Der Schnaps ist zäh, hochprozentig, von dunkler Farbe, der Farbe geronnenen Blutes, düster wie ein Gerinnsel, wie Monatsblut oder krankes, übles Blut, das einem Sorge bereiten muss, wenn man es in seinen Ausscheidungen entdeckt. Doch der Geschmack ist extrem süß. Das liegt an den Kirschen, an ihrem monatelang samt Kern in Schnaps eingelegten Fruchtfleisch. Daher sein zuckersüßes Vergnügen, Frauen lieben diesen Cherry Brandy: das perfekte Getränk, wenn man sie flachlegen will. Doch den Männern der faschistischen Squadra »Celibano«, die ihm ihren Namen verdankt, schmeckt er ebenfalls. Arturo Breviglieri, ehemaliger Maschinengewehrschütze bei den Sturmtruppen, Gründungsmitglied des Fascio von Ferrara und Angestellter der Firma Bignardi & Co. hat sie so getauft. Angeblich hat dieser Kirschbrandy in den Kantinen von Fiume nie gefehlt, und D’Annunzio selbst gab ihm wegen seiner blutroten Farbe den Beinamen Morlakenblut, um an die furchteinflößenden Nomadenkämpfer der lateinischen Völker zu erinnern, die sich jahrhundertelang der einfallenden Barbaren in den dunklen Tälern des Dinarischen Gebirges erwehrten. Wie dem auch sei, diese Krieger, die im Caffè Mozzi am Corso Roma in Ferrara Kirschbrandy trinken, verdanken ihren Namen dem Schnaps, der Mut zum Kämpfen macht. Denn »Celibano« ist nichts weiter als die dialektale Verzerrung von »cherry brandy«, ihrem Lieblingsschnaps.
Die Strafexpedition, die am 23. Januar aus Ferrara in die ländlichen Vororte und umliegenden Dörfer aufbricht, ist die erste, die mit militärischen Methoden vorgeht. Die mehreren Dutzend Männer, die sich versammeln, sind allesamt gut bewaffnet und so organisiert, dass sie zahlreiche Ziele gleichzeitig treffen können. Zur Zerschlagung der Bauernbünde in San Martino, Aguscello, Cona, Fossanova San Biagio, Denore und Fossanova San Marco zählen sie auf die Entschlossenheit vorsätzlicher Gewalt, auf ihre Überraschungstaktik und die von der Agrarierorganisation zur Verfügung gestellten Lastwagen. Deshalb müssen sie zahlreich sein. Womöglich rechnen die »Roten« mit ihnen, und um sie niederzuwerfen, darf nicht lang gefackelt werden.
Zwischen den Männern, die sich auf dem Busbahnhofsplatz vor der Stadtmauer versammeln, tun sich Abgründe auf: Da ist die leibhaftige Gewalt in Gestalt des gedrungenen, stiernackigen Ardito in seiner mit Ordensbändern gespickten Uniform, da ist der von der Legionärsästhetik begeisterte Lateinlehrer, da ist der schlanke Spross aus gutem Hause wie Barbato Gattelli, Sohn einer Gutsbesitzerfamilie und Veteran des Großen Krieges, der ein Unternehmen in der Automobilbranche gegründet hat. Die Ferrareser Squadristen, die drauf und dran sind, am 23. Januar 1921 über das Land herzufallen, sind zahlreich. Sie sind zahlreich, aber nicht vollzählig.
Olao Gaggioli ist nicht dabei. Am 17. Dezember ist er aus Protest gegen Mussolinis Abfall von D’Annunzio und die Einmischung der Agrarier als Sekretär des städtischen Fascio zurückgetreten. Seine Abkehr ist nur schwer zu verdauen, immerhin hat Gaggioli den Fascio von Ferrara gegründet und war schon am 23. März 1919 an der Piazza San Sepolcro mit dabei, zudem ist er ein mit vier Tapferkeitsmedaillen ausgezeichneter Arditi-Leutnant und war Legionär in Fiume, er hat während des Sturms auf den Palazzo d’Accursio die Squadra von Ferrara angeführt, beim Massaker am Castello Estense gegen die Sozialisten gekämpft und ist zudem ein Mann von hünenhafter Größe und unbändiger Kraft. Ende Dezember hat sein Bruder Luigi, der es wie Olao leid war, das Spiel der Herren mitzuspielen, einen Brief an das Zentralkomitee in Mailand geschrieben, in dem er offen anprangerte, der Fascio von Ferrara werde von der Agrarierorganisation finanziert und verkäme zu einer »Garde des Großbürgertums«.
