»Wenn ein Manipel in einer Stadt ohne Nachschub belagert wird, gibt es nur einen Ausweg: Er muss hinaus und sich der Schlacht im offenen Feld stellen.«
Alceste De Ambris schiebt den Kopf vor, sodass sein grauer Knebelbart dem Gegenüber noch ein Stückchen näher kommt.
Der Gründer des italienischen Gewerkschaftsbundes und der Gründer der Fasci kennen sich seit Jahren. Zu Zeiten des Interventionismus gingen sie Seite an Seite. De Ambris war am Entwurf des ersten Manifests der Fasci beteiligt. Seit Alceste 1908 in Parma den ersten großen Agrarstreik in der italienischen Geschichte anführte, bewundert Mussolini diesen revolutionären Gewerkschafter. Der König hatte die Ulanen von Montebello schicken müssen, um die außer Rand und Band geratene Arbeiterkammer des proletarischen Viertels Oltretorrente zu räumen. An jenem Tag hatte sich De Ambris gewaltsam Zutritt in das Pantheon des revolutionären Sozialismus verschafft.
Jetzt, zehn Jahre später, soll Alceste De Ambris auf D’Annunzios Geheiß einen letzten Versuch unternehmen, die Faschisten zur Verteidigung der Legionäre von Fiume zu bewegen. Im Morgengrauen des 1. Dezember haben sich auf Giolittis Befehl zwei Panzerkreuzer, acht Zerstörer und zwei Schlepper vor dem Hafen von Fiume postiert. Die Belagerung hat begonnen. Die Stadt steht unter Beschuss. De Ambris beugt sich noch ein Stück weiter vor.
»Ist Mussolini ein Freund?«
Die Frage hängt zwischen den beiden alten Kameraden in der Luft. Mussolini öffnet die gelblederne Aktenmappe, die er stets bei sich trägt, zieht ein Taschentuch hervor und schnäuzt sich die Nase.
»Ich werde diesen Schnupfen einfach nicht los. Ständig schleppe ich ihn mit mir herum, er ist wirklich hartnäckig.«
»Ist Mussolini ein Freund?«, fragt De Ambris noch einmal.
»Aber gewiss bin ich ein Freund! Erst gestern habe ich in der Zeitung bekräftigt, dass ich der Allererste sein werde, der die Italiener auffordert, sich wie ein Mann gegen die Regierung zu stellen, sollte diese es wagen, dem Militär das Feuer gegen die Legionäre zu befehligen.«
»Und bist du bereit, deine Leute unter D’Annunzios Kommando zu stellen?«
Der dritte Mann im Raum, der junge Protokollführer Umberto Foscanelli, sieht abwartend von seinem Blatt auf. Es wurde vereinbart, den Bericht der Unterredung an das Zentralkomitee der Fasci wie auch an Kommandant D’Annunzio zu übermitteln.
»Du musst D’Annunzio davon überzeugen, den Vertrag von Rapallo anzunehmen«, bricht es aus Mussolini heraus. »Es gibt nur ein Mittel, ihn zu brechen: eine interne Revolution gegen die Regierung, die ihn unterzeichnet hat. Eine Revolution von innen heraus ist allerdings völlig undenkbar, denn das italienische Volk hat sich zu 99 Prozent mit einem tiefen Seufzer der Erleichterung den vollendeten Tatsachen gefügt. Alle lassen euch im Stich.«
Die Liste der Fahnenflüchtigen ist lang. Der Ökonom Maffeo Pantaleoni hat an D’Annunzio geschrieben und ihn angefleht, es endlich gut sein zu lassen. Auch Admiral Millo, der Zara mit einer regulären Garnison belegt hatte, hat seine Treue zum König beteuert und mit D’Annunzio gebrochen. General Ceccherini und Oberst Siani sind gegangen und haben sich über die unerträgliche Disziplinlosigkeit der Legionäre beklagt. Auf ihr bedauerndes Entlassungsschreiben hat der Comandante geantwortet, die unumschränkte Macht könne er nicht abgeben: »Es ist unerlässlich, dass ich dieses Vorrecht behalte. Es ist die einzige Freude in endloser Langeweile.«
De Ambris lässt nicht locker. Der Aufstand ist möglich: Von Fiume kann man auf Rom marschieren. Er erläutert die Einzelheiten des Plans. In Fiume gibt es mehrere Marineeinheiten: den Kreuzer Mirabello, die Zerstörer Abba, Bronzetti, Nullo, eine MAS-Flottille mit voller Besatzung. Zwar wachen auf See die Dante und weitere Schiffe der königlichen Marine, doch mit einigen dieser Einheiten wurden bereits Fahrten nach Zara unternommen; von Zara nach Ancona ist die Entfernung überschaubar. Die Fiumaner Truppen würden in Ancona an Land gehen, wo das Bersaglieri-Regiment bereits im Juli gegen die Verschiffung nach Vlora rebelliert hat. Man müsste sich mit den Faschisten aus den Marken absprechen. Die Seeleute von Kapitän Giulietti sind noch immer Freunde …
»Und die Sozialisten in Oberitalien? Und das rote Bologna?!« Mussolini platzt der Kragen. Bis jetzt hat er zugehört und sich mit dem Taschentuch die Nase gewischt, doch nun reißt er die Lider auf und rollt mit den Augen wie immer, wenn er sein Gegenüber bannen will. »Seit dem Massaker am Palazzo d’Accursio herrscht Krieg. Lest ihr in Fiume denn keine Zeitung!?«
De Ambris gibt sich unbeeindruckt und fährt mit der gewissenhaften Darlegung seines Plans fort. Die aus Parma stehen geschlossen hinter ihnen, versichert er. Man muss den Arbeitermassen klarmachen, dass D’Annunzios Leute ihnen die Verfassung der Regentschaft am Quarnero bescheren, deren Gesetze vor allem die Arbeit schützen; man muss ihnen klarmachen, dass ihre Revolution vor allem dem Volk dient; man muss der unzulänglichen Verbreitung der Carta del Carnaro abhelfen … Ihr innovativer Geist wurde nicht ausreichend bekanntgemacht … daran ist auch Il Popolo d’Italia nicht ganz unschuldig …
Mussolini scheint gar nicht mehr zuzuhören. Er antwortet einsilbig, kühl und ausweichend, wischt sich ständig die Nase, weist – allerdings nur halbherzig – auf die möglichen Schwierigkeiten hin, auf die jugoslawischen Truppen, die gegen die Grenze drängen, auf die mangelnde Versorgung, auf einen Winter ohne Kohle.
Mit den Härten der Jahreszeit, der Nässe und dem Schnupfen endet die Unterredung. Foscanelli wird angehalten, die Gesprächsnotizen zu zerreißen. Das ist der einzige Punkt, in dem sich Mussolini und De Ambris einig sind. Die Papierschnipsel landen im Ofen.