Es ist ein einziger Seiltanz über dem Gefängnis.
Am 12. März wird Leandro Arpinati abermals verhaftet, als er gerade aus dem Zug aus Bologna steigt. In Mailand sollte er sich mit Mussolini treffen, der mit ihm die für Anfang April geplante große faschistische Zusammenkunft in der Emilia besprechen will, doch Mussolini wird vergeblich auf ihn warten, weil »Freund Arpinati« keinen Fuß in die Stadt setzen konnte. Sie fangen ihm am Ende des Bahnsteiges ab und bringen ihn in das Justizgefängnis in der Via Piangipane. Es ist das fünfte Mal in 18 Monaten, dass Leandro Arpinati hinter Gittern landet.
Im November 1919 ging er aufgrund der blutigen Ereignisse im Teatro Gaffurio von Lodi während des ersten faschistischen Wahlkampfs erstmals in den Bau und saß 46 Tage. Das zweite Mal wurde er im September 1920 im Zusammenhang mit der Ermordung des sozialistischen Aktivisten Guido Tibaldi während der Scharmützel mit den nationalistischen Bürgerwehrverbänden in Bologna verhaftet, kam aber nach kaum drei Tagen wieder frei, denn obwohl er am Tatort gewesen war, hatte er mit der Schießerei nichts zu tun. Am 18. Dezember ist er dann in Bologna ein drittes Mal in den Knast gewandert, weil die sozialistischen Abgeordneten Bentini und Niccolai, die von ihrer Verteidigung der Bolschewiken einfach nicht lassen konnten und in den Tagen zuvor bereits mehrere Drohungen erhalten hatten, beim Verlassen des Gerichtsgebäudes niedergeknüppelt worden waren. Doch da wehte bereits ein anderer Wind: Die entscheidende Schlacht vom Palazzo d’Accursio war geschlagen, der Wind blies in das schwarze Segel des Fascio, und er war nur in der Zelle gelandet, weil er aus freien Stücken ins Polizeipräsidium spaziert war und sich selbst der zusammen mit drei Kameraden durchgeführten Strafexpedition bezichtigt hatte. Der Polizeipräsident hatte ihn verhaften müssen, sich jedoch darauf beschränkt, ihn wegen schwerer Beleidigung und Bedrohung von Parlamentsmitgliedern anzuzeigen, und die Anzeige wegen Körperverletzung fallengelassen. Mit dem neuen Jahr war die vierte Verhaftung gekommen. Und nun diese fünfte Festnahme in Mailand. Diesmal warf man ihm vor, für die Expedition nach Pieve di Cento, während der eine Arbeiterin »unglücklicherweise« ihr Leben gelassen hatte, die Lastwagen beschafft zu haben, auch wenn er nicht daran beteiligt gewesen war.
Das ist waschechter Bürgerkrieg. So hat er es auch im L’Assalto geschrieben. Sozialisten und Faschisten sind unversöhnliche Feinde, verwickelt in einen tödlichen Kampf. Hass umweht ihre Köpfe und erschafft das notwendige Klima für ihren Lebenszweck.
Im Fascio wurde viel darüber diskutiert, ob man zu sehr nach der Pfeife der Agrarier tanzt, ob die Squadren zu einem Instrument der Reaktion verkommen, doch sobald debattiert und theoretisiert wird, verliert er die Geduld. Während der Versammlung am 3. Januar hat der von den Legionären aus Fiume unterstützte linke Flügel des Fascio gegen den rechten gemeutert und ihm vorgeworfen, sich dem »alten Italien« angedient zu haben. Nur dank der Vermittlung Dino Grandis, der nun auch die Herausgabe des L’Assalto übernommen hat, konnten sich die Gemüter wieder beruhigen.
Arpinati hat sich, obwohl er der Sekretär ist, herausgehalten und keinen Einfluss auf die Abstimmung der Mitglieder nehmen können. Doch wenn es heißt, auf die Straße zu gehen, folgen die Menschen ihm, Grandi inbegriffen. Er ist das Idol der Squadren, die ihn als ihren »Duce« bejubeln. Für ihn ist der Faschismus Maßlosigkeit, der ungestüme Schritt der Jugend auf dem antiken Pflaster der Piazza Maggiore, eine Organisation der Freien und Gewaltsamen, die ein Land der Willenlosen und Geknechteten aufrütteln. Die Provinz versteht er nicht, doch die Stadt, Bologna, ist ganz die seine.