Um zu verstehen, was da los ist, und die Provinz unter Kontrolle zu halten, hat Mussolini einen Inspektor geschickt. Er heißt Marinoni und musste feststellen, dass die zahlreichen neuen Ortsgruppen, die nach dem Blutbad am Castello Estense binnen eines Monats in der Provinz entstanden sind, »keinerlei politische und ideelle Inhalte« haben und einzig darauf aus sind, sich gegen die Sozialisten zu stellen. Die Agrarier freilich jubeln und liefern die materielle Unterstützung. Die hohen Herren schreiben sich selbst als unterstützende Mitglieder und ihre Söhne als Squadristen ein. Seit dem 20. Dezember haben sie bereits 20 000 Lire in die Kassen der Fasci gespült. Alle kommen angerannt: große und kleine Landbesitzer, Pächter, Teilpächter, Unternehmer.
Um den Eindruck zu vermeiden, der ländliche Faschismus habe sich den Interessen der Großgrundbesitzer angedient, gab Mussolini in Mailand auf den Seiten seiner Zeitung den Wahlspruch »Das Land denen, die es bestellen« aus, dazu einen Zuweisungsplan für Brachland, das in kleine Parzellen aufgeteilt und an Landpächter verteilt werden soll, die es selbst bestellen. Ein von Faschisten geführtes »Landamt« soll die Transaktionen steuern. Auch das neue Organ des örtlichen Fascio, Il Balilla, das just an diesem 23. Januar zum allerersten Mal erscheint, sagt sich von den Agrariern los und stellt klar, der Ferrareser Faschismus werde »auf der Straße« und nicht in den »Salons der Reichen« geboren. Als Direktor wurde auf Geheiß Mailands Italo Balbo eingesetzt, der junge Mazzinianer und ehemalige Alpini-Leutnant, Anhänger der Sturmtruppen, glühender Patriot, eingefleischter Antibolschewist und ebenfalls aus dem Krieg entlassener Held auf der Suche nach einem Schicksal und einer Aufgabe.
Über diesen aus dem Nichts aufgetauchten Italo Balbo sind bereits obskure, reizende Anekdoten im Umlauf. Es heißt, im Trentino habe er die Tochter eines Grafen Florio verführt, in Florenz einen Abschluss in Sozialwissenschaft erhalten, weil er seinen Professor körperlich bedrohte, und er sei rein zufällig und aus Eigennutz beim Faschismus gelandet. Er soll während der Beisetzung der Märtyrer vom 20. Dezember im Hinterzimmer eines Cafés Poker gespielt und nach einem Blick aus dem Fenster auf die in Reih und Glied vorbeiziehenden Squadren gefragt haben: »Wer bezahlt die?« Als er gefragt wurde, ob er dem Fascio beitreten möchte, soll seine Gegenfrage gelautet haben: »Kann man als Faschist was verdienen?« Man sagt, er habe das Angebot nur unter drei Bedingungen angenommen: ein Monatsgehalt von satten 1500 Lire, Ernennung zum Generalsekretär und feste Zusage einer Stelle als Inspektor der Darlehnskasse von Vico Mantovani, dem Präsidenten der Agrarierorganisation.
Doch all das ist jetzt nicht mehr wichtig, denn die Lastwagen haben sich in Bewegung gesetzt. Jetzt reden die Waffen, nichts anderes zählt.
Auf der Pritsche eines Kriegsreliktes auf dem Weg nach Denore, einem Vorort am rechten Ufer des Po di Volano, hockt Balbo neben Breviglieri und den anderen »Celibanos«. Jetzt sind sie alle Squadristen, ganz gleich, was sie antreibt, wie ihr Alltag aussieht, wie gut oder schlecht es ihnen geht, wo sie herkommen oder womit sie bis gestern ihr Leben bestritten haben. Ein Bund bewaffneter Männer, die unter dem weißen Himmel, der bleiern über der archaischen Landschaft liegt, auf einer Lastwagenpritsche kauern, auf der man weder liegen noch sitzen kann. Dumme graue Kühe weiden träge auf den Wiesen, mit stumpfem Blick und riesigen Hörnern stehen sie da und haben keine Ahnung von der Geschichte dieser Männer, die gekommen sind, um die gläserne Stille zu zerbrechen. Darüber schweben die Reiher, die in den nahegelegenen strauchigen Weiden entlang des Mündungsbeckens nisten, und folgen in Zehnerschwärmen der stumpfen Arbeit auf den Feldern. Sie tragen den brackigen Hauch von feuchten Wiesen und Schlammbänken heran, von Dünenketten und Sandstränden, die das zurückweichende Meer erschaffen hat. Noch weiter oben kreist langsam ein Falke und schreibt seine sanften Bahnen in den weißen, niedrigen Himmel.
