Die entstellte Leiche des Mannes liegt auf der Piazzale Loreto. Die Besitzer der Bar, in der er niedergemetzelt wurde, haben ihn hinaus auf den Gehweg geschleift. Mit einem tränenlosen Schluchzer hält der Strom der Passanten vor dem menschlichen Kadaver inne.
Der Mann hieß Giuseppe Ugolini, er war Carabinieri-Unteroffizier und mit der Straßenbahn in einer Stadt unterwegs, die erneut vom Eisenbahnerstreik gelähmt und im Belagerungszustand ist. Eine Gruppe Streikender hat die Straßenbahn angehalten, die Fahrgäste zum Aussteigen genötigt und Ugolini gezwungen, die Waffen auszuhändigen. Der Carabiniere ist ausgestiegen, hat das Feuer eröffnet und einen neunzehnjährigen Arbeiter sowie einen ehemaligen Polizisten der Guardia di Finanza erschossen.
Die Menge ist ihm nachgesetzt, hat ihn geschnappt und auf der Stelle gelyncht. In der Bar, in die er geflüchtet war, hat man ihn mit Revolverschüssen erledigt, abgefeuert aus nächster Nähe auf den bereits am Boden Liegenden. Die Zeitungen berichten, jemand habe ihm die Finger abgeschnitten, um in den Besitz seiner Ringe und des Traurings zu kommen.
»In der Geschichte Italiens gibt es kein entsetzlicheres Ereignis als das des Piazzale Loreto. Nicht einmal Kannibalen begehen an Toten solche Grausamkeiten. Es sei gesagt, dass diese Lynchmörder nicht für die Zukunft stehen, sondern für eine Rückkehr in die Steinzeit.« So kommentiert Mussolini im ernsten, dennoch nüchternen Ton eines tiefbetroffenen Menschen im Il Popolo d’Italia. Ausnahmsweise wirkt er ehrlich erschüttert. Obwohl er dies ausdrücklich verneint, entsteht der Eindruck, der Verfasser des Artikels sehe am Horizont Kannibalismus aufkommen.
Der Gründer der Fasci wirkt erschreckt. Er lässt sich sogar auf den Geleitschutz von zwei Arditi ein, die ihn in einigem Abstand folgen. Seit Wochen ist der tragische Missklang aus Streiks, Demonstrationen und Straßenkämpfen zurück, seit Wochen schießen Carabinieri in ganz Italien wie besessen auf Arbeiter, die Zahl der Toten und Verletzten geht abermals in die Dutzende, die Mörder von heute sind die Ermordeten von morgen, die kannibalisierten Kannibalen, und doch sieht Mussolini in dieser Leiche etwas anderes. Der Abstand zwischen der Welt und der eigenen Weltsicht scheint dem Schmierenkomödianten ausnahmsweise kleiner zu sein. Es ist, als kommentiere der Leiter des Il Popolo d’Italia seine eigenen Qualen.
Ende Juni hat in Ancona ein ganzes Bersaglieri-Regiment gemeutert, das sich einschiffen sollte, um die italienischen Belagerungstruppen im von albanischen Rebellen bedrohten Valona zu verstärken. Die Arbeiter der Stadt sind auf die Barrikaden gegangen, um die aufsässigen Soldaten zu unterstützen. Sie mussten mit Kanonenfeuer aus der Kaserne getrieben werden. Der Zustand des italienischen Heeres ist niederschmetternd. Betrübt schreibt Mussolini an D’Annunzio und klagt über die »fürchterliche Verfallskrise«, die Italien durchläuft.
Es gibt auch Augenblicke der Begeisterung, offenbar ebenfalls aufrichtig gemeint. Als Francesco Giuntas Faschisten am 17. Juli das Hotel Balkan in Brand stecken, in dem der Nationalverband der Slowenen von Triest seinen Sitz hat, jubelt Mussolini: »Ohne in Phrasen zu verfallen, lässt sich sagen, dies ist die Stunde des Faschismus!«
Giunta ist ein Anwalt aus der Toskana, einstiger freiwilliger Interventionist, ehemaliger Hauptmann und Legionär D’Annunzios, der sich in den Teuerungsunruhen von 1919 in Florenz durch die Stürmung eines Schuhgeschäfts hervorgetan hat. Nach Fiume hat Mussolini ihm die Aufstellung von Kampfbünden in Julisch Venetien an der slowenischen Grenze übertragen. Giunta hat sie mit militärischer Disziplin organisiert und in Squadren unterteilt, die bestimmten Standorten zugeteilt sind. Triest hat großartig darauf reagiert. Im Grenzgebiet gesellt sich zum Klassenfeind der Vaterlandsfeind, zum Bolschewik der Ausländer, zum Sozialisten der Slawe: Die slowenischen Arbeiter sind auch Kommunisten. Die explosive Mischung ergibt einen idealen Nährboden für den Faschismus.
Der Funke sprang während einer Kundgebung anlässlich der Ermordung zweier italienischer Soldaten in Kroatien über. Weitab von der Bühne, auf der Giunta das Talionsprinzip beschwört (»Man muss sich erinnern und hassen«), wird bei Raufereien zwischen Italienern und Slowenen ein Junge erstochen, Giovanni Nini ist siebzehn Jahre alt aus Novara, Koch in der Trattoria Bonavia. Einige behaupten, er sei zufällig dort vorbeigekommen. Ehe die Klinge in seine Leber fuhr, soll er noch gerufen haben: »Ich habe nichts damit zu tun, überhaupt nichts!« Doch das tut nichts zur Sache. Ein Märtyrer ist ein Märtyrer, ganz gleich, was er davon hält.
