Der Onorevole Mussolini hat in der hintersten Bank rechts Platz genommen, wo sich bis dahin niemand hinzusetzen wagte. Denen, die ihn aus den unteren Bänken der Linken dort oben sitzen sehen, allein und abseits, lauernd und stets belauert, erscheint er wie ein auf einem Felsen hockender Geier. Heute muss der Aasvogel mit dem ungefiederten Schädel seine erste Parlamentsrede halten.
Er hat es sich gern bequem gemacht auf dem allseits verschmähten Felsen. Nach einem kurzen Anflug von Zorn und Verlegenheit, der ihn beim ersten Betreten des Parlamentssaales befiel, als er mit geradezu kindlicher Verblüffung sah, dass die Bänke der Linken, auf die er instinktiv zusteuern wollte, sämtlich von der Verachtung der ehemaligen sozialistischen Freunde, und die Bänke der Rechten von der Arroganz der verachteten neuen Freunde Giolittis eingenommen waren, hatte er genüsslich die obersten Ränge erklommen.
Doch das Parlament gefällt ihm nicht. Einem Journalisten hat er gestanden, der Saal erscheine ihm »in den Dingen und den Menschen grau«. Wenn man hier redet, tut man das Gegenteil dessen, was normal wäre: Man spricht von unten nach oben, dabei sollte es genau umgekehrt sein. Das verkehrte Gefälle lässt alles zu sinnlosem Gerede verkommen. Und dann die Flure … all das Gewisper verlorener Schritte, all diese Kollegen, die ihn duzen, ihm mit honigsüßer Vertraulichkeit begegnen, ihn sogar anfassen – Schulterklopfen, langer Händedruck –, all diese widerlichen Spießer, die tagsüber dem Faschismus hinterherhecheln und abends den aufgekratzt entsetzten Damen in den Salons erzählen, sie seien Faschisten begegnet, diesen menschenfressenden Wilden, diesen exotischen Tieren, die Giolitti, der alte Forschungsreisende im parlamentarischen Dschungel, in seinem Zirkus zu zähmen versprochen hat.
Doch Benito Mussolini ist entschlossen, ein unbekanntes Raubtier zu bleiben. In den ersten Wochen seines Mandats hat er in Rom so gut wie keine persönlichen Bekanntschaften gemacht. Keine Freundschaften geschlossen. Man darf keine Freunde haben, und er will keine. Deshalb hat er Alessandro Chiavolini zu seinem persönlichen Sekretär ernannt, den Verräter und einzigen Redakteur, der sich in der dunkelsten Stunde nach der krachenden Wahlniederlage von 1919, als sich der Direktor des Il Popolo d’Italia auch noch der Schiedskommission des lombardischen Journalistenverbandes stellen musste, weigerte, die Solidaritätsbekundung zu unterschreiben. Nein, keine Freundschaften, nur Unterwerfung. Der Verräter Chiavolini ist verlässlicher als jeder falsche Freund.
»Es missfällt mir nicht, ehrenwerte Kollegen, meine Rede von den Bänken ganz rechts zu halten, wo sich in den Tagen, in denen die Austreibung des triumphierenden sozialistischen Biestes auf Hochtouren lief, niemand hinzusetzen wagte. Ich sage euch gleich, dass ich in meiner Rede reaktionäre Thesen vertreten werde. Dies wird eine antidemokratische und antisozialistische Rede sein.« Zustimmungsbekundungen von der Rechten. »Und wenn ich antisozialistisch sage, meine ich antigiolittianisch.« Allgemeine Heiterkeit.
Die Abgeordneten wundern sich nicht über Mussolinis jähen Seitenhieb gegen seinen wichtigsten Wahlverbündeten Giolitti. Zudem hat der Gründer der Fasci bereits einen Tag nach der Wahl in einem brisanten Interview des Giornale d’Italia das Bündnis mit Giolitti aufgekündigt und ihm jede Hoffnung genommen, ihn für seine parlamentarischen Spielchen benutzen zu können. Sofort war klar, dass die Faschisten ihre Kampfmethoden unverzüglich in den Saal des Montecitorio tragen und auf niemanden Rücksicht nehmen würden, erst recht nicht auf Giolitti, dessen Bändigungspläne gescheitert waren. Von nun an würde man die Karten neu mischen. Mussolini verschmähte den Teller und zielte auf die Bank. In den Klubs der Liberalen und Industriellen hatten sich die angesehenen, weltgewandten Herren vor Wut die Haare gerauft.
In den ersten dreißig Minuten seiner ersten Parlamentsrede geht Mussolini mit Giolittis Außenpolitik hart ins Gericht. In einem Crescendo nationalistischen Furors beschuldigt er ihn, zu fügsam zu sein und auf die Größe zu verzichten, für die Italien bestimmt ist. Er wirft Giolitti vor, beim Schutz italienischer Ansprüche an den Ostgrenzen versagt und die Unabhängigkeit Montenegros geopfert zu haben. Sein geweiteter Blick auf die Weltlage lässt nichts aus, nicht einmal einen Hinweis auf das schwierige Verhältnis der Religionen in Palästina. Giolitti ist schon abserviert, seine Regierung ist gerade erst geboren und hat doch – das ist nunmehr allen klar – nur noch wenige Tage zu leben.