Einer hält das für ein gutes Omen. Eine Flasche Perlwein geht herum. Warum dieses Gemetzel, dieses Sterben? Angst hält das Bündel Männer zusammen: Bestimmt hat man sie aufbrechen sehen, womöglich hat jemand die Nachricht verbreitet. Alle wissen, dass die Sozialisten vor drei Tagen in Fossa einen Pächter, der gerade von einer politischen Versammlung aus dem Pfarrhaus kam, durch Gewehrschüsse verletzt haben. Heute könnte es einen von ihnen treffen, einen der Waffenbrüder, die wie fahrende Zigeuner auf den Fersen auf dieser Pritsche hocken. Die Stille der Felder umfängt sie wie eine stetige, diffuse Bedrohung. Hinter jeder Hecke, auf jeder Flussaue zwischen Deich und Kanal ist mit einem Hinterhalt zu rechnen. Das kalte Eisen der Pistole, nach dem man heimlich in der Tasche tastet, beruhigt.
An der Kreuzung von Stellata trennen sich die Laster. Zwei Squadren fahren Richtung Cona und Fossanova, die anderen Richtung Aguscello und Denore. Am Ortseingang von Aguscello werden die Faschisten von einem Auto der örtlichen Agrarier in Empfang genommen und durch die wenigen Dorfstraßen eskortiert. Die Sozialisten leisten nur geringen Widerstand. Jemand schießt mit einer Flinte für die Wachteljagd. Der Schrot dringt kaum durch den festen Stoff der Jacken. Mühelos sind die Mitglieder des örtlichen Bauernbundes überwältigt, die Scheiben eingeschlagen, die Möbel auf den Platz geschleppt und kurz und klein gehauen. Die Carabinieri verhaften die Sozialisten, die sich mit Schrotflinten zur Wehr gesetzt haben.
Begeistert klettern die Angreifer wieder auf die Lastwagen. Jetzt wird gesungen, der Wein fließt in Strömen durch die befreiten Kehlen. In Denore angekommen, begleitet der Landbesitzer Giuseppe Gozzi sie zum Sitz des Bauernbundes. Doch dort sind die Sozialisten zahlreich, wehrhaft und zur Verteidigung bereit.
Italo Balbo springt vom Laster und schwingt einen Morgenstern, wie ihn die Ungarn am Monte San Michele im Karst am Isonzo benutzten, um die Schädel ihrer verwundeten Feinde zu zertrümmern. Doch hier ist die Gewalt heiß, persönlich, direkt und unmittelbar, ohne endloses Warten im Schützengraben, hier werden die Männer nicht wie Mikroben zu Zehntausenden von der thermischen Apokalypse schwerer Artillerie hinweggefegt. Hier gibt es nur eigenmächtige, von heißem Blut und würzigem Wein durchströmte Körper, die sich ins Getümmel stürzen wie in ein rauschendes Fest. Der Zusammenstoß ist heftig, die Bauern lassen nicht locker, ein Faschist zieht den Revolver und verletzt zwei von ihnen schwer. Auch Balbo, Breviglieri und Chiozzi tragen leichte Verletzungen davon.
Auf dem Rückweg zerstört der bewaffnete Männerbund auch den ungeschützten Sitz des Bauernbundes von San Biagio. Jetzt hat der Hass freie Bahn. Jetzt sitzen auf den Pritschen der durch die Schlaglöcher rumpelnden Laster keine Arditi, Lateinlehrer und Gutsbesitzersöhne mehr, das vergossene Blut hat sie verbrüdert, niemand ist mehr allein, es gibt keine Unterschiede und Lager mehr, die fundamentale Erfahrung des gemeinsamen Tötens hat sie gleich gemacht.
Jetzt schwelgt man auf den Lastwagen ergriffen in der Erinnerung an eine kaum eine halbe Stunde zurückliegende und doch bereits uralte Tat, jetzt reißt man Witze, grölt aus voller Kehle: Der Männerbund, der tödlicher Gewalt ausgesetzt war, hat jedes Recht, seinen Gefühlen und Gelüsten freien Lauf zu lassen. Jetzt haben sich die Squadristen der »Celibano« und Balbos Leute gleichermaßen einen Schluck Morlakenblut verdient, der im Caffè Mozzi auf sie wartet, ebenso eine Portion scharfer, würziger Salama da sugo und einen ausschweifenden Besuch in Rinas Bordell im Vicolo Arnaldo da Gaggiano.
Zuvor jedoch trotzen die Rinder, die gleichmütig auf den Feldern hinter dem Deich am rechten Ufer des Po di Volano weiden, der Geschichte dieser Männer mit ihrem stumpfsinnigen Blick, der wenige Stunden zuvor einfach durch sie hindurch ging, als wären sie Luft.