Die Kunde ging von Mund zu Mund, von Straßenecke zu Straßenecke: Die Versammlung findet um 15 Uhr im Sitz in der Via Ottaviani statt. Die »Roten« haben an der Ecke des Palazzo Antinori eine Bombe hochgehen lassen. Alle Faschisten sind bewaffnet.
Die Explosion war in der ganzen Innenstadt zu hören, laut wie eine Mittagskanone. Doch es war keine Kanone. Es waren die üblichen Bolschewiken ohne Gott, Vaterland und Familie, die üblichen Meuchler, die Peiniger der gefallenen Feinde, die ewigen Feiglinge. Irgendjemand hat die flatternde schwarze Halsbinde der Republikaner gesehen, irgendjemand spricht von roten Nelken, ein anderer behauptet, es seien Anarchisten gewesen, doch das macht keinen Unterschied. Die von den Nationalisten und Faschisten unterstützte Liberale Partei weihte gerade den Wimpel einer Studentenvereinigung ein, die Menschen strömten aus den Messen in San Marco und dem Dom zu den Konditoreien, die Spitze des patriotischen Umzuges hatte gerade San Gaetano erreicht, als die Bombe zwischen den Beinen der Menschen in die Luft ging. Das sind die Fakten.
Der Werfer, der Terrorist, wurde von niemandem gesehen. Die Carabinieri begannen blind draufloszuschießen, der von Patronenhülsen übersäte Boden glich einem Schlachtfeld. Die Bruderschaft der Barmherzigkeit trug einen Carabiniere, dem die Hirnmasse aus dem Schädel quoll, und einen zerfetzten jungen Kameraden auf der Bahre fort. Beide starben noch vor dem Eintreffen im Krankenhaus. Die teils schwer Verletzten gehen in die Dutzende. Die Zahl der Toten wird sich noch erhöhen.
Panik hat die Stadt erfasst. Beim Vorüberfahren der Krankenwagen wurde den Passanten zugerufen, sie sollten ihre Kopfbedeckungen abnehmen zum Zeichen des Respekts vor den Verletzten. An der Loggia del Bigallo hat ein Kerl mit roter Nelke im Knopfloch trotzig-kühn die Zeitung geschwenkt. Ein Carabiniere, der den gefallenen Kollegen auf dem Trittbrett des Fahrzeuges begleitete, hat heulend vor Wut mit dem Karabiner auf ihn gezielt, einhändig wie mit einer Pistole, und ihn auf der Stelle kaltgemacht. Ein einziger Schuss. Der Krankenwagen nahm seine Leiche ebenfalls mit.
Im Sitz des Fascio in der Via Ottaviani haben sich kaum hundert Mann versammelt. Es ist Sonntag, und wie immer am Feiertag sind mindestens fünf Squadren in den umliegenden Dörfern unterwegs. Alle Faschisten, die in der Stadt geblieben sind, drängen sich im Versammlungsraum. Es sind die üblichen: Chiostri, Moroni, Manganiello, Annibale Foscari, der »kleine Graf« aus Venedig, zierlich und weiß wie ein Laken, der riesige Capanni, ungekämmt wie immer. Über das Gemurmel erhebt sich das nasale Timbre des verrückten Pirro Nenciolini, glatzköpfig und krumm fuchtelt und schimpft er wie ein Besessener vor sich hin: »Gottverfluchter ewiger Gott, gottverfluchter …« In einer Ecke lädt Bruno Frullini grimmig seinen Revolver.
Man wartet darauf, dass der Marchese Dino Perrone Compagni das Wort ergreift. In den vergangenen Monaten ist der Florentiner Fascio auseinandergebrochen: Auf der einen Seite stehen diejenigen, die in den herrschaftlichen Palazzi ein und aus gehen, auf der anderen solche wie Dùmini, der mit Ach und Krach von seinen alten Eltern durchgefüttert wird, oder Umberto Banchelli, der in seinen Ticks und seinem Groll gefangen ist, oder wie Tullio Tamburini, der ein buntes Vorstrafenregister wegen Diebstahl hat. Die Verzweifelten, die zu allem bereit sind. Doch während der Knüppelei in Pisa, beim Brand der sozialistischen Zeitung und dem Spektakel im Provinzialrat, um die »Roten« zum Hissen der Trikolore zu bewegen, hat man immer wieder zusammengehalten. Der Lohn war für alle gleich. Der Hass war derselbe.
