Mitten über dem Platz und rot wie die Ziegel der nur wenige Straßen entfernten Zwillingsuhrtürme hängt die Fahne schlaff am Rathausmast. Ihr Faltenwurf ist starr, wie in Zement gegossen. Die rote Fahne ist so riesig – bestimmt fünf Kilo schwer –, dass es die Tramontana bräuchte, um sie flattern zu lassen. Angeblich hat eine Schar begeisterter Kinder sie am Wahltag zu den Klängen der von einer Kapelle gespielten Arbeiterhymne in den ersten Stock des Rathauses getragen. Die Sozialisten haben einen überwältigenden Sieg errungen. Vor morgen früh muss dieser rote Fetzen wieder eingeholt werden, und sei es mit den Zähnen.
Zumal sie extra aus Florenz gekommen sind. Abbatemaggio, der seit einer Woche da ist, um das Unterfangen im Vorfeld mit den örtlichen Faschisten abzustimmen, meint, man könne im Land nichts weiter tun. Außer Chianti trinken.
Als Amerigo Dùmini mit Frullini und zwei weiteren Faschisten mit einem am Bahnhof Santa Maria Novella gestarteten Sita-Überlandbus aus Florenz eintrifft, ist der Kamerad aus Neapel bereits betrunken. Gennaro Abbatemaggio ist zweifellos ein ganzer Kerl, groß, stattlich, schwarzer Schnurrbart, dazu rauflustig und ruchlos genug, jemandem mit bloßen Fäusten die Zähne auszuschlagen, doch mit seiner Baritonstimme ist er in seinem Erdfresserdialekt ständig am Quasseln. Zum Glück haben ihn die Einheimischen offenbar nicht erkannt. Es sind Bauern, die ganz mit ihrer Feldarbeit beschäftigt sind und sich abseits der Predigten im Avanti! überhaupt nicht für Nachrichten interessieren. Vor dem Krieg gab es dagegen reichlich Gerede um diesen üblen Camorrista, der seine Kumpane verpfiffen hat.
Gennaro Abbatemaggio. In der Unterwelt nannte man ihn »’o Cucchiarello«, weil er zur Tarnung als Kutscher arbeitete. Er hatte sechs Mitglieder eines Clans beschuldigt, einen anderen Camorrista, einen gewissen Gennaro Cuocolo, sowie dessen Frau ermordet zu haben, die in ihrem Schlafzimmer mit 16 Messerstichen in den Unterleib niedergemetzelt worden waren. Und von einem Ring war die Rede, den man dem Opfer vom Finger gerissen und in der Wolle einer Matratze wiedergefunden habe. Dann hatte der Ankläger widerrufen und in einer neuen Darstellung der Umstände gegen andere mutmaßliche Drahtzieher ausgesagt. Er hatte sich sogar selbst mehrerer Raubüberfälle bezichtigt. Ein einziges Chaos. Die Carabinieri hatten die Beweise manipuliert und fast sechzig Personen auf die Anklagebank gebracht. Während des Prozesses in Viterbo wurde ’o Cucchiarello vom Gehege der anderen Bestien getrennt in einem kleinen Einzelkäfig gehalten.
Im Krieg jedoch hat Abbatemaggio sich reingewaschen: Am Monte Grappa kämpfte er anständig und brachte es sogar bis zum Arditi-Unteroffizier. Dort, im Schützengraben, hat Dùmini ihn kennengelernt. Ein zäher Hund. Bei seiner Rückkehr von der Front soll es einen unerfreulichen Vorfall in der Familie gegeben haben. Es heißt, seine Frau habe ihn mit einem der Carabinieri betrogen, die sie vor der Rache der Camorra-Bosse beschützen sollten. Daraufhin ging Gennaro nach Florenz, um bei den Kameraden mit anzupacken.
Ohnehin begnügt man sich mit dem, was da ist. Der Florentiner Kampfbund siecht vor sich hin. Auch hier in Montespertoli – ein Dorf an der Mündung des Pesa-Tals, kaum zwanzig Kilometer von Florenz entfernt – gibt es unter den zehntausend Einwohnern höchstens vier oder fünf Faschisten. Seit Monaten gibt Mailand die Anweisung aus, Squadren für Straßenkämpfe mit Sozialisten auf die Beine zu stellen, und Dùmini hat es versucht. Er hat sie »La Disperata« genannt und den Anstreicher Frullini gebeten, einen Wimpel mit Totenkopf, Dolch, Standarten und dem ganzen Drumherum zu entwerfen. Doch der Sitz des Fascio in der Via Cavour besteht aus einem einzigen, bei einem Schneider angemieteten Zimmer, darin ein Tisch, zwei Stühle, ein als Spucknapf benutztes Lenin-Porträt auf dem Boden und ein ebenfalls von Frullini gemaltes Schild an der Wand, auf dem Italienischer Kampfbund und studentische Avantgarde steht. Das ist alles. So kommt man nicht weit. Zudem verweigert Mailand ihm weiterhin das Geld zur Beschaffung von Revolvern. Sogar die Rechnung der Druckerei Valgiusti, bei der man die Plakate drucken ließ, hat Umberto Pasella postwendend zurückgeschickt. »Um keinen Präzedenzfall zu schaffen«, hat er geschrieben.
