»Agrarsklaverei«.
Die Anschuldigung ist empörend. Was sie so unerträglich macht, ist die Tatsache, dass sie von D’Annunzio stammt, dem Seher, dem Dichter, dem Mann der Großtaten und hehren Ideale, dem Krieger des lauteren, selbstlosen Ruhms. In den vergangenen Wochen kam D’Annunzio aus der Deckung seines selbsterwählten goldenen Exils von Gardone, in dem er sich bislang verschanzt hat, um angewidert auf die faschistische Kloake hinabzublicken und ihr dieses schmähliche Brandmal aufzudrücken: Agrarsklaverei. Ein erzürnter, berechnender Halbgott, der auf dem Gipfel seines Olymps auf der Lauer liegt, um den armseligen Menschen zu gebieten, die sich dort unten bis zu den Ellenbogen in Blut und Scheiße abplagen: Platz da, jetzt komme ich.
Der Mann, der D’Annunzio diese ebenso bösartige wie brillante Wendung angeblich in den Mund gelegt hat, steht nun vor Mussolinis Degen. Er heißt Mario Missiroli, ist ein Fürst des italienischen Journalismus und rechter Liberaler, dazu Freimaurer und – nachdem ihn die Squadristen von Bologna durch Boykott um die Leitung der lokalen Tageszeitung Il resto del Carlino gebracht haben – Herausgeber des Il Secolo.
Missiroli hat in seinem Leben noch keinen Degen geführt, doch als Mussolini ihn öffentlich beleidigt und einen »waschechten Feigling« genannt hat, schickte er gleich seine Kartellträger mit einer Herausforderung zum Duell los. Dann trainierte er tagtäglich mit dem berühmten Fechter Giuseppe Mangiarotti und ist nun auf die Minute pünktlich und in Begleitung von Francesco Perrotti, dem friedfertigen Chefredakteur seines Blattes, vor der Radrennbahn am Corso Sempione erschienen. Es ist der 13. Mai um 18 Uhr, und dieser distinguierte Intellektuelle, der über keinerlei Duellerfahrung verfügt, blickt dem Angriff in einem herrlichen, über der Brust geöffneten Seidenhemd furchtlos entgegen. Es ist unerträglich.
Alle wissen, dass Missiroli recht hat. Die seit der Zerstörung der sozialistischen Verbände sich selbst überlassenen Bauern der Emilia ergeben sich vor Hunger. Die Agrarier führen einen erbarmungslosen Rückeroberungskrieg, der die Sozialreformen von Jahrzehnten zunichtemacht. Die faschistischen Korporationen verhandeln direkt mit den Herren, setzen die Lohnarbeitervereinbarungen eine nach der anderen außer Kraft oder erklären andernfalls die allgemeine Gültigkeit der Verträge für nichtig. Damit ist der einzelne Bauer hilflos der Rache seines Herrn ausgeliefert. Wenn er noch die Kraft zum Protestieren findet, tauchen von bewaffneten Squadristen eskortierte Streikbrecher aus den anderen Provinzen auf, die noch schlechter dran sind, und fallen wie Heuschreckenschwärme ein.
Dazu gezwungen, sich mit der tonangebenden Rolle des Provinzfaschismus abzufinden, versuchte Mussolini es mit einer theoretischen Rechtfertigung in seiner Zeitung, in der er zwischen Agrariern – konservative Großgrundbesitzer – und Landleuten – revolutionäre Kleinbauern – unterscheidet. Der Faschismus sei rural, nicht agrarisch, schrieb er. Doch es hat nichts genutzt. Vor ihm steht der leibhaftige Vorwurf der Sklaverei und trägt ein herrliches, dreist über der Brust geöffnetes Seidenhemd.
Dabei tut der Gründer alles, um den Faschismus zu zivilisieren. Anfang März ist er zur Erweiterung des eigenen Horizonts nach Deutschland gereist. Er hat mit eigenen Augen gesehen, wie die Deutschen die Maske der Republik und des Pazifismus tragen. Doch auch dort regt sich wieder die Rechte. Dann musste er Hals über Kopf zurück nach Italien, weil der D’Annunzio-Bewunderer und Ras von Venedig, Pietro Marsich, zum Aufruhr geblasen, seine Führung infrage gestellt und ihn des parlamentarischen Verrats an den ursprünglichen Idealen der Bewegung bezichtigt hatte. Die Folge war ein mörderisches Brüderduell mit Oberstleutnant Baseggio, Sansepolcrist, Erfinder des Arditismus, Gründer der legendären und ruchlosen »Todeskompanie« und Unterstützer Marsichs.
