Weihnachten gehört abgeschafft. All diese Feiertage, all diese am Tisch verhockten Stunden, das viele Essen, die plärrenden Kinder, die schwatzenden Ehefrauen, die rumpelnden Eingeweide … Da wird man schlaff und quillt auf wie ein gewässerter Stockfisch. Zehn Tage Weihnachten im Kreis der Familie lassen einen um ein Jahr altern. Könnte er entscheiden, würde er dieses Fest sofort verbieten.
Beim weihnachtlichen Mittagessen hat die Familie Mussolini über drei Stunden am Tisch gesessen. Zu zehnt haben sie einen Nudelauflauf verschlungen, der für ein ganzes Regiment gereicht hätte. Obwohl er einen Panettone von Cova mitgebracht hatte, musste sich Rachele auch noch an einer Torte versuchen, die sie nach Anregung einer Frauenzeitschrift mittels einer Pappscheibe mit Lochmustern »kunstvoll« mit Puderzucker bestäubt hat; obendrein musste er das von der kleinen Edda aufgesagte Weihnachtsgedicht und das von seinem Bruder Arnaldo hergesagte Dankgebet für unseren Herrn Jesus Christus über sich ergehen lassen.
Den Nachmittag des Silvestertages 1920 verbringt Benito Mussolini jedoch friedlich in der Wohnung seiner jungen Geliebten, der Ceccato, unweit des Domes. Nach der Geburt des Bastards Ende Oktober hat er ihr eine kleine Unterkunft in der Via Pietro Verri 1 beschafft, für die er bereits 1200 Lire für sechs Monatsmieten im Voraus gezahlt hat. Die Freundin lebt dort mit ihrer Mutter und dem kleinen Glauco. So haben sie ihn getauft, auf den Namen eines homerischen Helden, der gemeinsam mit Sarpedon die Mauer erstürmt, die die Achaier zur Verteidigung gegen die Schiffe errichtet haben.
Glauco hat die dunklen Augen und Haare des Vaters, auch wenn der Eintrag im Meldeamt nur die Mutter ausweist: »Glauco Ceccato, Vater unbekannt.« Jedenfalls strahlt Bianca vor Freude, als Benito sie besuchen kommt. Sie zieht ihm die Schuhe aus, lässt ihn es sich im Sessel bequem machen und stellt keinerlei Fragen.
Immerhin ist er an diesem Nachmittag mit Süßigkeiten und Spumante gekommen, um auf das neue Jahr anzustoßen. Sie schmeichelt ihm mit der Bitte, ein wenig Geige für sie zu spielen. Sie sagt, nichts beruhige den kleinen Glauco so sehr wie das Violinspiel seines Vaters. Und er spielt gern. Die Zeiten, in denen er sich zwischen Heim und Bordell, Ehefrau und Nutten zerrissen hat, sind vorbei. Im kommenden Jahr wird er 38: Er wird langsam zu alt dafür. Andererseits hat auch ein gewissenhafter Familienvater das Recht – und womöglich gar die Pflicht – den Freuden des Lebens nicht zu entsagen.
Ohnehin hat er ein wenig Ruhe verdient: Die vergangenen Tage waren wie immer mühsam. Am 27. Dezember drängte das Leitungsgremium der Fasci darauf, die Militäraktion der Regierung gegen Fiume per Verlautbarung aufs Heftigste zu verurteilen. Der Antrag wurde bis auf seine Gegenstimme einstimmig angenommen. Doch am nächsten Tag präsentierte er den Lesern seiner Zeitung einen Artikel, in dem er D’Annunzio glühend verteidigte. Überschrieben war er »Das Verbrechen!«, mit großem Ausrufungszeichen. Wie dem auch sei, Fiume ist Schnee von gestern. Die Italiener haben sich anderem zugewendet, um es bloß nicht sehen zu müssen. Und vor einem leeren Theater konnte D’Annunzio seine Rolle nicht weiterspielen.