Dabei gäbe es alle Hände voll zu tun. Am 10. August ist in San Gervasio das Munitionsdepot explodiert und hat ein Blutbad angerichtet. Dùmini persönlich hatte ein Plakat gegen diese elenden Sozialisten entworfen, die wieder einmal das Militär schlechtmachen mussten. Doch der Polizeipräsident hatte die Verbreitung verboten und es »abscheulich« genannt. Dann waren da noch die Zusammenstöße von Santa Maria Novella zwischen Demonstranten und Polizisten mit Toten auf beiden Seiten. Sogar bei den Begräbnisfeiern war die Stadt gespalten. Niemand empfand einen Funken Mitleid für die Toten der anderen Seite. Doch die schlecht organisierten und unzureichend bewaffneten Männer der »Disperata« hatten sich auch zu dieser Gelegenheit kaum blicken lassen. Im September war es schließlich zur Besetzung der Fabriken gekommen. Gewissenhaft und diszipliniert hatten die Arbeiter die Betriebe auch ohne ihre Herren wunderbar am Laufen gehalten. Die Industriellen und Landwirte fühlten sich verloren. Und endlich hatte sich jemand gefunden, der die Revolver bezahlte.
Nun waren sie hier in der Provinz, um diese Betonflagge einzuholen. So soll es in sämtlichen Gemeinden der Florentiner Hügel laufen, in denen die Sozialisten zu vorlaut sind. Nächtliche Überfälle, wie an der Front auf dem Monte Grappa.
Doch hier in Montespertoli sind keine militanten Sozialisten zu sehen. Der Platz ist verwaist. Die rote Fahne hängt schlaff herab. Der örtliche Faschist Lino Cigheri lädt sie zum Abendessen zu sich nach Hause ein. Seine Frau hat Ficattola gemacht, eine Spezialität: in Öl ausgebackenes Brot, gefüllt mit Wurst aus der Gegend, Salame di Cinta, Capocollo, Finocchiona.
Nach dem Essen geht es in die Bar. Es ist das einzige geöffnete Lokal am Platz, auf dem Schild steht Caffè Razzolini. Bestärkt von dem zum Essen getrunkenen Wein, betreten die Faschisten als geschlossene Einheit die Bar und brüllen, statt guten Abend zu sagen: »Es lebe Italien! Es lebe das italienische Fiume!«
Das Lokal ist gut gefüllt, es sind bestimmt mehr als fünfzig Gäste. Niemand reagiert auf die Provokation, nicht einer blickt auf, hält mit dem Reden inne oder macht Anzeichen, sie gesehen zu haben. Ganz offensichtlich haben die »Roten« sich abgesprochen: Wenn niemand sie bemerkt, gibt es sie nicht. Doch selbst der unscheinbarste Mensch existiert, nachdem er das fünfte Glas getrunken hat. Also bestellt man noch etwas zu trinken.
Abbatemaggio, der auch bei D’Annunzio war, ordert Morlakenblut, den Sauerkirschschnaps, den die Legionäre in Fiume trinken. Der alte Razzolini, der diese Osteria seit Jahrzehnten führt und gutmütig auf den Herrgott flucht, sagt, das einzige Blut, das er kenne, sei das Blut Christi. Oder sie sollen nächsten Monat wiederkommen, wenn der neue Wein fertig sei. Der sei recht blutig, wenn sie mit dem vorliebnehmen wollten.
Die Faschisten begnügen sich mit Vin Santo und Cantuccini. Sie nehmen an einem Ecktisch Platz und stimmen Arditi-Lieder an. Doch so laut sie auch grölen, für die Dörfler scheinen sie Luft zu sein. Nach der ersten Runde fängt Frullini mit Kriegsgeschichten an. Besoffen fordert er Dùmini auf, ebenfalls ein paar Heldenanekdoten vom Monte Grappa beizusteuern. Doch der entzieht sich der Aufforderung wie gewöhnlich mit einem Kopfschütteln und stiert in sein Glas. Nach mehreren Stunden des Nichtvorhandenseins und der gegrölten Lieder kommt der Wirt um elf Uhr schließlich an ihren Tisch. Allein dass dieser Alte da vor ihrem Tisch steht, genügt, um sie in die Wirklichkeit zurückzuholen. Doch er will sie lediglich zum Gehen auffordern. Er hält sich an die Vorschriften und will schließen.
