Das Auto, das in der Via Lovanio parkt, ist ein Bianchi Torpedo S3, der Nachfolger des vom Generalstab des italienischen Heeres zur Beobachtung der Manöver im Großen Krieg verwendeten Modells. Ein herrschaftlicher Wagen – vier Plätze plus Klappsitze –, der eines Commendatore würdig ist und mit seinen tangentialen Speichen zugleich der Welt der Sportwagen zublinzelt.
Er fährt ihn selbst. Man rechnet förmlich damit, auf der Beifahrerseite eine elegante Dame aussteigen zu sehen. Margherita Sarfatti enttäuscht die Erwartungen nicht. Sie trägt einen schmalen Rock mit weitem Saum aus elastischem, glänzendem Jerseystoff, der sich nach der neuesten Pariser Mode eng um die Hüften schmiegt. Die Via Lovanio, die einen Steinwurf von der Accademia di Brera entfernt und gleich hinter der Via Solferino und dem Haus der bürgerlichen Zeitung Corriere della Sera liegt, ist nicht minder elegant.
In wenigen Tagen wird auch die Redaktion des Il Popolo d’Italia hierherziehen. Die Druckerei ist bereits umgezogen, die Rotationsmaschinen laufen wieder. Das hier ist ein anderes Mailand als das der vollgepissten Gassen des Bottonuto. Im stinkenden Verhau in der Via Paolo da Cannobio hat man Mussolinis Schreibmaschine bereits eingepackt, zusammen mit den Theaterrevolvern und der Arditi-Fahne.
Sogar der Direktor sieht heute ungewöhnlich vornehm aus. Schwarzer Anzug, Melone, Hemd mit steifem Kragen, Seidenkrawatte, weißes Einstecktuch. Entgegen seiner Gewohnheit hat er sich beim Barbier rasieren lassen. Seine erste Sitzung beim Fotografen verlangte danach. Kaum ist sie aus dem Wagen gestiegen, nimmt die Frau, die ihn erst neu eingekleidet und dann zum Fotografen geschleppt hat, wohlwollend seinen Arm.
Chefredakteur Michele Bianchi, Manlio Morgagni, der Anzeigenverkäufer, und sein zum Geschäftsführer aufgerückter Bruder Arnaldo erwarten den Direktor bereits. Schon bald führt die kurze Begehung der Räumlichkeiten in das zukünftige Zimmer der Zeitungsdirektion. Es ist mindestens dreimal so groß wie das Kabuff in der Via Cannobio und zudem hell, eingerichtet mit einem Mahagonischreibtisch, Regalen, erlesenen Möbeln, Bildern, die die zeitungseigene Kunstkritikerin Sarfatti selbst ausgewählt hat, und einem Lesesessel.
»Ein Sessel!? Was hat der Sessel in meinem Büro zu suchen!?« Mussolini flucht, reißt die Augen auf und richtet die kreisenden Pupillen auf das harmlose Möbelstück wie auf einen erbitterten Feind. »Ein Sessel für mich?! Raus damit, sonst schmeiße ich ihn eigenhändig aus dem Fenster. Sessel und Pantoffeln verderben den Mann!« Margherita lächelt. Die Raumgestalterin gibt sich völlig unbeeindruckt, die kleine Vorstellung für die Geliebte war erfolgreich.
Die Besichtigung wird im Nebenzimmer fortgesetzt, das noch Baustelle und vollkommen leer ist, ohne Decke und ohne Fliesen auf dem blanken Zement. Es soll als Waffenraum dienen. Der Direktor kann dort seine üblichen Fechtstunden nehmen, ohne die Zeitung zu vernachlässigen. In seiner bürgerlichen Kluft, die Melone auf dem Kopf, mimt Benito Mussolini in dem kahlen Raum eine Fechthaltung, Faust in der Terz, die imaginäre Waffe vorgestreckt. Gewalt ist immer mehr an der Tagesordnung.
Nach dem Blutbad von Bologna kam es zur Eskalation. Der Anstieg war exponentiell, die Richtung klar und eindeutig, wie von einem angeborenen Instinkt vorangetrieben. Die Toten und Verletzten lagen noch auf dem Platz, da scharten sich die Faschisten bereits in Reih und Glied zusammen und zogen ihre Hymnen singend durch die Straßen. Schon am nächsten Tag hatte ihr Aufstieg begonnen – Tausende neue Mitglieder binnen weniger Tage –, und die Faschisten hatten nicht die geringste Absicht, die Waffen niederzulegen. Arpinati hatte es öffentlich kundgetan: Solange die Gewalt auf dem Land nicht vorüber wäre, solange die staatlichen Institutionen nicht wieder Herr der Lage wären, würde der Bologneser Fascio die Waffen in der Hand behalten.