An den Wochenenden ziehen Arpinati und seine Jungs über die Dörfer. Sie greifen die Volkshäuser, die Gewerkschaftssitze, die »roten« Rathäuser an, setzen den Boykotts ein Ende, schlagen, zerstören, reißen dem Feind die Fahnen weg, verbrennen sie öffentlich auf der Piazza Maggiore und ernten Begeisterung. Manchmal, wie in Paderno, muss man sich nicht einmal prügeln: Ein paar Drohungen reichen, und die Verbandsleiter ziehen den Schwanz ein und händigen die Fahnen aus.
Andere Male ist der Kampf härter. Neben den Verletzungen, die er sich bei Raufereien zugezogen hat, wurde er bereits zweimal angeschossen. Das erste Mal im Dezember in Ferrara, das zweite Mal am 24. Januar während der Beisetzung des drei Tage zuvor ermordeten Faschisten Mario Ruini in Modena. Und sie waren dorthin gefahren wie zu einer fröhlichen Landpartie, als ginge es zu einem Fest! Sogar ihre Frauen und Freundinnen hatten sie aus Bologna mitgenommen. Er hatte Rina und ihre Schwester dabei. Zwei Kameraden, 22 und 19 Jahre alt, waren gestorben. Er war von einem Pistolenschuss am Fußknöchel verletzt worden. In der Nacht hatten sie aus Vergeltung erst die Arbeiterkammer von Modena und dann die von Bologna in Brand gesetzt. Die Polizei hatte sich nicht gerührt.
Jetzt hat sich Giolitti in den Kopf gesetzt, die Faschisten zu entwaffnen. Er schickte Cesare Mori als neuen Präfekten nach Bologna, der sich bereits durch die unerbittliche Niederschlagung des Brigantentums auf Sizilien und der von D’Annunzio entfachten Unruhen in Rom hervorgetan hat. Als erste Amtshandlung untersagte Mori den Lastwagenverkehr in der Provinz von Samstagnachmittag bis Sonntagnacht, also genau in der Zeit, in der man zu den Expeditionen aufbricht. Während der Expedition nach Pieve di Cento, wegen der Arpinati abermals verhaftet wurde, hatte man die Lastwagen deshalb bei den Bauernhöfen stehen lassen und die Jungs auf dem platten Land einsammeln müssen.
Doch so wird Mori sie nicht aufhalten. Mit Fahrverboten werden diese verknöcherten, sauertöpfischen alten Politiker ihren Elan gewiss nicht bremsen. Sicher, hin und wieder geht mal etwas schief. In Pieve wurde ein Pechvogel von Arbeiterin – Angelina soll sie geheißen haben – beim Schließen der Fensterläden von einem Querschläger direkt ins Gesicht getroffen.
Doch Leandro Arpinati war in Pieve di Cento gar nicht mit dabei, und die Reaktion des Bologneser Fascio auf die Verhaftung ihres Anführers fiel überaus heftig aus. Auch zahlreiche Unterstützer bekundeten ihre Solidarität mit Leandro Arpinati, dem Mann, der den Bolschewiken in Bologna Einhalt geboten hat. Aus Protest gegen seine Verhaftung drohte der Industrie- und Handelsverband sogar mit Schließung der Geschäfte.
In der Nacht des 17. März wird Arpinati zum fünften Mal entlassen. Im Resto del Carlino, der führenden Tageszeitung der Stadt, ist zu lesen, ein »Menschenmeer« habe ihn bei seiner Rückkehr nach Bologna wie einen Helden empfangen und bis zur Piazza Nettuno geleitet. Der Bericht des Polizeipräsidenten spricht von rund dreitausend Personen. Dies sind schnelllebige Zeiten: Heute landet man im Knast, morgen verlässt man ihn als Sieger.