Dann steigt der Redner ein Stück in den Saal hinunter, um seiner Stimme besseres Gehör zu verschaffen, und setzt zu einem zweiten, enger gefassten Rundumschlag an. Eine nach der anderen nimmt er sämtliche parlamentarischen Kräfte aufs Korn, die in dem Halbrund sitzen. Zuerst sind die Kommunisten an der Reihe. Der Kommunismus ist eine Doktrin, die in Zeiten des Elends und der Verzweiflung wächst, eine neospiritualistische Philosophie, die wie Austern wohlschmeckend, aber schwer verdaulich ist. Mussolini lacht sie aus, verhöhnt sie, um dann mit paternalistischer Theatralik anzubringen: »Ich kenne die Kommunisten. Ich kenne sie, weil einige von ihnen meine Kinder sind … im geistigen Sinne, versteht sich.« Allgemeine Heiterkeit von rechts wie von links. Als die Sozialisten an der Reihe sind, wird die Taktik von Zuckerbrot und Peitsche verschärft. Erst nagelt Mussolini sie auf ihre Verantwortlichkeit fest, dann trifft er Unterscheidungen – zwischen Arbeiterbewegung und politischer Partei, Parteiführern und Gewerkschaftsvertretern –, dann macht er Versprechen: »Hört gut zu, was ich euch sage. Wenn ihr den Antrag für den Acht-Stunden-Tag einbringt, werden wir Faschisten dafür stimmen.« Schließlich ist die Volkspartei dran, die die katholischen Massen vertritt. Auch ihr wirft er einen Köder hin: »Für Roms lateinische und kaiserliche Tradition steht heute der Katholizismus … Ohne eine universelle Idee hält einen nichts in Rom, und die einzige universelle Idee, die es in Rom heute gibt, ist jene, die der Vatikan ausstrahlt.«
Zuckerbrot und Peitsche für alle. Und am Ende vor allem und wie immer Gewalt. Auch hier erst die Drohung, dann das Versprechen. Wenn die Sozialisten auf diesem Terrain nicht lockerlassen, werden sie auf diesem Terrain geschlagen. Sie sollen sich damit abfinden: Die Welt rückt nach rechts, nicht nach links, die Geschichte des Kapitalismus hat gerade erst begonnen. Wenn sie geistig abrüsten, werden die Faschisten es ihnen gleichtun. Gewalt ist kein Sport. Das traurige Kapitel des Bürgerkrieges kann geschlossen werden. Wir sind menschlich, und nichts, was menschlich ist, ist uns fremd. Ich bin fertig.
Der Beifall von rechts ist heftig und anhaltend, die Glückwünsche sind zahlreich, die Kommentare ausführlich.
Doch jetzt, da er es ins Parlament geschafft hat, muss der Gründer der Fasci im eigenen Haus aufräumen. Sein Geschöpf ist ein Bastard, geboren im Schmelztiegel der Gewalt und unter den Krämpfen der Promiskuität. Das Bürgertum wird allmählich müde: Anfangs hat es die Faschisten als Schutzwall gegen die Gewalt angenommen, doch schon bald wird es ihn als neue Gewalt verstoßen. Man muss den Wahlerfolg ausnutzen, und Italien ist ein Land, in dem Revolutionen nie nach revolutionären Methoden gemacht werden.
Zwischen Kapitalismus und Kommunismus muss der Faschismus der lachende Dritte sein. Der Nutznießer. Man muss wendig bleiben, um allen nur denkbaren Wendungen, Zufällen, Manövern, Kapriolen und Sprüngen gewachsen zu sein. Die Faschisten gehören nicht zu einer der beiden großen verfeindeten Klassen, sie sind die Schicht dazwischen, die heftigen Wehen einer tiefen Verunsicherung, die den Kleinbürger umtreibt, weil er fürchtet, all das zu verlieren, von dem er noch nicht genug hat, den Gemüsehändler, der zwischen den Amboss des Großkapitals und den Hammer des Kommunismus geraten zu sein glaubt und nicht mehr weiß, wo sein Platz in der Welt ist, der zweifelt, überhaupt einen zu haben, und darüber seine ganze Existenz infrage stellt. Es braucht eine neue, große Massenpartei mit einer vertrauenerweckenden parlamentarischen Perspektive für die Welt dazwischen. Der Kleinbürger braucht Trost, das Land braucht Frieden, man muss ihnen beides geben.
Der Thron ist schon allzu lange leer, die Gewalt kommt nie ohne ihren Schatten, das Schwert gehört zurück in die Scheide. An der Spitze des Faschismus werden Politiker sitzen, nicht die Kämpfer, und das Kopfende des Tisches ist dort, wo ich sitze. Jetzt gilt es, die jaulende Meute der Kriegshunde zurückzupfeifen.