Der Vertrag von Rapallo zwischen Italien und Jugoslawien zur Lösung der Adriafrage wurde am 12. November überraschend verkündet. Die italienische Ostgrenze wurde bis zum Krainer Schneeberg verschoben und bedeutet Sicherheit für Triest. Allerdings hat Italien auf Dalmatien verzichtet. Nur Zara ist ihm zugesprochen worden, ohne Hinterland und ohne die umliegenden Inseln. Somit bleibt Zara ein italienischer Felsen im kroatischen Meer. Im Geiste des diplomatischen Kompromisses hat Fiume den Status vollständiger Unabhängigkeit erhalten, doch Sušak, der östliche Küstenvorort, zu dem der Baross-Hafen gehört, ist an Kroatien gegangen. Die Stadt »Olocausta«, »Stadt des Lebens«, ist nun weder italienisch noch kroatisch und mitsamt dem Osten vom Seehandel abgeschnitten. Die Nachricht schlägt ein wie eine Bombe. Eine Tonne TNT, die D’Annunzios Träume in die Luft gejagt hat.
Dennoch hat sich Mussolini auf den Seiten des Il Popolo d’Italia »ehrlich zufrieden« erklärt. Bei Fiume hat er zwar einen Unterschied gemacht, aber hinzugefügt, dass diese Lösung unter allen erwogenen die beste sei. Über Dalmatien hat er Missfallen geäußert und für die Zukunft eine Korrektur für möglich gehalten: Die Rechte der Völker, schrieb er, verjähren nicht. Doch insgesamt hat er den von Giolitti ausgehandelten Kompromiss offen und lauthals begrüßt. Der Artikel ist ein schwerer Schlag. Ein gezielter Nackenhieb gegen die Faschisten von Fiume.
In Fiume beteiligen sich sogar Mitglieder der Faschisten am Feuer auf der Piazza Dante, in dem man den Stoß des Il Popolo d’Italia mit dem schmählichen Artikel verbrennt. Sie schicken der Zeitung ein erzürntes Telegramm. Das Wort »Verrat« macht offen die Runde. Wieder dieses Wort.
Um es aus der Welt zu schaffen, war er, Benito Mussolini, der ewige Verräter, der Barde des Krieges, zu einem Friedensappell gezwungen. Einem Appell an den Frieden und die Größe. Um zu ihnen zurückzufinden, schrieb er tags darauf in seiner Zeitung, muss man den Blick zum Horizont erheben. Man darf nicht auf die Adria starren, sie ist nur ein bescheidener Golf im weiten Mittelmeer, in dem die Expansionsmöglichkeiten für Italien riesig sind.
In den Spalten seiner Zeitung hat Benito Mussolini an den Frieden appelliert, doch wie immer bereitet er den Krieg vor. Die Front verläuft durch die Poebene, von Mailand bis Cremona, Bologna und Ferrara, und nicht an den Hängen des Krainer Schneebergs zwischen Italien und Jugoslawien. Die Sozialisten, die an den Urnen gesiegt haben, beginnen auf den Plätzen Niederlagen einzustecken, sie weichen aus, treten den Rückzug an, und nun gilt es, dem geschlagenen Heer nachzusetzen. Zu diesem Zweck muss man die Reihen für alle Kräfte der Reaktion öffnen, für das Bürgertum, das das Märchen von der Revolution tatsächlich geglaubt hat. Bis jetzt verlief der Kampf im Verhältnis einer gegen hundert, doch nach dem Rückzug werden sich alle ein Herz fassen. D’Annunzio soll ruhig bei seiner fixen Idee von der Adria bleiben und sich auch gern daran aufhängen, wenn er meint. Durch den Präfekten Lusignoli hat Mussolini seine denkbar klare Botschaft an Giolitti übermitteln lassen: Falls erforderlich, sei die Bahn frei zur Niederwerfung der Legionäre von Fiume, diesen Zauberlehrlingen mit ihren Destillierkolben. Die Mailänder Faschisten werden keinen Finger rühren.
