Der Grundstein für das Castello Estense in Ferrara wurde am 29. September des Jahres 1385 gelegt, am Tag des heiligen Michael, Schutzpatron der Pforten und Festungen. Ein gewaltsamer Volksaufstand im Mai desselben Jahres hatte Markgraf Niccolò II. zum Bau der Festung bewogen.
In den beiden darauffolgenden Jahrhunderten entwickelte sich das Castello von Ferrara zu einem der größten architektonischen, künstlerischen und städtebaulichen Meisterwerke der europäischen Renaissance. Seine Säle beherbergten einen der prächtigsten Höfe seiner Zeit und machten aus Ferrara, einem entlegenen Flecken inmitten der Sümpfe, eines der bedeutendsten Zentren der Welt. In den herrlichen Alabasterkammern erschuf Lucrezia Borgias Gemahl Alfonso I. d’Este eine der ersten Kunstsammlungen der Geschichte.
Vier Jahrhunderte später weht am 3. November 1920 mitten im Zentrum Ferraras auf dem Turm von San Paolo an der südwestlichen Ecke des Castellos die rote Fahne. Auf der Mauer, die der herzoglichen Kapelle und dem Orangengarten gegenüberliegt, prangt ein mit leuchtend rosaroter Farbe hastig hingeschmierter Schriftzug: »Es lebe der Sozialismus.«
Aus den Kommunalwahlen gehen die Sozialisten erneut als Sieger hervor. Im Umland von Ferrara hat es die Arbeiterpartei auf 10 185 Stimmen gebracht, die anderen Parteien auf insgesamt 2921. Die Partei der proletarischen Revolution hat 54 Kommunen von 54 erobert. Nun ist die gesamte Provinz in ihrer Hand.
Nach der ersten Ratssitzung innerhalb der Festungsmauern im Salone dei Giochi, in dem die Este ihre illustren Gäste unter einer herrlichen, mit sportlichen und mythologischen Szenen bemalten Decke zu empfangen pflegten, haben die Anführer der Bauernverbände und der Arbeiterkammer ein Bankett im Regierungssaal ausgerichtet. Ein wenig hämische Genugtuung lässt sich nicht verhehlen: Was die edlen Herren konnten, können wir erst recht. Unter der vielgestaltigen hölzernen Kassettendecke wird gegessen, getrunken und gesungen. Auf den Tellern saftige, rustikale Speisen, Salama da sugo, eine aus verschiedenen Teilen des Schweins – Nacken, Backe, Zunge, Leber – hergestellte und mit Salz, Pfeffer und Muskatnuss gewürzte Wurst. In den Gläsern ein nachmittäglich bekömmlicher Wein. Für das proletarische Gepräge hat man den Pförtner des Castellos ans Kopfende gesetzt. Er heißt Ghelandi und ist, soweit man den Berichten des Präfekten glauben darf, ein Schläger. Nachdem der Pförtner auf dem Platz des Renaissancefürsten dem Lambrusco reichlich zugesprochen hat, heizt er seinen Tischgenossen ein: »Macht es wie ich, bei Demonstrationen gehe ich immer ganz nach vorn, und wer mich daran hindern will, kriegt eins aufs Maul.«
Gleich nach den Kommunalwahlen schreibt Ferraras Präfekt Eugenio De Carlo nach Rom. Die Lage erscheint ihm brandgefährlich. In Fossana wurden fünf Carabinieri blutig geschlagen, viele Wähler sind mit erhobenen Händen zu den Wahllokalen geführt worden, die militanten Proletarier fühlen sich unbesiegbar, Amtsmissbrauch häuft sich. Die sozialistischen Räte stimmten sogar für die Deckung ihrer Werbe- und Wahlkosten durch öffentliche Mittel. Die Sozialistische Partei von Ferrara trat mit dem Programm ihres Sekretärs Giuseppe Gugino zur Wahl an, der öffentlich erklärte, seine Teilnahme habe das einzige Ziel, sich der staatlichen Instrumente zu bemächtigen, um Revolution zu machen. Die Vorsitzenden der Arbeiterkammer haben keinen Zweifel, dass die Revolution auf dem Weg ist. Der Abgeordnete Ercole Bucco, ein winziger Mann mit runder Buchhalterbrille, Propagandist in den Provinzen Ferrara und Mantua und jetzt Sekretär der Arbeiterkammer Bologna, boykottiert systematisch jede Vereinbarung, auch wenn sie für die Bauern von Vorteil ist, und erhöht den Einsatz, um sie zum Scheitern zu bringen. Entlang der Via Emilia wettet Bucco auf die Katastrophe, um die Revolution zu gewinnen.
Derweil hat der im September in Baku abgehaltene Kongress der Völker des Ostens den Kommunismus in Asien verbreitet. Die russischen Genossen haben Kasachstan erobert, das Emirat Buchara niedergeworfen und marschieren nun auf Samarkand. Baku liegt an der Westküste des Kaspischen Meeres in Aserbaidschan, mitten in Zentralasien und verloren in den Legenden Marco Polos und seiner Seidenstraße, und dennoch wächst der revolutionäre Rausch auch in Ferrara, in der Ebene am Ufer des Po. Der Rausch schwillt an, der rote Fleck breitet sich aus, bis zum Blut ist es nicht mehr weit. Man bewegt sich auf Messers Schneide: »Ein kurzes Zögern, und die Provinz wird auf Jahre und vielleicht für immer verloren sein«, warnt der Präfekt.
Inzwischen schwingt in seinen Berichten ein düsterer, fast märtyrerhaft schicksalsschwerer Unterton mit. Aus seinem Büro an der Ostseite kann er sehen, dass die Gräben rund um das Castello Estense noch immer voll Wasser stehen. Es wäre nicht das erste Mal in der Geschichte Ferraras, dass man unliebsame Mitbewohner darin ertränkt.
Doch dann wird die Rote Armee im Westen vor den Toren Warschaus überraschend geschlagen. In ebendiesen Tagen geht ein plötzlicher Hagelschauer über den Äckern rund um Ferrara nieder und dezimiert die Rote-Bete-Ernte im Vergleich zum Vorjahr um ein Drittel. Überdies ist der Hanfpreis drastisch gefallen. Manchmal genügt schon eine schlechte Ernte …