An diesem Tisch voller wildgewordener Kerle ist sie die einzige Frau.
An manchen Abenden gefällt sich die Dame der Gesellschaft darin, in ihrem Palazzo am Corso Venezia Salon zu halten und sich für achtundvierzig Stunden in junge, hübsche Maler zu verlieben, zart wie gefallene Engel; dann gibt es Abende wie diesen, an denen sich die großbürgerliche Signora in die Niederungen eines Tisches voll durchgedrehter Futuristen, finsterer Heimkehrer und trittbrettfahrender Journalisten begibt, während sich der tintige, schwere Trani-Wein wie ein Blutsturz auf die karierten Tischdecken der Kneipen ergießt. An diesen fiebrig schönen Abenden ist sie die einzige Frau, die am Tisch voller wildgewordener Kerle sitzt.
Gerade führt einmal mehr Filippo Tommaso Marinetti das Wort, als stünde er unter Dauerstrom.
»Nieder mit der Toilettitis!«, brüllt er so heißblütig, wie er zu anderen Gelegenheiten »Nieder mit dem König!«, »Nieder mit der Vergangenheit!« oder »Lasst uns das Mondlicht töten!« gebrüllt hat, und springt auf seinen Stuhl. Mit der schrillen Hysterie des Retters einer vom Aussterben bedrohten Menschheit spricht der Gründer des Futurismus zu Fuhrleuten und Druckern im Feierabend, die mit belustigter Verwunderung kurz von ihren Suppentellern aufschauen, über die Gefahren durch den zunehmenden weiblichen Luxuswahn in Verbindung mit männlicher Dummheit auf allen Ebenen der Gesellschaft.
»Diese krankhafte Manie«, folgert Marinetti, »zwingt die Frau mehr und mehr zu so verkappter wie unvermeidlicher Prostitution. Drei Mal am Tag die Toilette zu wechseln, ist, als stellte man den eigenen Körper ins Schaufenster, um ihn männlichen Kunden feilzubieten. Das Angebot mindert den Wert seiner Kostbarkeit und seines Geheimnisses. Das Angebot verschreckt den Mann, der die leichte Frau verachtet!«
Die Fuhrleute johlen und saufen; die Heimkehrer aus den Schützengräben stoßen bereitwillig auf die Verachtung der Frau an; gut geschützt durch ihre maßgeschneiderte Abendtoilette, quittiert Margherita Sarfatti, die einzige Frau an diesem Tisch, den Radau mit einem gütigen, mütterlich mondänen Lächeln.
Ihre Ungezwungenheit ist echt. Ihre elegante Haltung verrät nicht die geringste Befangenheit. Sie ist ja auch von »ihren« Künstlern umgeben: Marinetti selbst hat sie »die Päpstin der Futuristen« getauft. Zu der großen nationalen Futurismusschau im März 1919 in Mailand hat Margherita mit einer Leihgabe von gleich vier Werken aus ihrem Besitz beigetragen, eines davon ein Porträt der Sammlerin. Die Männer, die lärmend um den Tisch dieser Spelunke sitzen, sind zum großen Teil Künstler, mit denen diese einzigartige Frau ein persönliches Bündnis geschlossen hat. Da sind die Maler Achille Funi und Leonardo Dudreville sowie der Dichter Giuseppe Ungaretti, der für Il Popolo d’Italia tätig ist, allesamt Künstler, die von der Kunst zum Rausch der Geschichte übergingen, allesamt Veteranen, verbrüdert durch die unsagbare innere Erfahrung des Krieges, allesamt Absolventen der Schule der Wahrheit, die ihnen jene Winter in den Schützengräben waren.
Da ist Mario Sironi, der leblose, gänzlich naturferne urbane Landschaften malt, in deren feindseligen, bedrohlich aufgeladenen Welten die Menschen gefangen sind, es sind rätselhafte Vorstädte, die den bürgerlichen Innenstadtbewohnern unbekannt sind und nur für diejenigen existent, die verdammt sind, darin zu leben wie der elende Künstler und Kriegsveteran, den sie, Signora Sarfatti, ermutigt und unterstützt. Und dann sind da die Toten. Sie sitzen mit an diesem Tisch. Da ist Antonio Sant’Elia, das blutjunge Architekturgenie, das mit der Zigarette im Mund an der Spitze seiner Soldaten gefallen ist; da ist Umberto Boccioni, der Maler der Simultanvisionen und der sich erhebenden Stadt, der größte und hoffnungsvollste von allen. Beide dienten und fielen im Freiwilligen Lombardischen Radfahrerbataillon.
