Am 18. März des Jahres 1920 erhält Gabriele D’Annunzio von Alceste De Ambris einen Verfassungsentwurf. Zweifelsohne handelt es sich um einen revolutionären Text, inspiriert von den fortschrittlichsten europäischen Lehren des radikalen Sozialismus und weitentwickeltsten libertären Grundsätzen. Der Syndikalist der direkten Aktion, den der Comandante am Jahresanfang zu seinem Stabschef ernannte, hat für Fiume eine zukunftsweisende Verfassung ausgearbeitet, eine Demokratie, die auf den Rechten der Arbeiter und der Menschen fußt. Aller Menschen. Während der Dichter sie in den Hügeln des Karsts fernab vom Rathaus mit weißseiden behandschuhten Fingern durchblättert, blühen bereits die Kirschen. Die Legionäre pflücken die ersten Ausschläge der neuen Jahreszeit und stecken die Knospen in den Lauf ihrer Karabiner und Maschinengewehre.
Doch der Frühling von Fiume ist ein falscher Frühling. Die »Stadt des Lebens«, die seit September auf den Anschluss an Italien wartet, liegt seit nunmehr sieben Monaten im Koma. Sie hängt am Beatmungsgerät der Regierung in Rom, die die Lebensmittelversorgung dosiert und den Sauerstoffzufluss auf- und zudreht, wie es ihr passt. Um emotionalen Druck auf den italienischen Familiensinn auszuüben, gingen die Belagerten im Januar sogar so weit, zu einem »Kinderkreuzzug« aufzurufen: Hunderte arme, seit dem Embargo hungernde Kinder aus Fiume brachen vom Hafen in der Quarnero-Bucht zu mitfühlenden italienischen Familien auf. Auch Mussolini hat sich angeboten, eines bei sich aufzunehmen. Der Comandante hat sogar Herstellung und Verkauf des köstlichen Süßgebäcks untersagt, das seit der Habsburger Monarchie der Stolz der Stadt gewesen ist. Schluss mit Buttersandwich, Kaffee mit Schlagsahne und Markenbazar. Die Nahrungsmittel sind rationiert, und weil es kein Öl zur Feuerung gibt, ist die Stadt kalt und dunkel.
Indessen wärmt sich der Comandante am Feuer der Demokratie. Die von De Ambris’ Verfassung vorgesehene Republik am Quarnero wird die kollektive Souveränität aller Bürger anerkennen, ungeachtet des Geschlechts, der Rasse, Sprache, Klasse oder Religion. Die Verfassung garantiert Pressefreiheit, Meinungsfreiheit, Gedankenfreiheit, Religionsfreiheit und sogar sexuelle Freiheit; sie garantiert ein Leben in Würde und sorgt für Grundbildung, sportliche Ertüchtigung, Mindestlohn, Kranken-, Invaliden-, Arbeitslosen- und Altersversicherung; vor allem – und das ist der Glanzpunkt – garantiert die Verfassung, dass das Leben der Bürger nicht nur würdig, sondern schön sei: »Das Leben ist schön«, korrigiert D’Annunzio eigenhändig in De Ambris’ Text hinein, »und würdig, vom Menschen, den die Freiheit neu erschaffen hat, gelebt zu werden.«
Aus diesem Grund wird jede Arbeiterzunft ihre eigenen Symbole, Abzeichen, Hymnen, Lieder und Gebete erschaffen. Die Bauschule wird die Arbeiter anregen, selbst die bescheidenste Hütte mit ein wenig Volkskunst zu verschönern; Musik wird zur gesellschaftlichen Institution erhoben, da »ein großes Volk nicht nur seinen Gott nach seinem Ebenbild erschafft, sondern auch seine Hymne für seinen Gott«; letztlich und vor allem muss die Arbeit, die jahrtausendelang härteste Knochenschinderei gewesen ist, zu »müheloser Mühe« werden, selbst die finsterste Plackerei strebt zur Schönheit und schmückt die Welt.
Um all das zu garantieren, hat De Ambris richtigerweise daran gedacht, Privatbesitz an seinen gesellschaftlichen Nutzen zu knüpfen: Die Verfassung der zukünftigen Republik am Quarnero wird weder zulassen, dass Besitz nur einer einzigen Person zur Verfügung steht, als wäre er ein Teil von ihr, noch dass ein Eigentümer ihn ungenutzt lässt oder falsch und ohne die Teilhabe anderer darüber verfügt. Fraglos ein hehrer Vorsatz, wenngleich diese letzte Klausel – wie der große Ökonom Maffeo Pantaleoni bemerkt, D’Annunzios angehender Finanzminister – die wunderbare Charta mit jedweder Wirtschafts- und Handelstätigkeit des modernen Kapitalismus unvereinbar macht. Und dann kann man einpacken.
