstümmelten, Invaliden und Kämpfer, bewaffnete Nation. Das Wahlsymbol ist eine Handgranate aus französischer Herstellung, mit der die Arditi des italienischen Heeres ausgestattet waren. Das Wahlplakat wirbt für den »Thévenot-Block« und fordert dazu auf, sein Kreuz bei der Handgranate zu machen.
Die Kundgebung ist für neun Uhr angesetzt. Um acht Uhr abends ist die bereits dunkle Piazza Belgioioso noch menschenleer. Die bürgerlichen Bewohner des Stadtzentrums sind daheim geblieben. Dann tröpfelt nach und nach eine kleine Menschenmenge durch den Kordon der Arditi, die für Ordnung sorgen sollen, und versammelt sich vor der provisorischen Bühne, die aus einem wimpelgeschmückten alten Truppenlaster besteht, der den Zugang zwischen der Via Morone und dem Haus versperrt, in dem Alessandro Manzoni lebte und starb. 1848 suchten junge Aufständische gegen die österreichischen Besatzer den Dichter dort auf, die ihn, den größten italienischen Schriftsteller, beknieten, mit auf die Straße zu gehen und sie auf die Barrikaden zu führen, was der vorzeitig gealterte und in langen, schlaflosen Nächten nervlich zerrüttete Mann jedoch ablehnte, wodurch er den Tag versäumte, auf den er sein Leben lang gewartet hatte. Im Schein der Windlichter, die die Szenerie vor Manzonis Haus erhellen, gleicht das Profil des faschistischen Lasters einem Rammsporn oder dem Krummschnabel eines Riesenvogels, der die zartrosafarbene Terrakottafassade einreißen will. Spärliche Trupps bewaffneter Männer umstellen ihn.
Allmählich hat sich der kleine Platz gefüllt. Schweigend verharrt die Menge in der vom Fackellicht gesprenkelten Dunkelheit. Inzwischen herrscht schwarze Nacht. Nur ein schmaler, schräger Mond gesellt sich zu den Fackeln. Im hintersten Eck des Platzes an der Via Omenoni glimmt schwach eine Bogenlampe.
Aus der Finsternis hinter der Bühne dringt plötzlich das Zischen eines jener Leuchtspurgeschosse, die im Weltkrieg das »Niemandsland« erhellten. Für wenige Sekunden malt das gleißende Licht der Leuchtgranate einen milchigen Bogen in den Himmel über der Stadt, die plötzlich zum Kriegsgebiet geworden ist, zerbirst in einer leuchtenden Kaskade über dem Dach eines neoklassizistischen Palazzos und verglimmt. Mit dem kindlichen, tief ergriffenen Staunen der ersten Menschen betrachten die auf dem Platz Versammelten den sprühenden Funkenregen. Es ist eine Very-Rakete, die Sternschnuppe über den nächtlichen Schützengräben. Sie gibt das Startsignal.
Der Arditi-Hauptmann Ferruccio Vecchi besteigt die Bühne und richtet sich mit der üblichen fanatischen Emphase an die Menge. Er schwafelt von Angriffen, von besonders blutigen, sengenden Kriegsmomenten, von soldatischem Geäst und Infanteristen, die in den karstigen Hochöfen erblühen, von zu Klingen geschmiedeten aufständischen Seelen. Die Arditi, uneigennützige Apostel, sind eingeschworene Feinde jenes finsteren Geflechts aus Eigennutz, Betrug und unredlichem Parlamentarismus, aus Banken, die den Enterbten und Kleingewerblern Kredite verweigern, aus ewig treulosem Bürgertum und Verdorbenheit. Nicht den Reichtum würde ich dezimieren, sondern die Reichen. Die Flut steigt, gute Leute. Wir Enterbten verschaffen uns Gerechtigkeit. Selbst die friedlichste Lagune erhebt sich im Rausch. Aus dem Weg, macht Platz für das schwarze Banner!
Vecchi brüllt sich heiser, wirft mit aberwitzigen Metaphern um sich, seine Halsschlagader schwillt, doch seine Worte sind nichts im Vergleich mit der Very-Rakete. Noch immer suchen alle den Himmel nach dem Glast ihrer stummen Herrlichkeit ab.
Benito Mussolini besteigt die Bühne. Die kleine Menge jubelt ihm zu. Major Baseggio, Gründer der »Todeskompanien«, hebt Ruhe gebietend einen Stock. Eine Fackel wird auf die Bühne getragen. Die Menge verstummt: Der Redner trägt eine finstere Sturmhaube, vielleicht zum Schutz vor dem Nieselregen.
Mussolini beginnt als Philosoph:
»Das Leben in der modernen Welt ist überaus komplex.« Die Anforderungen sind vielfältig und unumgänglich, sie erfordern technisches Geschick und freie, furchtlose Menschen. Sie fordern den »Zusammenbruch der Vergangenheit«. Mit dieser trägen, parasitären Bourgeoisie, die mit unlauter erworbenem Reichtum und doppelter, unfähiger Dummheit prahlt, muss reiner Tisch gemacht werden. Er ist nicht gegen das Proletariat. Das ist eine Lüge. Er hat sich stets für den Achtstundentag der Metallarbeiter starkgemacht. Er ist gegen die Tyrannei, auch gegen die des Proletariats. Das ist alles. Und dass die Faschisten gewalttätig seien, ist ebenso falsch. Wenn sie angegriffen werden, wehren sie sich, doch sie dürsten nicht nach Blut. Er persönlich ist gegen Gewalt. Und es ist ihm egal, ob er gewählt wird, aus dem Abgeordnetenabzeichen mache er sich nichts.
Mussolini brüllt sich ebenso heiser wie Vecchi vor ihm, doch nicht einmal er kommt gegen den Zauber der Leuchtgranate an. Von sozialistischen Horden keine Spur. Schweigend hören die Menschen zu, noch immer behext von dem Startsignal. Sie seufzen. Es stimmt, das Leben in der heutigen Welt ist überaus komplex, und alles löst sich auf und verklingt im Zischen der Very-Rakete, deren Kometenschweif den Beginn und das Ende der Kundgebung verkündet hat. Seit der Krieg vorbei ist, war die Simplifizierung des Krieges nie so gegenwärtig.
Als alles vorüber ist, klettert Marinetti in der Via Manzoni auf die Schultern eines Faschisten. Er lässt den Blick über die Menge schweifen, die geschlossen durch die eleganten, abendlich dunklen Straßen des Zentrums marschiert, eine disziplinierte, kompakte, vibrierende, mit Fahnen, Stöcken und Fackeln gespickte Masse.
Gebt den Bewohnern dieser unergründlichen modernen Metropole und ihrer tintenschwarzen Dunkelheit den Glanz der Gewalt, gebt diesen von einem unbegreiflichen Dasein gebeutelten Menschen und ihrem blutigen Verlangen nach Licht ein Leuchtspurgeschoss, gebt ihnen ein Schicksal, und sie werden euch folgen.