Am Tag, als das neue Parlament des Königreiches Italien eröffnet wird, stehen alle mit emporgereckten Nasen da.
Die sozialistischen Abgeordneten bewundern den imposanten Fries von Aristide Sartorio, der den neuen Parlamentssaal schmückt. Fünfzig Leinwände, jede fast vier Meter breit und in der neuartigen Enkaustiktechnik bemalt, umspannen in zwanzig Metern Höhe und über eine Länge von mehr als hundert Metern den halbrunden Saal. Ein zweiter Himmel voll kräftiger, samtig warmer Farben, in dem sich über zweihundert Figuren tummeln, Männer, Frauen, Kinder und Tiere, die dank der großzügig aus den Tuben gedrückten Mischung aus Öl und Wachs in allen Nuancen von Grün, Rosa, Orange und Weiß im Licht des ersten Himmels erglänzen, der Rom überspannt und durch die gläserne Decke scheint. Ein Triumph allegorischer Bilder, die die Tugenden des jungen Italien und die historischen Lichtmomente seines wiedererwachenden Volkes darstellen. Alle zweihundert dieser Riesen, die von einer Vorliebe für männliche Akte und von ihren Postamenten galoppierende Rösser zeugen, scheinen zu glänzen und voranzustürmen.
Zwanzig Meter darunter lassen die gewählten Vertreter des verherrlichten Volkes den Blick über das grandiose Epos wandern und suchen darin sich selbst. Es sind 156 sozialistische Abgeordnete, fast alle sitzen zum ersten Mal im italienischen Parlament, viele sind Kinder von Arbeitern, Fuhrleuten und Tagelöhnern, die außer auf den Kirchenaltären noch nie ein Gemälde zu Gesicht bekommen haben. Heute werden die Kinder dieser armseligen, analphabetischen Untertanen zum ersten Mal seiner Majestät dem König begegnen, der die neue Legislaturperiode mit der üblichen Thronrede eröffnet. Auf Vittorio Emanuele III. wartet der königliche Thron, der nun, von zwei Corazzieri mit gezückten Schwertern flankiert, an der Stelle des Präsidentenstuhls steht. Zum ersten Mal in seiner Geschichte wird das Volk seinen Souverän persönlich treffen, in Fleisch und Blut, von Mann zu Mann. Das ist der Höhepunkt des Epos, die letzte Leinwand, die in Sartorios herrlichem Fries noch fehlt.
Die Rede des Königs ist für 10:30 Uhr angesetzt, doch um sich gebührend auf das Ereignis einzustellen, haben die Volksvertreter bereits um 9 Uhr begonnen, in die Sitzreihen des Parlaments zu strömen. In dem noch leeren Saal haben die Sozialisten geschlossen die ersten drei Abteilungen links in Beschlag genommen. Alle tragen eine rote Nelke im Knopfloch ihrer Jacke. Die wiedergewählten Abgeordneten, die früher dort saßen, haben sich über die Besetzung ihrer Plätze beschwert. Doch es war nichts zu machen. Sogar Giovanni Giolitti, Veteran und Gebieter über das parlamentarische Treiben der vergangenen dreißig Jahre, der kurz vor 10 Uhr den Saal betrat, musste sich damit abfinden, auf seinen Stammplatz im dritten Abschnitt links zu verzichten. Heute beginnt für die Linke eine neue Geschichte, und sie trägt die rote Nelke im Knopfloch. Für Giolitti ist kein Platz.
Um 10:05 Uhr erscheint der Onorevole Vittorio Emanuele Orlando, Ministerpräsident während des Sieges über Österreich, und nimmt, nachdem er Giolitti die Hand gedrückt hat, im vierten Abschnitt Platz. Kurz darauf betritt der Onorevole Bissolati im Gehrock den Saal. Leicht unsicheren Schrittes durchquert der ehemalige Präsident der Abgeordnetenkammer das Halbrund und steuert auf die Sitzplätze der Ausschüsse zu, wo ihn die alten Parlamentarier des Montecitorio aufs Herzlichste begrüßen. Die Sitzblöcke links sind bereits vollbesetzt, die rechterhand füllen sich nur zögerlich, auf der Tribüne des diplomatischen Corps sind die Duchessa di Laurenzana, der Marchese Salvago Raggi, der Minister von Rumänien, die Botschafter von Spanien, Polen und Belgien sowie zahlreiche weitere zu sehen.