D’Annunzio behält die Verfassung denn auch für sich. Statt sie abzulehnen, hütet er sie eifersüchtig und schreibt jeden Tag heimlich in seiner erhabenen, feierlichen Sprache daran herum, ohne ihren Kern zu verändern. Immerhin ist er Dichter, Stil ist alles für einen wie ihn. Nach dem Mittagessen macht er sich daran, De Ambris’ Verfassung umzuschreiben, morgens bei Tagesanbruch jedoch marschiert er an der Spitze seiner Truppen und unternimmt mit ihnen martialische Wanderungen durch die kleinen Täler rund um die Stadt. Sie versammeln sich auf der Piazza Roma vor der Präfektur. Jeden Tag hat ein anderes Regiment das Privileg, dem Comandante folgen zu dürfen. Gestiefelt und gespornt, den Oberkörper fest in den Ardito-Rock geknöpft, ist er unfehlbar zur Stelle. Drei Trompetenstöße, und es geht los, singend setzt man sich zum Strand oder Richtung Berge in Bewegung. Während er schnellen, geschmeidigen Schrittes vorangeht, wollen alle an seiner Seite sein. An diesen Frühlingsmorgen ist der Comandante genauso jung und lebensvoll wie seine Soldaten, er ist wieder zwanzig wie sie. Schon bald sind Ordnung, Hierarchie und der Gleichschritt des Aufbruchs vergessen. Gegen Mittag sieht man sie mit Reisig, Blumengirlanden und blühenden Zweigen in lockeren Reihen zurückkehren. Sie gleichen weniger einer Armee denn einem wilden, tanzenden Garten. Manche gehen paarweise und halten sich wie die legendäre thebaische Legion bei den Händen.
Des Abends isst man im »Schnabeltier«, einer Trattoria, die zuvor als »Goldener Hirsch« bekannt war und vom Dichter umgetauft wurde, nachdem der verrückte Guido Keller ein ausgestopftes Exemplar aus dem Naturkundemuseum hatte mitgehen lassen. Dort isst man ein denkwürdiges Risotto mit Scampi, und die Jungs sprechen literweise einem dunklen, klebrigen, speisüßen Cherry Brandy zu, den der Bilderreiche ebenfalls umgetauft hat in Morlakenblut.
Nach dem Essen geht es oft ins Theater. Es gibt Das Licht unter dem Scheffel, ein von D’Annunzio im Jahr 1905 verfasstes apokalyptisches Drama, das die Katastrophe einer antiken Familie erzählt, deren Mitglieder schwachsinnig, krank, verdammt oder verderbt sind.
Der Autor wohnt der Aufführung in Anwesenheit seines Generalstabs bei. Die Truppe drängelt sich auf den Rängen und der Empore. Doch die Schauspieler sind miserabel, und die Jungs aus der Truppe wollen noch ein wenig Spaß haben. Als der Vorhang des zweiten Aktes fällt, durchbricht eine Stimme die vergiftete Stille.
»Schluss mit dieser totlangweiligen Tragödie, lasst uns unsere Lieder singen!« Es ist D’Annunzio selbst, der gegen das eigene Werk protestiert, es ist der wiedergeborene Zwanzigjährige der morgendlichen Märsche, der mit seinem alten Ich über Kreuz geraten ist.
Auf das jugendlich leichtsinnige Signal des Comandante wird im Parkett und im Rang sogleich »Giovinezza« angestimmt, gefolgt von der »Garibaldi-Hymne« und Mamelis Nationalhymne. Jetzt singt das ganze Theater, alles ist voller Jugend, Freude und Fröhlichkeit. In seiner Proszeniumsloge fällt D’Annunzio in den Chor ein: Der Dichter ist froh, dass seine Dichtung endlich von ihm abfällt.
Doch dann verlangen die einfachen Soldaten »’A tazza ’e cafè«. Eine schlichte neapolitanische Volksweise, ein belangloses Liedchen, das in den Cafés trügerisch funkelndes Leben versprüht.
Die Offiziere werfen sich verlegene Blicke zu. Die Truppe beharrt: Hieß es nicht, wir sollten »unsere Lieder« singen? Der Chor hebt ohne musikalische Begleitung an, a cappella und aus voller Kehle, zuerst heiter und spritzig, dann immer heftiger und aggressiver. Die Triolen der Tarantella, gegrölt im hundertfachen Bariton, trunken von Morlakenblut und Testosteron, das durch die jungen Glieder in der Uniform pumpt, dröhnen wie der kehlige Schrei eines wilden Untieres durch das nach Giuseppe Verdi benannte Theater. Das Liedchen schwillt an, wird beängstigend, brutal, grausam und begräbt den Pomp der offiziellen Hymnen unter seiner schlichten Fröhlichkeit.
Alle zwinkern einander zu und machen sich Zeichen. Sogar die Offiziere finden die Sache nun höchst amüsant. Doch D’Annunzio hat aufgehört zu singen. Er ist blass geworden. Das Volk lehrt ihn sein Lied, und er scheint begriffen zu haben.