Im September ist der alte Freund Pietro Nenni anlässlich der Verkündung der Carta del Carnaro zum ersten Jahrestag des Marsches auf Fiume dort gewesen. Zurück in Mailand, hat Nenni von biblischen Exzessen und grotesker Prasserei berichtet. Am einen Tag äfft D’Annunzio mittelalterliche Herrschaft nach, erzählt er, und am nächsten führt er sich auf wie ein Renaissancefürst. Die Polizei schickt Berichte, in denen Fiume als »Eldorado aller Laster« und »Schlaraffenland« bezeichnet wird. Der Verfall ist so eklatant, dass die Bezirkskrankenhäuser Fälle von Beulenpest vermelden. Nenni hat sogar den Seher nachgemacht, wie er vom Balkon des Rathauses mit dem Volk redet. Eine Farce, eine einzige Farce. Schluss mit den von Dichtern unterschriebenen Blankowechseln.
Mit Giolitti beginnt das große Spiel, und dieses große Spiel verlangt Vielseitigkeit. Man kann nicht weiter wie gelähmt auf zwei Klippen in der Adria starren. Das ist etwas für Alterssichtige, er hingegen war schon als Kind weitsichtig. Bei ihm geht das weitere Sichtfeld mit größerer Unschärfe einher. Ein gesteigertes Sehvermögen, das einen zugleich daran hindert, die Feinheiten zu erkennen und unbedeutenden Kleinkram im Blick zu behalten. In Zeiten, in denen das Unbedeutende das einzig Bedeutsame ist, ist das fraglos eine schwere Beeinträchtigung. Doch Benito Mussolini ist das gleich. Sobald er gezwungen ist, die kleinen Missgestalten in den Blick zu nehmen, die sich in den hinteren Winkeln des Weltalls tummeln, wird das Bild unscharf, die Großbuchstaben der herrlichen Schlagzeilen sieht er allerdings so scharf wie kaum ein anderer. Es ist Zeit, in großem Stil zu spielen.
Die Versammlung des Zentralkomitees der Fasci am 15. November ist jedoch ein Treffen von Alterssichtigen. Die Atmosphäre ist zum Zerreißen gespannt. Schon die Sitzordnung am Tisch in der Via Monte di Pietà spaltet sich in zwei Lager. Cesare Rossi, Massimo Rocca und Umberto Pasella sitzen auf Mussolinis Seite. Auf der anderen Seite sitzen Cesare De Vecchi, Piero Belli, Pietro Marsich und die übrigen unverbesserlichen Fiumaner. Auch eine Delegation Dalmatiner ist da; sie hat keinen Sitzplatz bekommen und lehnt wie ein tragischer Chor an der Wand.
Der Gründer spricht als Erster. Er wiederholt die bereits in seinen Zeitungsbeiträgen dargelegten Gründe. Sowohl hinsichtlich der neuen Grenzen von Julisch Venetien als auch für Fiume ist der Vertrag von Rapallo insgesamt zufriedenstellend. Für Dalmatien ist er es natürlich keineswegs. Dennoch muss man ihn mit nationalem Anstand als gegeben hinnehmen. Das Land ist zutiefst erschöpft, die Sozialisten sind in Lauerstellung und bereit, sich jede Krise zunutze zu machen, um wieder Oberwasser zu gewinnen, die Leute wissen nicht einmal, wo Dalmatien überhaupt liegt. Er schlägt eine Tagesordnung vor, in der sich besagte Positionen widerspiegeln. D’Annunzios Aufstand war eine großartige Unternehmung, doch nun hat sie Wundbrand bekommen, und Wundbrand gehört herausgeschnitten.
Die Reaktion der internen Opposition trifft ihn mit unerhörter Wucht. Pietro Marsich, der glühendste Anhänger D’Annunzios in der faschistischen Führungsriege, greift ihn offen an. Er leitet die venezianischen Fasci, er ist Anwalt, ein hochgebildeter, integrer, idealistischer Mensch, ein Schwachkopf. Er redet wie ein Risorgimento-Patriot und zetert, die »schändlichen Unterhändler von Rapallo« mögen ihren »unheilvollen Vertrag« ruhig umsetzen, deshalb sei der Fiumanismus noch längst nicht am Ende. Die »kühne Revolution«, die 1915 gegen das »alte, zynische, saftlose, feige und von Giovanni Giolitti würdig vertretene Italien« begonnen hat, wird weitergehen.