Als um 10:28 Uhr ein Bediensteter des Königs das kleine Türchen zur Rechten öffnet, sind alle an ihrem Platz. Rund 500 Vertreter der Nation sind zugegen. Sämtliche Senatoren und Abgeordneten erheben sich und rufen einstimmig aus: »Es lebe der König!« Alle bis auf die roten Nelken, die in ihren drei Sitzblöcken im linken Halbrund sitzen bleiben.
Es müsste sofort ins Auge stechen, doch die Beifallsbekundung des Parlaments ist so überschwänglich, dass die Treulosigkeit zunächst unbemerkt bleibt. Vittorio Emanuele III. nimmt den Applaus der Onorevoli entgegen, verbeugt sich mehrmals, ist gerührt. Dann nimmt er auf dem Thron Platz. Ministerpräsident Nitti wendet sich an die Versammlung und bittet die Abgeordneten und Senatoren, sich zu setzen.
Jetzt stehen die roten Nelken auf. Im Saal wird es vollkommen still. Einen Moment lang sind alle sprachlos, die Kürassiere umklammern die Griffe ihrer Schwerter, dann wird klar, was hier vor sich geht: Die Sozialisten verlassen den Saal. Das Volk weigert sich, seinem König zu begegnen. Sie erkennen ihn nicht an.
Mit zerrauftem Haar und zauseligem Bart marschiert Nicola Bombacci den Abtrünnigen voran. Als er am Thron vorbeikommt, sieht er dem Souverän ins Gesicht und ruft: »Es lebe die sozialistische Republik!« Sein persönlicher Erfolg im Wahlbezirk Bologna war überwältigend. Einige Zeitungen nennen ihn den »König der Vorzugsstimmen«. Allein mit ihm verlassen mehr als hunderttausend Italiener den Montecitorio, von den übrigen sozialistischen Abgeordneten ganz zu schweigen. Der König sieht sich gezwungen, seine Thronrede vor einem halbleeren Saal zu halten.
Das Schauspiel ist denkwürdig, seine theatralische Wirkung überwältigend. Als die abtrünnigen Abgeordneten auf die Piazza di Montecitorio treten, gratulieren und umarmen sie einander. Sie lachen, freiheraus und unbeschwert. Der Traum eines freien, gerechten Lebens wird wahr. Wie sie dort auf dem römischen Platz in der lauen Wintersonne stehen, sind sie die Vertreter eines Volkes, das wieder Kind geworden ist. Die Freude währt einige Momente. Dann dämmert den Abgeordneten und Senatoren, dass sie für den Rest des Tages keine Pläne haben. Die Sozialisten haben Italien erobert und wissen nichts damit anzufangen.
Weil diese Männer nicht wissen, was sie machen sollen, beziehen sie Prügel. Bereits am Nachmittag schlagen nationalistische Banden auf sie ein. Sie jagen sie durch die Straßen der Stadt, packen sie bei ihren schwarzen Republikanerhalsbinden und zwingen sie, »Es lebe der König!« zu rufen. Gegen Abend setzen sich die Tätlichkeiten mit dem Einstand der königlichen Garden fort, der frisch gegründeten Polizeieinheit zur Einhaltung der öffentliche Ordnung. Parteiführer Giacinto Menotti Serrati wird gewaltsam ins Polizeipräsidium geschleppt und mit Fäusten traktiert.
Von sozialistischer Seite wird wie immer der Generalstreik ausgerufen. Tags darauf ist auf der Piazza Esedra das erste Opfer zu verzeichnen. Es handelt sich um Tiberio Zampa, 23 Jahre alt und Arbeiter in der Druckerei des Avanti!.
Abermals stehen die Fabriken still. Mailand schläft noch, die Waffen zu Füßen, und wartet auf die Revolution. Man atmet, so schreibt Claudio Treves, eine von herbem Zorn gesättigte Luft, einen Wind der Revolution. Von seinem Parlamentssitz verkündet Bombacci, die Revolution sei eine historische Notwendigkeit, das Parlament ein Relikt der Vergangenheit, und es sei seine Pflicht, ihm die letzten, vernichtenden Axthiebe zu versetzen.
Am Ende des Generalstreiks werden in Turin, Mailand, Adria und Modena ein knappes Dutzend Tote gezählt. Sie gesellen sich zu den 110 Toten, die es bereits im Laufe des Jahres 1919 bei Zusammenstößen zwischen Sozialisten und Polizeikräften gegeben hat. Mit dieser Bilanz geht das erste Friedensjahr zu Ende.