Um den Riss zu kitten, haben sie nun diesen Marchese aus dem Hut gezaubert. Er ist nicht mehr ganz jung – jenseits der vierzig –, redet viel und lebt noch bei seiner Mutter. Sie, die Marchesa, soll einmal ein Gut in Greve besessen, wegen Spielschulden jedoch alles verloren haben. Im Krieg hat sich das Herrensöhnchen in den Schreibstuben herumgedrückt und wurde im Frieden wegen Spielschulden vom Kavallerieoffizier zum einfachen Soldaten degradiert. Dùmini und Banchelli nennen ihn »Graf Culagna«, und auch die echten Aristokraten haben ihn stets verachtet. Doch die Florentiner Prominenz nimmt es nicht so genau. Er kam ihnen gelegen, und sie haben ihm unter die Arme gegriffen.
Endlich ergreift Perrone Compagni das Wort. Er betont die Silben, als diktierte er ein Telegramm.
»Au-ge um Au-ge, Zahn um Zahn! Ehe dieser Tag zu Ende ist, werden die bolschewistischen Anführer für diese jüngste Schandtat be-zah-len!« Ein zustimmender Aufschrei antwortet ihm. Perrone Compagni fährt fort: »Wir müssen handeln, ehe es die Polizei und die Carabinieri tun. Wir sind es, die für öffentliche Ordnung sorgen und Gerechtigkeit üben müssen.« Während er spricht, knöpft er sich die Jacke auf und zeigt den Revolver, der an seinem Gürtel hängt.
Man diskutiert etwas, erörtert den Aktionsplan und teilt sich in fünf Squadren auf. Einige Politiker bitten darum, Florenz auf ihrem Rachefeldzug nicht in Brand zu stecken. Niemand hört ihnen zu. Die Faschisten schreiten zum Vergeltungsschlag.
Dùmini erklärt das Caffè Gambrinus zum Hauptquartier seiner Squadra. An seiner Seite sind der unvermeidliche Banchelli und Luigi Pontecchi, genannt Gigi, der bereits fünfzigjährige ehemalige Radprofi, der verschroben, auf einem Auge blind und ein leidenschaftlicher Schläger ist. Den ganzen Nachmittag über beschränken sich die Squadren darauf, Läden wegen Trauer schließen und Fahnen auf Halbmast hängen zu lassen und Restaurants mit ein paar Ohrfeigen zu räumen. Hin und wieder halten sie jemanden an und lassen sich die Papiere zeigen, als wären sie Polizisten. Wenn jemand sich beschwert, setzt es Prügel. Doch die Straßen leeren sich in Windeseile von allein. Panzerwagen rattern durch die großen Straßen, die Scheinwerfer der Pioniertruppe am Piazzale Michelangelo flammen auf, die Maschinengewehre der Polizei in Kriegsmontur bewachen die Arnobrücken, die in die einfachen – die »roten« – Viertel führen. Eine albtraumhafte Stimmung liegt über allem. Man weiß nicht, wohin mit seiner Rache.
Dann kommt jemandem eine Idee. Die rund dreißig Männer starke Squadra soll in militärischen Dreierreihen mitten auf der Straße entlangmarschieren. Einige tragen einen Stahlhelm, andere den schwarzen Fez mit der Quaste, viele sind in Armeeuniform. In der Via dei Ginori treffen sie auf einen Trauerzug. Die Männer treten zur Seite, der Kommandant befiehlt den militärischen Gruß, die Köpfe schnellen herum. Die entsetzten Passanten bemerken, dass sämtliche Squadristen einen Revolver in der Hand halten: Der Lauf ist himmelwärts gerichtet, die Faust ruht auf der rechten Schulter.
Die Squadra geht die Via Taddea entlang und erreicht kurz vor 18 Uhr die Hausnummer 2. Die Sonne geht unter, der Wind weht in kalten, trockenen Böen, die Tür der Eisenbahnergewerkschaft steht offen. Niemand bewacht sie. Der Großteil der Squadristen behält die Straße im Blick, nur Italo Capanni und zwei weitere gehen hinein.
Vorsichtig rücken sie vor. Die Tür im ersten Stock ist ebenfalls nur angelehnt. Niemand da. Auch der Flur zu den Büros ist menschenleer. Vielleicht haben sich die »Roten« in den Vierteln auf der anderen Arnoseite verkrochen. Stille. Halbdunkel. Doch aus einer Bürotür dringt etwas Licht. Sie stoßen sie auf. Der Mann, den sie suchen, sitzt an seinem Schreibtisch, eine Zigarette im Mund. Florenz ist im Kriegszustand und er, Spartaco Lavagnini, Sekretär der Eisenbahnergewerkschaft, Herausgeber der Zeitung Azione comunista, der Mann, von dem sämtliche Bolschewiken der Toskana die Revolution erwarten, sitzt an seinem Arbeitsplatz, den Kopf über das Blatt gebeugt, die Feder in der Hand. Er schreibt rast- und schutzlos, pflichttreu korrigiert er Druckfahnen, als hänge sein Schicksal an einer Achtlosigkeit, einem Druckfehler.
