Er ist nicht mehr der Comandante. Seit Beginn des Angriffs blickt er, wie berückt von einer afrikanischen Fata Morgana, starr in die Ferne. Als die Nachricht von der Offensive am 24. Dezember gegen 18 Uhr den Kommandoraum erreicht, braucht Major Vagliasindi, der Inspekteur der Legionäre, eine Stunde, um von D’Annunzio den Schießbefehl gegen die Angreifer zu erhalten. In der Zwischenzeit sind die ersten vorgerückten Legionärseinheiten unweit von Cantrida bereits von den regulären Soldaten der königlich italienischen Armee umzingelt und gefangengenommen worden.
Seit Wochen erklärt sich D’Annunzio bereit, für die Sache zu sterben. Ihm bleiben nur fünftausend Legionäre, um Fiume zu verteidigen, und der Tod, nicht die Hoffnung, erscheint ihm als letzte Zuflucht. Doch jetzt, da der so oft angerufene Tod in Gestalt starker Verbände aus Alpini und Carabinieri tatsächlich naht – sie greifen an bestimmten Frontabschnitten vom Val Scurigna bis zum Meer an –, wirkt der Comandante eher verblüfft denn widerstrebend. Ist diese Kolonne von Männern mit der drolligen, in eine rote Quaste gesteckten schwarzen Feder am Filzhut also das Ende?
Der mit unerbittlicher Härte geführte Angriff der regulären Truppen war blitzschnell vorüber, obwohl sich die Legionäre mit dem Befehl, nicht zurückzuschlagen, bis zur letzten Widerstandslinie rund um die Stadt zurückgezogen hatten. Die lächerlichen Schilder, die an die Brüderlichkeit der Italiener appellierten – »Brüder, wenn ihr das große Unglück vermeiden wollt, übertretet nicht diese Linie« – wurden ignoriert. Doch als ihnen D’Annunzio endlich den Befehl erteilt, das Feuer zu eröffnen, gelingt es den Legionären, die Bruchstellen der Verteidigungslinie zu kitten und sogar einen Gegenangriff zu starten. Der Effekt des Überraschungsmanövers wird zunichte gemacht. Noch vor dem Abend ist die Verteidigungslinie rund um Fiume wiederhergestellt.
Als er erfährt, dass der Angriff zurückgeschlagen wurde, ordnet Korpskommandant General Ferrario für die Fortführung der Aktion am Weihnachtstag den massiven Einsatz der gesamten Artillerie an. In der Hoffnung auf ein Einlenken von D’Annunzios Leuten verhängt General Caviglio, Leiter der Operation, derweil einen Waffenstillstand bis zum Morgengrauen des 26. Dezember. In diesen vierundzwanzig Stunden Schwebezustand zwischen Leben und Sterben findet der Dichter seine Inspiration wieder. Er übergibt seinem Adjutanten einen Appell für Triest und Venedig: »Das Verbrechen ist begangen. Der Boden von Fiume ist mit brüderlichem Blut getränkt … In der Nacht tragen wir die Bahren unserer Verletzten und Toten fort. Wir leisten verzweifelten Widerstand, einer gegen zehn, einer gegen zwanzig. Niemand wird vordringen, es sei denn über unsere Leichen … Und das vor der Welt für immer entehrte Italien erhebt sich nicht? Es rührt keinen Finger?«
Doch Italien sitzt beim weihnachtlichen Mittagsschmaus und erhebt sich allenfalls für den üblichen Trinkspruch. Nur in Triest regt sich ein Aufstand zugunsten Fiumes, der auch dank der geringen Beteiligung der Bevölkerung unverzüglich niedergeschlagen wird.
Am 26. Dezember um 6:50 Uhr setzen die regulären Truppen ihren Angriff fort. Die vom Artilleriefeuer unterstützte Operation konzentriert sich auf das zentrale Gebiet. Sie scheitert erneut. Die Legionäre schwanken, halten jedoch die Linie, dann gehen sie zur Gegenoffensive über, bringen eine Kanone in ihren Besitz und nehmen Gefangene. Zur Mittagsstunde zeichnet sich ab, dass ein Eindringen in die Stadt ohne ein Blutbad unmöglich ist.
Um 12 Uhr befiehlt General Caviglia dem mit seinem Panzerkreuzer Andrea Doria vor dem Hafen von Fiume liegenden Admiral Simonetti, das Feuer auf die militärischen Ziele der Stadt zu eröffnen.