Nach seiner Rauferei mit Baseggio gelang es Mussolini am 26. März, zwanzigtausend schwarzbehemdete junge Faschisten in geschlossenen Reihen durch Mailand ziehen zu lassen, die Hauptstadt des Sozialismus. Sie kamen so fesch, männlich, diszipliniert und anständig daher, dass die jubelnden Damen auf der Piazza Duomo noch einen verstohlenen Blick in ihre Taschenspiegel warfen. Doch die barbarischen Squadristen auf dem Land mussten natürlich wieder über die Stränge schlagen und ihn in den Abgrund reißen. So läuft es nun einmal: Er ist ein einsamer Wolf, der weder Freunde hat noch sich welche leisten kann.
Bei der Nationalkonferenz am 4. April hat Mussolini kein Blatt vor den Mund genommen. Der Nimbus der Sympathie, der den Faschismus im Jahr 1921 umgab, beginnt zu bröckeln. Während die Bewegung in den ländlichen Gebieten Erfolge feiert, sieht das Bürgertum die Vorzüge des Squadrismus schwinden. Die Sozialisten bereiten ihnen keine Angst mehr. Die Mailänder Industriellen verteilen mit der einen Hand dankbare Trinkgelder und sind mit der anderen drauf und dran, dem anrüchigen Diener den Laufpass zu geben. Es wird sogar davon geredet, wieder Geschäftsbeziehungen mit Sowjetrussland aufzunehmen. Ehe man es sich versieht, ist man umzingelt. Die Prügeleien müssen ein Ende haben. Defensive Gewalt ist heilig, doch wer Häuser stürmt oder sich hinter einer Hecke auf die Lauer legt, ist kein Faschist. Ein Aufstand wäre zwar eine Option, doch zurzeit ist der Gedanke unrealistisch. Der Faschismus muss im Herzen des nationalen Lebens verankert, das dekadente Wahlspielchen mitgemacht werden. Eine Regierungsbeteiligung ist nicht ausgeschlossen: Das Parlament gehört zwar verachtet, doch man muss es sich zunutze machen.
Dino Grandi hat ihn unterstützt, alle haben für seinen Antrag gestimmt, doch auch das nützt nichts. Die Faschistische Partei hat zwar immer größeren Zulauf, aber abgesehen von der Rechten will keine der im Parlament vertretenen Parteien sie an der Regierung sehen. Die Sozialisten hassen sie, die Volkspartei fürchtet sie, die Demokraten und die gemäßigten Liberalen verachten sie. Es gab heimliche Unterredungen mit Facta. Man munkelt von nicht mehr als drei Unterstaatssekretären. Das übliche, elende Einerlei. Unerträglich. Der Faschismus hat keine Freunde und will keine.
Als Mussolini sich auf Missiroli stürzt, ist sein Gesicht zornesfahl. Beim ersten Angriff bricht die Degenklinge. Die Waffe wird ersetzt. Mit dem Reservedegen in der Hand stürzt sich der Herausgeforderte abermals auf den Herausforderer. Missiroli bewahrt Ruhe und pariert die Schläge. Der Angreifer schäumt vor Wut, er drischt mit flachen Klingenhieben und ohne auf seine Deckung zu achten um sich, als führte er statt eines Degens einen Säbel.
Perrotti, der friedfertige Chefredakteur des Il Secolo, den Missiroli als seinen Sekundanten mitgeschleift hat, redet zwanghaft auf den Duellarzt Doktor Binda ein: »Abbrechen, aufhören!«
Beim dritten Angriff wird Missiroli verletzt. Die Verletzung wird als leicht beurteilt. Die Duellanten werden wieder auf den Fechtboden geführt. Abermals attackiert Mussolini wutentbrannt seinen Gegner. Perrotti kann sich nicht mehr zurückhalten: »Aufhören, aufhören, sonst gibt es noch Tote!« Beim siebten Angriff bohrt sich Mussolinis Degen in den gegnerischen rechten Unterarm. Das Duell ist zu Ende. Doch keiner der beiden ist zufrieden.
Während Doktor Binda den blutenden Arm des immer noch seelenruhigen Missiroli verarztet, tritt dessen unsäglicher, hysterisch zitternder Sekundant an den Arzt heran, stammelt ihm etwas von der unergründlichen Krankheit seines Töchterchens ins Ohr und fleht ihn an, sie zu untersuchen. Man hat sie ans Meer nach Salsomaggiore gebracht, in der Hoffnung, die Seeluft tue ihr gut. Sie ist sein einziges Kind, eine reizende kleine Kreatur, und die Vorstellung, dass sie leiden muss, ist ihm unerträglich, die Welt wird von Schlechtigkeit regiert.
Mussolinis Leibarzt Ambrogio Binda lässt sich erweichen und bricht am nächsten Tag auf. In der Woche darauf erwägt Francesco Perrotti, Mario Missirolis Sekundant, sich das Leben zu nehmen.