Abbatemaggio beginnt herumzulallen und mit Drohungen um sich zu werfen, derweil die Dörfler das Lokal ruhig und friedlich durch die einzige Tür verlassen und noch immer getreulich so tun, als hätten diese Männer den Bus Florenz–Montespertoli nie bestiegen. Während der Neapolitaner in seinem Dialekt herumfaselt, wird Cigheri und den anderen ortsansässigen Faschisten die Sache zunehmend peinlich. Sie müssen dort leben und schämen sich. Dùmini befiehlt allen zu gehen. Kaum sind sie draußen, ist alles wieder wie ausgestorben. Der dunkle Platz ist menschenleer. Wie durch Zauberei sind alle verschwunden. Abermals haben diese acht bewaffneten Männer ihren einzigen Daseinsgrund verloren.
In einem jähen Wutanfall hämmert Frullini gegen die bereits verriegelte Tür der Bar. Den Wirtstöchtern, die den Gastraum aufräumen, brüllt er zu, sie sollen öffnen, sonst tue er es mit Handgranaten. Vom Balkon darüber zetern andere Frauen aus der Familie: »Hilfe! Hilfe! Sie bringen uns um!« Doch als wären sie keine ernstzunehmende Bedrohung, lässt sich niemand blicken. Ein nächtlicher Passant hastet unter den Laubengängen entlang. Sie treten nach ihm: »Ins Bett mit dir, Rumtreiber!« Am Ende des Platzes sammelt sich eine kleine Schar Jungen. Sie jagen sie mit Luftschüssen fort. Sonst lässt sich niemand blicken. Sie sind die Herren des Platzes. Sie haben die Welt ins Bett geschickt. Nun bleibt auch ihnen nichts anderes übrig, als sich auf die Matratzen zu hauen, die ihnen Cigheris Frau auf den Boden geworfen hat.
Am nächsten Morgen haben die Faschisten einen mächtigen Kater und kommen erst spät aus dem Bett. Alle anderen haben sich bereits auf dem Platz versammelt. Seit dem Morgengrauen warten sie darauf, dass die Betrunkenen wach werden. Bewaffnet mit dem Werkzeug, durch das sie ihr Brot verdienen – Spaten, Sensen, Hacken, Heugabeln –, haben sich Hunderte Männer im Halbkreis vor dem Rathaus aufgestellt und sind bereit zur Verteidigung ihres Rechts, zu wählen, wer über sie bestimmt.
Voller Sorge um Heim und Kinder taucht Cigheris Frau kurz darauf mit den Carabinieri auf. Wachtmeister Cocchi und ein Trupp seiner Leute eskortieren die Faschisten in die angrenzende Kaserne. Während sie unrasiert, mit weinsaurem Atem und zerknitterter Kleidung an den Häuserwänden entlangschleichen, folgt ihnen das bewaffnete Dorf vom anderen Ende des Platzes reglos mit den Augen, fest zum Kampf entschlossen, doch ohne ein Wort, gerade so, als hegten sie weder Wut noch sonst ein Gefühl gegen sie, als wären sie Schlachtvieh.
Stundenlang harren Dùmini und seine Gefährten in der Kaserne aus. Sie hoffen auf Verstärkung aus Florenz – es hat sich bestimmt herumgesprochen –, doch es kommt keine. Stattdessen kommt Hauptmann Ronchi im Panzerwagen, begleitet von weiteren sechzig Carabinieri, einem sozialistischen Abgeordneten und Provinzialrat Dal Vit. Der sozialistische Abgeordnete Pilati beruhigt die Gemüter, doch die rote Fahne bleibt, wo sie ist.
Als sie den Platz überqueren, um in den Panzerwagen zu steigen, der sie nach Florenz bringen soll, stimmt Frullini eine Arditi-Hymne an. Sono Ardito fiero e forte / non mi trema in petto il core / sorridendo vo’ alla morte / pria di andare al disonor. Sie singen es auf ihrem Weg durch ein Spalier von Carabinieri, die gekommen sind, um sie vor den mit Sicheln bewaffneten Bauern zu schützen. Giovinezza, giovinezza / primavera di bellezza / della vita e nell’ebbrezza / il tuo canto squilla e va.1 Ehe der Carabinieri-Gefreite den Zündschlüssel dreht, ist deutlich zu hören, wie sich ein Bauer beim Abgeordneten Pilati beschwert: »War’s das wirklich wert, einen ganzen Vormittag für vier Besoffene zu verplempern?!«
Erst da macht Dùmini den Mund auf. Ein zorniger Schrei entfährt seinem vom Alkohol brennenden Magen. Wir kommen wieder! Das Versprechen verliert sich in der Dieselwolke des Panzerfahrzeuges.
Sie sind kaum zwanzig Kilometer gefahren, da wird die Narrenposse bereits zur Heldentat. Als die Vororte von Florenz in Sicht kommen, besingt Frullini den Mut, der sie dem Tod um Haaresbreite entrinnen ließ. Es stimmt: Diese Bauern hätten sie nur zu gern mit ihren Hacken in Stücke gehauen und ihre Reste auf den torfigen Feldern verteilt. Doch der Bandenführer hört nicht mehr hin. Er hüllt sich in Schweigen und überlässt sich dem Brummen des Motors. Sie haben sich nur ein weiteres Mal zum Affen gemacht.