Nachdem er seinen Appell verfasst hat, wirkt D’Annunzio abermals abwesend, apathisch und ganz in seine rätselhafte innere Reise versunken. Allein in seinem Kommandoraum, tritt er auf den Balkon, von dem er mehr als ein Jahr lang zur Welt gesprochen hat, und starrt in die Ferne. Der nur achthundert Meter vom Ufer entfernte Panzerkreuzer Andrea Doria hat ihn genau im Visier. Der Dichter geht wieder hinein und schließt die Fenstertür des Balkons. Wenige Augenblicke später wird die Fassade des Palazzos von zwei 152er Granaten getroffen. Einer der Einschläge trifft den Fenstersturz des Arbeitszimmers. D’Annunzio fährt aus dem Sessel und krümmt sich zusammen, die Druckwelle lässt seinen Kopf heftig auf den Schreibtisch schlagen, Putzbrocken fallen von der Decke und verletzen ihn leicht im Nacken. Drei Offiziere stürzen herein und schleifen ihn an den Armen nach draußen. Auf dem Boden des Vorzimmers wälzt sich ein Maschinengewehrschütze auf dem Boden, ein Granatensplitter hat ihm einen Krater in den Rücken gerissen. Die herbeigeeilten Helfer befinden es für sinnlos, Zeit mit dem Sterbenden zu verlieren.
Der Kanonenschlag macht auf beiden Fronten jede Illusion zunichte. D’Annunzio erwacht. Der Einschlag reißt ihn aus seinem depressiven Dämmerzustand und verwandelt ihn in zornigen Rachedurst. Er befiehlt, das im Hafen von Fiume festgehaltene Kriegsschiff Dante Alighieri als Vergeltungsschlag gegen Italien zu torpedieren. Der Befehl wird nicht ausgeführt.
Unterdessen geht die Nachricht um, der Dichter sei tot. Doch er ist am Leben, und da er nun einmal so weit gekommen ist, beabsichtigt er das auch zu bleiben. Abermals führt der Zorn ihm die Feder. Er unterzeichnet den zweiten Appell seit Beginn des Angriffs. »O, ihr Feiglinge Italiens, ich bin noch immer am Leben und unversöhnlich.« Der Seher wettert gegen ein Volk, das unfähig ist, sich für die Gerechtigkeit zu erheben oder gar Scham zu empfinden. Er, der sein Leben hundertmal lächelnd dargeboten hat, ist nun nicht mehr bereit dazu. Bis zum letzten Tag sei er zum Opfer bereit gewesen, doch damit sei jetzt Schluss.
Vielleicht zum ersten Mal in seinem langen, flammenden Leben zeigt Gabriele D’Annunzio ansatzweise Gespür für das Lächerliche: Entschuldigt, aber bei aller Liebe, wie kann man sich für ein Volk opfern, das nicht eine Sekunde von seiner Weihnachtsschlemmerei aufblickt, während die Regierung seine Helden erbarmungslos abmurkst?! Für die Italiener ist jeder Heldentod verschenkt, bei jeder Kneipenrauferei zücken sie sofort das Messer, um einander abzustechen, aber sie machen nicht einen Finger krumm für Italien, für diese geografische und politische Abstraktion, mit der man kein Schwätzchen halten, herumflachsen oder ein Gläschen trinken kann, für dieses hohle Wort, das man nicht zum Abendessen an den Tisch bitten kann.
Während der folgenden achtundvierzig Stunden wird der Beschuss der Stadt fortgesetzt, wenn auch in schwächerer Form. Unter der Zivilbevölkerung gibt es einen Toten und mehrere Verletzte. Am Morgen des 28. Dezember weigert sich General Ferrario, Bedingungen für die Kapitulation der Legionäre auszuhandeln, und droht damit, die Bombardierungen zu intensivieren. Die Vertreter der Stadtbevölkerung flehen D’Annunzio an zu kapitulieren. Der Comandante gibt seine Macht ab: »Heute bin ich, wie in der Nacht von Ronchi, der Anführer der Legionäre. Ich habe nichts mehr als meinen Mut … Ich kann der heldenhaften Stadt nicht die Zerstörung und gänzliche Auslöschung gebieten … Ich lege die mir am 12. September übertragenen Befugnisse in die Hände des Bürgermeisters und des Volkes von Fiume.« Während der gesamten Gefechtswoche hat der Soldatendichter sein Arbeitszimmer so gut wie nie verlassen, um zu seinen Legionären an der Feuerlinie zu stoßen. Ein Schatten an der Wand.
Am 31. Dezember um 16:30 Uhr wird in Abbazia ein Abkommen zur totalen Demobilisierung der Legionäre aus der Stadt unterzeichnet. Während es auf Mitternacht zugeht, sieht Gabriele D’Annunzio die Zukunft. Sehr bald ist dieses schmerzreiche, grauenvolle Jahr vorüber. Sehr bald beginnt ein neues. Es ist bereits unseres. Es gehört uns.
Ein lorbeerbekränzter Totenschädel erscheint. Der Schädel hat einen Dolch zwischen den Zähnen und starrt aus seinen tiefen Höhlen ins Ungewisse.
Heute Nacht sehen die Toten und die Lebenden gleich aus und vollführen die gleiche Geste.
Wem gehört das Ungewisse?
Uns!