Sofort hatte Mussolini Cesare Rossi und Celso Morisi aus Mailand geschickt, um die Bildung der Squadren zu koordinieren. Die paramilitärischen faschistischen Einheiten, von denen der machtwillige Gründer so lange und vergeblich geträumt hatte, entsprangen nun wie von selbst dem auf der Piazza Maggiore in Bologna vergossenen Blut. Rossi hatte ihm erzählt, die Faschisten seien bereits während des Trauerzuges für Giordani am 23. November in Formation und mit dem städtischen Banner durch das Spalier der Menge marschiert. Von den Sozialisten keine Spur. Sie hatten sich nicht einmal getraut, aus Protest gegen den faschistischen Übergriff den Generalstreik auszurufen. Die totale politische Vernichtung. Am selben Tag hatte der Stadtrat sein Amt niedergelegt, am Abend wurde die provisorische Verwaltung einem Präfekten übertragen, am nächsten Tag war der Kommissar der Präfektur eingesetzt worden. Dann hatte die Jagd auf die roten Hexen begonnen.
Am 28. November war Arpinati in Begleitung einer Faschistensquadra zum Monte Paderno aufgebrochen, um den Anführer zu warnen, und hatte auf dem Rückweg die rote Fahne mit dabei. Sie wurde in der Via Indipendenza verbrannt. Bei einer Zusammenkunft sämtlicher antibolschewistischen Vereinigungen im Teatro Comunale am 4. Dezember waren die Faschisten mit dem Ruf »Raus mit den Barbaren!« empfangen worden. Am 7. Dezember hatten sie die Arbeiterkammer in Castel San Pietro geplündert, am 9. gab es einen Kampf in Monzuno, am 18. hatten sie die sozialistischen Abgeordneten Bentini und Niccolai vor dem Gericht abgepasst und mit Knüppeln traktiert, am 19. war der Abgeordnete Misiano an der Reihe, der Deserteur. Und nun war man beim 20. Dezember, nur fünf Tage vor Weihnachten.
Just heute Morgen hatte der mit überwältigender Mehrheit zum Sekretär des Bologneser Fascio gewählte Arpinati per Telegramm bekanntgegeben, er sei auf einem Feldzug nach Ferrara unterwegs, um eine Kundgebung der örtlichen Faschisten zum Gedenken an den vor dreißig Tagen im Palazzo d’Accursio ermordeten Anwalt Giordani zu unterstützen. Aus Ferrara hatte man zudem 3000 Parteiabzeichen angefordert, um die Kundgebung zu einem Erfolg zu machen. Man wollte die Kosten sogar im Voraus begleichen.
Überall waren die Aktionen der faschistischen Squadren von einer Welle der Begeisterung und einhelliger Zustimmung begrüßt worden. Erfolg auf ganzer Linie, die totale Erschütterung, der rote Zauber war gebrochen, und das nicht nur in Bologna. Rasend schnell breitete sich die siegreiche Gewalt entlang der ganzen Via Emilia aus: Mit Unterstützung der Landbesitzer gewannen die Faschisten in der Gegend um Rovigo entlang der Achse Cavarzere-Cona-Correzzola-Bovolenta an Boden, in Adria hatten Squadren die Kooperativen der Tagelöhner verjagt, die das große Gut Oca besetzt hatten, in Modena hatten sie die Gemeinderäte angegriffen, in Carpi die Arbeiterkammer; von dort waren die Aktionen bis nach Reggio und Mantua vorgedrungen; in Bra bei Cuneo hatten die Faschisten unter der Führung De Vecchis die »roten Garden« mit Knüppeln bis ins Rathaus verfolgt. Es hatte einen Dominoeffekt gegeben, von der Selbstverteidigung ging man zum Gegenangriff über, unaufhaltsam erblühte der Faschismus in sämtlichen Provinzen Italiens. Schlachtstimmung lag in der Luft.
Bald würden sie unbezwingbar sein, hatte Mussolini auf den Seiten seiner Zeitung verkündet, ihre große, großartige Stunde sei nah. Fasst euch ein Herz! Lasst uns Furcht in Hass verwandeln und uns dem Feind entgegenwerfen. Bündeln wir unser aller Leben zu einem Rammbock!
Derweil hatten die armen Sozialisten »Hände hoch!« geschrien. Filippo Turati hatte seinen Prophetenbart über den Sitzen des Parlaments wehen lassen und eine überaus noble Rede gehalten. Er hatte die Schwäche der Behörden angeprangert, das unabsichtliche Gemetzel an den eigenen Genossen beklagt und die Institutionen und verfassungsmäßigen Freiheiten verteidigt. Turati hatte deutlich gemacht, dass er statt zu klagen an morgen denken wolle. Man müsse den allseitigen Ausschreitungen ein Ende setzen und deren Auslöser beseitigen. Es sei an der Zeit, schloss er, dass alle sich daranmachten, die Gemüter zu demobilisieren und zu entwaffnen. Zum Abschluss hatte er nonchalant ein kluges und ironisches literarisches Zitat fallenlassen.