Als Spartaco Lavagnini aufblickt, steht der Mann, der gekommen ist, um ihn zu töten, direkt vor ihm. Sein Revolver zielt genau auf seine Stirn. Er ist ein hervorragender Schütze und erfahrener Jäger, der erste Schuss auf das wehrlose Wild ist ihm vorbehalten.
Doch der Schuss verfehlt sein Ziel. Lavagnini wurde unter der Nase getroffen. Sein Kopf kippt nach vorn, er schlägt auf den Tisch und sackt zu Boden, doch er ist noch nicht tot. Der zweite Schuss trifft ihn von links aus nächster Nähe und durchschlägt die Ohrmuschel. Weitere, auf die große Zielscheibe gerichtete Schüsse treffen ihn unter der Achsel, doch da ist er womöglich bereits tot. Das Opfer rührt sich nicht mehr.
Dann wird der Mörder von einer Art teuflischem Impuls gepackt. Als hätte er es sich anders überlegt und wollte die Weltordnung wiederherstellen, die seine eigene Niedertracht vor wenigen Augenblicken zerstört hat, packt er die übel zugerichtete Leiche bei den Haaren, hievt sein Opfer wieder auf den Stuhl, auf dem er es bei der Arbeit überrascht hat, nimmt die Zigarette aus dem Mundwinkel, die er während seiner Henkersarbeit unverdrossen gequalmt hat, und schiebt sie dem Toten wie einen Keil zwischen die zersplitterten Zähne. Im Mund des Opfers mischt sich dessen Blut mit dem Speichel seines Mörders.
In dieser Nacht geht die Stadt in Stücke. Als der Unglücksmorgen aufzieht, ist das erwachende Florenz entlang der Risse, die sich mit der Bombe vom Palazzo Antinori und dem Mord an Spartaco Lavagnini aufgetan haben, entzweigebrochen.
Im Dämmer der Morgenstunden werden mit dem handwerklichen Genie, das die Stadt über Jahrhunderte erbaut hat, Trockenmauern und Pflastersteinbarrikaden hochgezogen und die linke Arnoseite abgeriegelt. Aus Furcht vor dem Angriff hat sich das einfache Volk in den Arbeitervierteln und den Vororten von San Frediano bis Scandicci verschanzt. Am anderen Ufer hat das Militär aus Furcht vor einem Volksaufstand Aufstellung genommen. Auf der Piazza Vittorio sind vier 65-mm-Gebirgsgeschütze postiert und überwachen die Straßen, Polizisten in Kriegsmontur sperren die Brücken. Die Niederschlagung steht unmittelbar bevor. Niemand, nicht einmal die Polizei, traut sich nachts in diese Viertel. Jenseits des Arno schläft niemand. Man beweint Spartaco Lavagnini, macht sich keine Illusionen und zerbricht sich den Kopf. Wer hat diese Bombe geworfen? Wer hätte ein Interesse daran, in fünfzig Jahren errungene Fortschritte für Arbeiter zu gefährden? Jemand munkelt, wenn eine Bombe in der Menge explodiert, ist es egal, wer sie gezündet hat und wen sie mit sich reißt, am Ende ist das Opfer immer die proletarische Linke.
Seit dem Morgen kommt das städtische Leben zum Erliegen. Kaum hat die Nachricht vom Mord an Lavagnini die Runde gemacht, haben die Eisenbahner die Züge in den Bahnhöfen Rifredi, Campo di Marte und San Donino blockiert. Kurz darauf haben sich die kampfbereiten Straßenbahner zu ihnen gesellt, dann die Elektriker und nach und nach die proletarischen Arbeiter fast sämtlicher Bereiche. Es gibt kein Wasser, kein Gas, keinen Strom, es fahren keine Züge und keine Straßenbahnen, die Geschäfte sind geschlossen.
Bis zum Mittag lassen sich die Faschisten nicht blicken. Sie verbringen die Nacht in ihrem Sitz in der Via Ottaviani und kämpfen mit Rumpunsch gegen den Schlaf. Nach dem Mittagessen ziehen sie in Reih und Glied los, um San Frediano anzugreifen, müssen jedoch zum Überqueren des Flusses die am weitesten entfernte Brücke von San Niccolò nehmen und über die Treppen und den Viale dei Colli den ganzen Weg zurücklaufen. Es sind nur wenige, und das Viertel, in das sie sich vorwagen, verteidigt sich mit solchem Furor, als wüsste es, dass es nie mehr siegen wird, wenn es jetzt nicht siegt.