Nach der Ermordung des italienischen Patrioten verlassen Giuntas Faschisten sofort den Platz und marschieren in geordneten Reihen davon, worin einige Augenzeugen eine geplante Aktion erkennen. Eine Stunde vergeht, und Flammen schlagen aus dem stattlichen Gebäude des Hotel Balkan, wo die Vertreter der Slowenen in Triest belagert und mit improvisierten Katapulten unter Beschuss genommen werden. Tags drauf stürmen die Menschen in den Sitz des Triester Fascio und verlangen einen Mitgliedsausweis. »Unser Wahlprogramm«, verkündet Giunta den frisch Eingetretenen strahlend, »ist der Balkan.«
Mitreißend. Kein Zweifel. Das ist der Weg. Sich militärisch organisieren. Cesare Rossi liegt Mussolini seit Monaten damit in den Ohren. Am 18. Juli haben die Arditi der Via Cerva dem Gründer der Fasci einen neuen persönlichen Treueschwur geleistet. Wenige Tage darauf hat D’Annunzio aus Fiume einen Appell an die Arditi gerichtet. Vor Scharfem und Explosivem hätte er sich noch nie gefürchtet, hat der Dichter gerufen. Auf den Schwingen der Begeisterung – wie man wohl sagen muss – hat Mussolini sogar wieder angefangen, Flugstunden zu nehmen. Sein Lehrer, Oberleutnant Redaelli, sieht ihn heranstürmen, manchmal sogar auf dem Fahrrad und noch in seiner Chefredakteurskluft, schwarzer Anzug, steifer Hut und graue Gamaschen. Der Gründer der Fasci ist so wild entschlossen, dass, kaum taucht er auf, alles zurückweicht und sich eine Leere auftut. Eine beängstigende Leere.
Doch dann fällt das Land wieder in die Depression zurück und er mit ihm. Die neue Regierung hat beschlossen, das Protektorat Albanien aufzugeben, eine der wenigen Eroberungen, die Italien nach dem mit sechshunderttausend Toten bezahlten Weltkrieg noch geblieben sind. Alles bricht zusammen. Alles ist zu schlammigem Brei geworden, Bürgertum und Proletariat, Regierung und Regierte. In diesem elenden, von Stammesregeln, Typhus und Malaria beherrschten Land haben sich die italienischen Soldaten vorangekämpft und sind mehr tot als lebendig, als grasfressende, aasverseuchtes Wasser aus Pfützen saufende wandelnde Gerippe gegen die serbischen Krieger gezogen. Jetzt holt der große, nationale Verfall alle ein, von den Regierenden bis zum niederen Volk, und zwingt selbst zur Aufgabe dieses nichtigen Besitzes auf der anderen Seite des Meeres. Nun auch raus aus Albanien, raus aus allem, her mit dem letzten Hemd, bespucken wir uns selbst. Doch Frieden um jeden Preis wird uns nicht vor einem neuen Krieg bewahren. Er wird ihn uns an den Kopf werfen. Um das Haus zu schützen, muss man den Mut haben, es anzuzünden.
Cesare Rossi schwört, bei der Nachricht vom Rückzug aus Albanien am 2. August habe er Mussolini weinen sehen. Es ist ein aufwühlender Sommer. Das Herz rutscht in die Hose. Der Blick geht nie über Berg und Meer hinaus. Irgendwo dreht immer ein gottverlorenes Kaff durch, spielt Revolution und rückt ein paar Tage lang ins Zentrum der nationalen Aufmerksamkeit, während uns die anderen jenseits der Grenzen in den Sack stecken. Wir sind eine Karnevalsnation, eine Revuenummer. Sing, damit der Schmerz nachlässt! Sing »’A tazza ’e cafè«! Sing »Bandiera rossa«! Alles bricht zusammen. Alles geht vor die Hunde.
1915 hat er dazu beigetragen, Italiens Geschichte in die Weltgeschichte, in den Weltkrieg eingehen zu lassen. Gewaltsam hat er sie aus ihrem provinziellen Schlummer gerissen. Doch dieses Italien ist noch das gleiche wie gestern und seit je. Stets zum Feiern aufgelegt. Schon wieder steht die Jahreszeit der zuckersüßen Feigen vor der Tür. Wer Weltpolitik machen will, muss zeigen, dass er in der Lage ist, eine nationale Katastrophe zu meistern, der muss für die Tragödie geschaffen sein. Man schaue sich nur D’Annunzio in Fiume an: Der hat keine Angst vor etwas Scharfem. Doch der Sommer kommt immer zu früh und dauert das ganze Jahr.
Die reichen Bürger sind am schlimmsten. Sie fühlen sich verloren. Sie erkundigen sich nach dem Datum für die Revolution, um zu wissen, ob sie diesen Sommer noch getrost auf dem Land verbringen können. Wieder einmal kneift man vor der Geschichte und verkommt zu einer Randnotiz. Die Redaktionsleiter haben den üblichen Beitrag zu den Augustferien bereits fertig.