Es ist nicht schwer, Marsich den Wind aus den Segeln zu nehmen. Man muss ihm nur recht geben. Heikel wird es erst, wenn die Dalmatiner reden. Sie sind Italiener seit den Zeiten des Römischen Reiches, und nun verdammt sie der Vertrag zum kroatischen Joch. Rührung macht sich im Saal breit, und Rührung bei erwachsenen Männern ist immer gefährlich.
Deshalb ergreift Mussolini abermals das Wort. Die Dalmatiner sollen klar sagen, wofür sie stehen. In diesem Raum sind alle auf ihrer Seite, doch es braucht Klarheit. Was wollen sie? Die Anbindung bis Cattaro? Eine italienisch-jugoslawische Republik? Völlige Autonomie? Die noch immer von Rührung getragene Diskussion setzt sich fort. Mussolini schaltet sich ein drittes Mal ein. Er versteht, dass die Dalmatiner sich als einfache Handlanger D’Annunzios sehen, aber das sind sie nicht, bei ihnen liegt die Verantwortung der Tat! Wenn D’Annunzio sich morgen in den Kopf setzen sollte, ganz Dalmatien zu annektieren, könnten sie ihm keinesfalls folgen. Die Dalmatiner sollen klipp und klar sagen, was sie wollen. Die Diskussion geht unverändert weiter. Er schaltet sich ein viertes Mal ein. Sie müssen begreifen, dass dies nicht nur eine Gefühlsfrage ist: Das Schicksal der Nation hängt von ihr ab. Wenn es so weitergeht, wird er schlicht und einfach bei seiner Tagesordnung bleiben.
Zwei Stunden später macht Benito Mussolini einen Schritt zurück. Er zieht seine Tagesordnung zurück und lässt sich auf eine andere Vereinbarung ein. Ein Kompromiss, wie immer. Er stimmt den neuen Grenzen zu, ist aber, was Dalmatien betrifft, strikt gegen sie und betont, dass Fiume italienisch sein muss. Die interne Krise des Faschismus ist abgewendet. Nicht einmal Cesare Rossi begreift, was los ist. Sogar Cesarino ist von dieser Kehrtwende wie vor den Kopf geschlagen. Während des gesamten Wortgefechts hat er neben Mussolini gesessen und ist nun zu keinem Schritt zurück bereit. Die Tagesordnung wird mit seiner Gegenstimme angenommen.
Am selben Abend schreibt der Gründer der Fasci an D’Annunzio: »Mein lieber Comandante, das lange Schweigen hat weder meine Stimme geschwächt noch meine Inbrunst geschmälert … Wir müssen unsere Ziele klar umreißen, um das nationale Bewusstsein zu bewegen, zu rühren, zu lenken. Das heißt: ganz Dalmatien von Zara bis Cattaro? Oder aber unsere Kräfte darauf konzentrieren, wenigstens das Dalmatien des Londoner Vertrages zu retten? Sagt mir ein Wort zu dieser Angelegenheit. Was das Wie und Wann betrifft, vertraue ich auf Euch.« Ein Meisterwerk der Heuchelei. Doch wen juckt es am Ende, abermals Verräter genannt zu werden?
D’Annunzio antwortet nicht. In den folgenden Tagen wenden sich viele von ihm ab, vor allem die höheren militärischen Dienstgrade: Admiral Millo, Grenadierkommandant Carlo Reina, Luigi Rizzo, der die SMS Szent István heldenhaft versenkt hat, und General Ceccherini, der in den Aufstandsfantasien die Bersaglieri zum Sturm auf das Parlament in Rom hätte führen sollen. Der seinem Schicksal überlassene Comandante schweigt. Antworten wird der Dichter, der am 20. November anlässlich eines Konzerts von Toscanini im Teatro Verdi in Fiume spricht: »Und nun sind wir wieder allein, allein gegen alle, mit unserem einsamen Mut.«