Auf der Piazza Tasso geraten Dùmini und seine Männer in einen Hagel verschiedenster Wurfgeschosse: Dachziegel, steinerne Türschwellen, Nachttischplatten aus Marmor. Auch ein Spülstein regnet auf sie nieder. Die Frauen schreien wie wahnsinnig und feuern ihre Männer an. Aus den Fenstern wird geschossen. Einer der Angreifer liegt röchelnd am Boden. Ein Rinnsal dunklen Blutes sickert aus seinem grauen Anzug und besudelt den Gehsteig. Auch die Arditi sind gezwungen, sich in einem Hauseingang zu verschanzen. Die Kanonen der Armee sind auf der rechten Uferseite geblieben. Die Angreifer können sich erst retten, als ein Panzerwagen der Polizei sie befreien kommt.
Nach dem gescheiterten Überfall fordert die Polizei das Eingreifen des Militärs. Es wird angeordnet, dass Abteilungen der 84. und der 69. Infanterieeinheit, flankiert von Bersaglieri, von Santa Trinita und der Carraia-Brücke in Oltrarno her einrücken. Panzerwagen durchbrechen die Barrikaden der »Roten«, doch das Volk gibt sich nicht geschlagen. Jedes einzelne Haus muss gestürmt und eine Widerstandszelle nach der anderen ausgehoben werden. Im Windschatten von Militär und Polizei dringen die Faschisten in die Viertel vor. Man geht von einer Racheaktion zur nächsten, die Sirenen der Barmherzigkeit jaulen allenthalben, Gerüchte von Grausamkeiten überschlagen sich.
An der gesperrten und von einer kampflustigen Horde Kommunisten besetzten Arnobrücke wurde ein argloser junger Mann mit Handschuhen, Gamaschen und Fahrrad – die Arbeiter kennen nichts davon –, der die Brücke unbedingt überqueren wollte, zusammengeschlagen und in den Fluss geworfen. Es heißt, der Faschist habe sich an das Brückengeländer geklammert und die Kommunisten seien ihm auf die Hände getreten, bis er in die Tiefe stürzte. Das Flussbett wurde mit Haken abgesucht und seine Leiche herausgefischt. Zahlreiche Prellungen im Gesicht, jedoch keinerlei Verletzungen an den Händen.
Eine zweite finstere Nacht senkt sich über Florenz. In der Straße Borgo Ognissanti harrt beim Vespucci-Krankenhaus unter den Bogengängen von Santa Maria Nuova eine verängstigte Menge und wartet auf Nachrichten von verletzten Angehörigen und Freunden.
Am Morgen des 1. März flammt die Schlacht wieder auf. In Ponte a Ema in den Hügeln, wohin man die Frauen und Kinder in Sicherheit gebracht hat, braucht es eine 7,5-cm-Flak, um den Widerstand zu brechen. In Santa Croce wird fünf Stunden lang gekämpft. Gegen Abend kehren die Truppen endlich in die Stadt zurück und feiern ihren Sieg. Die Bersaglieri in rotem Fez mit blauer Quaste stimmen die Mameli-Hymne an; sie schwenken dem kommunistischen Feind entrissene rote Fahnen und ein großes Lenin-Porträt. Als sie die Via Martelli erreichen, werden die Kanonen und ihre Lafetten mit Mimosen geschmückt.
Überall haben die Faschisten mit Polizei und Militär als Schutzschild die Sitze der feindlichen Vereine zerstört. Jetzt droht ihnen die Staatsgewalt nicht mehr mit Gefängnis, im Gegenteil, die Truppe hat ihnen einen Fiat 15 Ter mit 120 Karabinern und drei Kisten Sipe-Handgranaten geschickt.
Am Ende des Tages setzt der Squadrist Pirro Nenciolini, der die vergangenen 56 Stunden ununterbrochen Gott verflucht hat, in der Arbeiterkammer in der Via Tintori einen Stoß Bänke, Akten und rote Fahnen in Brand. Während alle mit anpacken, scherzt einer:
»Oh, Pirro, pass auf, dass du dir nicht die neuen Schuhe versengst.«
»Schon gut, schon gut, selbst das wär’ heute in Ordnung, gottverflucht.«
Der zwanghaft fluchende Pirro Nenciolini, dessen Schallplatte bei ewiger Wut einen Sprung hat und den selbst die eigenen Kameraden wie einen tollwütigen Köter meiden, bleibt allein im Saal des Scheiterhaufens zurück, wärmt sich die Hände an den Flammen und ist glücklich.