Der Saal des Montecitorio hatte in ergriffenem Schweigen zugehört. Die aufgeklärte Presse hatte zustimmend applaudiert: Der alte Genius der Sozialisten hatte das Wunder vollbracht, in den Abgeordneten seiner Fraktion das sozialistische und in denen der Demokraten das liberale Gewissen wachzurütteln.
Während Mussolini Turatis Rede las, schüttelte er belustigt den Kopf. Es war nichts zu machen: Diese Leute konnten mit Brutalität einfach nichts anfangen. Eine wunderschöne Rede, keine Frage, doch das Terrain der Gewalt war nichts für Sozialisten. Gewiss, auf dem Land spielten sich die Verbände als Herren auf, in den Städten hielten die Arbeiterkammern den Klassenfeind mit Geldstrafen, Boykott und Erpressung klein, die sozialistischen Bauern hatten sogar ein paar Heuschober angezündet, zur Selbstverteidigung auf Polizisten oder Gutsbesitzer geschossen und vereinzelt gar Leichen geschändet und Mädchen auf dem Heimweg von der Messe vergewaltigt; sogar ein paar Faschisten hatten sie totgeprügelt, doch im Grunde war das nur ein Aufzucken atavistischer Wut, der zerschlagene Rücken, der in einem Anfall von Verzweiflung hochfährt und selbst zur Knute greift, der jahrhundertelang schikanierte Pachtbauer, der in einer schnapsseligen Vollmondnacht den Grundherrn, der seine Tochter vergewaltigt hat, im Schlaf erdrosselt, den Heuschober anzündet und sich anschließend erhängt. Die sozialistische Gewalt war eine unbestreitbare Tatsache, doch letztlich war dies ihr alleiniger Auslöser. Die sozialistischen Anführer schwafelten, sie wollten die Revolution mit bewaffneten Kämpfern organisieren, doch von Organisation konnte in Wirklichkeit keine Rede sein. Er kannte diese Leute gut, seit Jahrzehnten. In Sachen Gewalt waren sie echte Dilettanten und würden es immer bleiben.
Plötzlich füllt sich der leere Waffenraum. Ein Bote aus der Via Cannobio ist hereingestürzt: In Ferrara hat es mächtig gekracht.
Mussolini reißt sich aus seiner Meditation über dem nicht vorhandenen Degen. Er fragt nach Einzelheiten. Der Bote berichtet.
Am Rande einer von Ferraras sozialistischem Bürgermeister einberufenen Versammlung hat es gewaltsame Zusammenstöße gegeben. Aus einem Zug Sanitäter, die mit wehender roter Fahne zur Kundgebung unterwegs waren, fielen Schüsse auf die von rund fünfzig Bologneser Faschisten veranstaltete und von Arpinati angeführte Gegenkundgebung. Noch ist unklar, wer zuerst geschossen hat, doch allem Anschein nach haben die Bolschewiken auch von der Brustwehr des Castello Estense gefeuert, wo die Polizei die Handgranaten entdeckt hat. Der Angriff der »Roten« gegen die Faschisten war somit geplant. Offenbar haben mindestens drei Faschisten ihr Leben gelassen.
»Arpinati?«
»Arpinati lebt.«
Die Nackenmuskeln ziehen sich zusammen, die Nerven spannen sich, die Anwesenden machen auf dem Absatz kehrt. Die Besichtigung der neuen Räumlichkeiten in der Via Lovanio ist beendet.
Mussolini steigt wieder in den Torpedo; neben ihm, wo zuvor die Sarfatti saß, sitzt nun Michele Bianchi. Sie werden vom Mailänder Präfekten Lusignoli erwartet, ihrer Kontaktperson zum Ministerpräsidenten in Rom. Er will Zusagen, was den Umgang der Faschisten mit D’Annunzio betrifft. Schon vor geraumer Zeit hat Mussolini ihm versprochen, dass sie in Mailand keinen Finger rühren werden, doch wie aus dem Hinterhalt feuert der Herausgeber in seinem Il Popolo d’Italia seit Tagen heftige Spitzen gegen Giolitti ab, der damit droht, Fiume mit Kanonenschüssen zu räumen. Präfekt Lusignoli will Zusagen, und er soll sie bekommen: Das Giolitti gegebene Versprechen wird gehalten, die Zeitungspolemik soll den D’Annunzio treuen Faschisten nur Sand in die Augen streuen.
Nach dem Zwischenstopp in der Präfektur steigt man sogleich wieder in den Torpedo S3. Mit Vollgas geht es weiter. Man muss an mehreren Tischen spielen, an mehreren Fronten kämpfen, ständig in Bewegung bleiben. Jetzt gilt es eine Rede beim Salon des Automobilclubs zu halten, zum ersten Jahrestag des »Nationalen Legionärsverbands von Fiume und Dalmatien«. Die Präsidentin Elisa Rizzoli und die Patin des Vereinswimpels, Contessa Carla Visconti di Modrone Erba, werden anwesend sein. Auch sie werden bekommen, was sie haben wollen.