Vor allem sitzt er an Margheritas Seite, ihr »ergebenster Wilder«. Auch er schweigt und lächelt wohlwollend zu Marinettis Schmähreden. Der Dichter tönt und fuchtelt herum, um den Mittelpunkt zu bilden, doch der wichtigste Platz ist immer dort, wo Benito Mussolini sitzt. Die Wahlen im Herbst haben ihn gedemütigt, geknickt, gequält, und doch wird er es sein – da ist sich Margherita sicher –, der die Kraft der Straße entfesselt; er, der Sohn eines Schmieds, verkörpert den »Mut von unten«, den der größte deutsche Philosoph des vergangenen Jahrhunderts, Georg Wilhelm Friedrich Hegel, vorausgesagt hat. Er, Benito Mussolini, mit den bartlosen Wangen, den dunklen, tiefgründigen Augen eines Wahnsinnigen, dem ins Nichts gerichteten Blick und der dreisten Männlichkeit seiner bäurischen, an ein gehetztes Tier erinnernden Gestalt, er wird diesem neuen Jahrhundert die Botschaft überbringen, dass das Übereinkommen zwischen den guten Sitten der feisten alten Sozialistenführer und dem nagenden Hunger der schlecht ernährten Massen nicht mehr gilt, dass es nun darum geht, sich wie ein Blindgänger ins Geschehen zu werfen, dass die alte Welt am Ende ist.
Noch sitzt Benito Mussolini mit leeren Händen da, doch er hat als Erster verstanden, den Groll für den politischen Kampf zu nutzen, er war der Erste, der sich an die Spitze einer Armee von Unzufriedenen, Deklassierten und Gescheiterten gestellt hat, die ihre Tage damit zubringen, ihre Dolche zu polieren, derweil er zwischen Redaktion und Straße unterwegs ist und darauf wartet, dass endlich etwas explodiert und er auf der Druckwelle reiten oder zumindest in der Zeitung darüber berichten kann.
Kein Zweifel: Die beständige Kette von Vätern und Söhnen ist mit dem Krieg gerissen. Die Ordnung ist zerbrochen, und nur einer wie Mussolini kann eine Generation anführen, die vom Schicksal das Recht erhielt, Geschichte zu schreiben. Die einzige Frau an diesem Tisch hat vom Schicksal jedenfalls nicht das Recht erhalten, Politik zu machen, weshalb ihr nichts übrig bleibt, als auf einen Mann zu setzen, genau wie es Anna Kuliscioff erst mit Andrea Costa und dann mit Filippo Turati gemacht hat.
Und so verbringt die Grande Dame ihre Tage in den grindigen Kabuffs des Il Popolo d’Italia. Nach Redaktionsschluss verschanzt sich die feingeistige Intellektuelle mit dem ungeschliffenen Autodidakten in irgendeiner miefigen Absteige und lässt sich lieben. Jedes Mal hat sie ein neues Buch dabei, sie öffnet ihm den Geist, schenkt ihm ihren Körper, führt ihn in die Lektüre der Klassiker ein und bringt ihm bei, Gamaschen über den durchgelaufenen Revoluzzerschuhen zu tragen. Machiavelli, der Untergang des Römischen Reiches, weiße Einstecktücher und im Sommer ein Strohhut. Indem sie ihn den Konjunktiv lehrt und ihm eine Blume ins Knopfloch der gut geschnittenen schwarzen Anzüge steckt, macht sie sich ebenfalls bereit, Geschichte zu schreiben. Durch einen Mittelsmann.
Außerdem hat er sie vom ersten Moment an so heftig begehrt … Seit ihrer ersten Begegnung hat er keinen Hehl daraus gemacht, dass er saftigen, verführerischen Blondinen wie ihr nicht widerstehen kann … Außerdem widmet er ihr dilettantische Gedichte, in denen er die Schönheit des Meeres, des Windes und seiner Geliebten preist, und schickt ihr Liebesbriefe voll heftiger Zärtlichkeit.