Die Sipe ist eine Splitterhandgranate. Ist die Schutzkappe entfernt, muss der Zündkopf am Anzünder angestrichen oder direkt in die Flamme gehalten werden. Im Krieg behalf man sich normalerweise mit einer Zigarre. Da ihr Wirkungsradius größer ist als die Wurfweite, ist sie ein defensiver Sprengkörper. Meist wird sie zum Aufhalten eines feindlichen Angriffes genutzt. Die Thévenot-Knallkapsel ist hingegen ein Angriffssprengkörper. Durch den eingeschränkten Aktionsradius, der stets unterhalb der Wurfweite eines versierten Werfers bleibt, wird der Feind zerfetzt, während man selbst auch bei einem Wurf auf offenem Feld unversehrt bleibt. Um sie einsatzbereit zu machen, genügt es, den Splint zu ziehen. Das Auftreffen auf dem Boden oder ihrem Ziel erledigt den Rest. Zudem hat diese Bombe große psychologische Wirkung: Die heftige Detonation verwirrt und löst Panik aus. Sobald sie explodiert ist, kann der Angreifer den Feind ganz bequem mit dem Messer erledigen.
Der Mann, der um sieben Uhr abends auf der Ponte delle Sirenette in Mailands Zentrum steht, trägt außer einem Dolch mit Perlmuttgriff zwei Thévenot-Granaten am Gürtel. Obwohl niemand in seine Richtung sieht, reckt er die Brust und hebt das Kinn, als posiere er für einen Fotografen. Niemand beachtet ihn, während er seit einer halben Stunde dem Aufmarsch der Sozialisten zuschaut, die nicht weit entfernt den Wahlsieg feiern. Diesseits des Kanals sind sie zu Tausenden, sie singen, schwenken Fahnen, jubeln. Bereits seit geraumer Zeit strömen sie aus der Via del Verziere, und noch immer sind nicht alle beim Sitz des Avanti! angekommen, wo die Kundgebung stattfinden soll.
Doch oben auf der flachbogigen Brücke ist der Mann allein und zeigt offen sein Gesicht. Um vom Sitz der Arditi in der Via Cerva unbemerkt hierher zu gelangen, musste er nur über die Mauer des Palazzo Visconti klettern und den Park durchqueren. Eine Sache von fünf Minuten. Nur die vier gusseisernen Brückenfiguren an den Enden der Geländer leisten ihm Gesellschaft. Die Meerjungfrauen halten ein Ruder in der Hand. Albino Volpis Hand streichelt einen verzinkten Blechzylinder.
Der einsame und von der Welt übersehene Mann schüttelt leicht den Kopf. Nicht zu fassen, diese Sozialisten sind allesamt Italiener, und trotzdem bejubeln sie Russland. Sie sind viele, Heerscharen, eine ganze Armee, doch statt zu marschieren, kriechen, schwärmen, strömen sie. Ihre Fahnen leuchten rot, die Nelken im Knopfloch scharlachfarben, doch sie sind nachlässig gekleidet, hemdsärmelig, und mit seltsamen Schärpen behängt. Sie sind abstoßend, würdelos. Sie sind eine Rotte, keine Schar, ein Haufen Verderbter. Eine wirre Orgie aus Gesang, Wein und Schnaps, eine Horde roter Fahnen, die in den Händen torkelnder Fähnriche flattern. Sie sind hager, schwächlich, ärmlich, mickerig und mitgenommen, verblödet, hungrig und gierig, Arbeitstiere. Sie sind Tiere, keine Menschen. Eine Herde wildgewordener Schafe.
Und dann dieser Gesang – »Völker, hört die Signale! Auf zum letzten Gefecht. Die Internationale erkämpft das Menschenrecht« –, es liegt keinerlei Überschwang darin, er klingt feierlich, aber düster, tief, erdenschwer und staubig, das heisere Wispern der Meute. Er hat nichts Italienisches. Wer ihn anstimmt, ist Herde und nicht Volk. Der Gesang … dieser Gesang … das ist das Schlimmste. Die hämmernde Monotonie, die nach endlosen, wüsten Ebenen klingt, nach fremdartigen Menschen, sibirischer Kälte, fader Runkelrübensuppe und endlos hungernden Steppen. Und diese asiatische Herde will Geschichte schreiben?
Das ist unmöglich, und wenn doch, so lässt sich ihr Weg ändern. Sie steuert auf ein Blutbad zu, der Gewalt hilflos ausgesetzt.
Den Blick noch immer auf die Menge gerichtet, nimmt Albino Volpi den Metallzylinder vom Gürtel, zieht den Sicherungsstift, der den Schlagbolzen blockiert, und reckt die Arme. So verharrt er einige Augenblicke, mit ausgebreiteten Flügeln, und atmet die feuchte Abendluft ein, als warte er auf die richtige Strömung, um sich emporzuschwingen. Dann kippt der Körper leicht nach vorn, die Rechte ist gesenkt, die Linke gereckt, die Stahlfeder spannt und entspannt sich, der bullige Rumpf wird zur Schleuder. Von der Menge unbemerkt, fliegt die Granate und beschreibt einen vollendeten Bogen. Die Detonation ist entsetzlich. Plötzlich singt niemand mehr. Gebrüll, Flüche, Schreie von Verletzten, Kinder, die nach ihren Müttern rufen. Jetzt stiebt die Herde auseinander.
Mit entspannt gesenkten Armen kehrt der Mann auf der Brücke auf seinen Beobachterposten zurück. Ihm genügt ein kurzer Blick, um die Situation zu erfassen: Ein einziger Mann hat Tausende in die Flucht geschlagen. Es ist zu dunkel, um die Gefallenen zählen zu können, doch das interessiert ihn nicht. Die Reaktion auf die tödlichen Metallsplitter scheint die Menschheit in zwei Lager zu spalten, an ihr kann er erkennen, wer das Zeug hat, Geschichte zu schreiben. Wer an der Front war, kauert sich sogleich wie ein Fötus zusammen, die Arme vor dem Bauch verschränkt, und macht sich zum kleinsten Tier, um seine Weichteile zu schützen. Die anderen, alle anderen, nehmen die Beine in die Hand und machen sich falsche Hoffnungen, in aufrechter Haltung Rettung zu finden.
Unten in der Via Damiano kauern sich nur wenige zusammen. Dort sind fast nur Arbeiter, und Arbeiter waren nicht im Krieg, sie haben sich herausgeredet, sie müssten die Fabriken am Laufen halten. Eine Herde Drückeberger. Sie haben den seelischen Terror verdient.
Albino Volpi greift zum zweiten Metallzylinder und breitet abermals die Arme aus.