Das Theater der Fasci füllt sich derweil überraschend schnell. Zum ersten Mal muss Umberto Pasella die Mitgliederzahlen nicht mehr schönfärben. Nach den blutigen Ereignissen in Bologna und Ferrara ist die Zahl von 1065 verkauften Ausweisen im Oktober und November auf 10 860 im Dezember geschnellt. Inzwischen gibt es in Italien 88 Ortsgruppen mit 20 000 Mitgliedern. Allein in Bologna ist man schon bei 2500 Anhängern, dabei waren es Anfang November nur ein paar Dutzend. Zudem verlassen ganze Gewerkschaftszweige die sozialistische Arbeiterkammer. Im Laufe weniger Wochen haben Kommunal- und Provinzialbeamte, Zollbeamte, Hochschulprofessoren, Polizisten, Lehrer und Angestellte des Wohltätigkeitswerks ihren Mitgliedsausweis der Allgemeinen Arbeiterkonföderation zerrissen und sich bei den Faschisten eingeschrieben. Jedes Mal, wenn eine faschistische Squadra eine rote Fahne auf der Straße verbrennt, stehen Hunderte Kleinbürger vor dem Sitz des Fascio Schlange. Es ist ein Dominoeffekt, der Faschismus verbreitet sich rasend schnell. Es sind neue Leute, unbekannte Leute, Leute, mit denen er bis vor einem Jahr nicht einmal einen Kaffee getrunken hätte, eine Masse Angestellter und Kleinkrämer, die bis vor dem Krieg keine politische Meinung hatten, weder rechts noch links oder in der Mitte, weder rot noch schwarz, Menschen aus der ewigen Grauzone. Doch jetzt sehen sie nicht mehr tatenlos zu. Ja, das Publikum ändert sich.
Manchmal genügt eine schlechte Ernte wie in Ferrara, um Panik zu schüren. Panik, diese Hebamme der Geschichte, ist etwas Großartiges! Cesare Rossi wiederholt ständig, genau darin könne ihr wunderbarer Tauschhandel bestehen: Hass gegen Angst. Die neuen Faschisten sind allesamt Menschen, die gestern noch vor der sozialistischen Revolution gezittert haben, Menschen, die von Angst lebten, sich von Angst ernährten, sich mit der Angst ins Bett legten. Männer, die im Schlaf wimmerten wie Kleinkinder und auf die Frage der Ehefrauen »Was ist los, Liebling?« schnieften: »Nichts, es ist nichts, schlaf weiter.« An der Wertpapierbörse der Habenichtse wird jetzt das Schwermetall Angst gegen die hoch im Kurs stehende Währung tödlicher Hass getauscht.
Hasserfüllte Kleinbürger: Aus ihnen wird ihre Armee bestehen. Die aufgrund von Kriegsspekulationen des Großkapitals deklassierte Mittelklasse, die jungen Fähnriche, die nicht damit klarkommen, das Kommando abgeben und in ihren mediokren Alltag zurückkehren zu müssen, die kleinen Beamten, die kaum etwas so beleidigt wie die neuen Schuhe der Bauerstochter, die Halbpächter, die sich nach Caporetto ein Stückchen Land gekauft haben und nun bereit sind, dafür zu töten, alles brave Leute, die in Furcht und Sorge verfallen sind. Alles Leute, die bis in ihr Innerstes von dem unbändigen Wunsch erfüllt sind, sich einem starken Mann zu unterwerfen und zugleich über die Wehrlosen zu herrschen. Sie würden jedem neuen Herrn die Füße küssen, Hauptsache, man gibt auch ihnen jemanden, nach dem sie treten können.
Der kleine Glauco schläft, der Geigenklang hat ihn besänftigt. Bis auf einen Wagen, der Richtung Via Montenapoleone unterwegs ist, ist die Via Pietro Verri praktisch ausgestorben. Die Ruhe vor dem Sturm: In wenigen Stunden wird von den Laubengängen der Häuser das Feuerwerk hochgehen, dann bricht der Trubel los, ein nagelneues Jahr beginnt.
Der Gründer betrachtet sein Spiegelbild im Glas der alten Sprossenfenster und erkennt sich nicht wieder. Der Erfolg der Bewegung, die er vor nicht einmal zwei Jahren gegründet hat, erscheint ihm im hehren Gewand einer fremden Idee, eines anderen Lebens.
Wer nur sind diese Leute? Wo hatten sie sich bis gestern verkrochen? Unmöglich, dass er diese Scharen von Stubenhockern geschaffen hat, die plötzlich nach dem Knüppel greifen. Ebensowenig der Krieg. Der Krieg kann nun einmal nicht der Vater von allem sein. Der Virus, der sich entlang der Via Emilia ausbreitet und Tausende Postbeamte infiziert, die bereit sind, Arbeiterkammern in Brand zu stecken, muss wohl in Friedenszeiten herangereift sein. Anders kann es nicht sein. Der Krieg hat ihnen keine Wiedergeburt beschert, sondern sie nur sich selbst zurückgegeben und zu dem werden lassen, was sie bereits waren. Vielleicht ist der Faschismus nicht der Wirt dieses sich ausbreitenden Virus, sondern der Gast.
Man muss die Ereignisse befeuern. Mehr nicht. Gut möglich, dass das neue Jahr dazu auffordert, das Spiel zu pfeifen. Wenn das so weitergeht, machen nicht die Kommunisten die Revolution, sondern die Eigentümer von zwei Zimmern plus Küche in einem Mehrfamilienhaus am Stadtrand.