Er ist mit dem Flugzeug von Rom nach Mailand zurückgekehrt, am Steuer eines Wasserflugzeugs Macchi M.18 in der Sommerausführung mit offener Kabine und einem Isotta-Fraschini-Asso-Motor, 150 PS, 1000 Kilometer Reichweite und fast 200 Stundenkilometer Höchstgeschwindigkeit, weshalb ihm die laue Augustluft ins unrasierte Gesicht peitschte. Er hat der Sarfatti ein Versprechen gegeben und gedenkt, es zu halten: Ich werde das erste europäische Staatsoberhaupt sein, das nicht nur im Flugzeug unterwegs ist, sondern selbst am Steuer sitzt.
Italien von oben ist wunderschön, das Pfeifen des Fahrtwindes mischt sich mit dem Dröhnen des Motors und untermalt die Aussicht wie leises, geheimnisvolles Oboenspiel, das sich mit dem kraftvollen Forte der Streicher abwechselt. Der wegen der Fliegerbrille verschwommene Blick legt sich auf die Kuppen und Flanken der Hügel wie auf den erhabenen, reglosen Körper eines bezwungenen Feindes. Mussolini fühlt sich lebendig.
Der Sozialismus liegt am Boden. Er erhebt sich nicht mehr. Die ihm von den faschistischen Squadren auferlegte Strafe war erbarmungslos und endete selbst dann nicht, als die besiegte Arbeiterallianz am 4. August den »legalen Streik« widerrief. Im Gegenteil: Tagelang tobten sich die Squadren an ihrem bezwungenen Feind aus. Hunderte zerstörte Kooperativen, Vereine, Arbeiterkammern und zurückgetretene sozialistische Gemeindeverwaltungen im ganzen Land. Als er am 12. August über Italien hinwegflog, war in der Toskana, der Emilia und der Poebene noch der Rauch der Brände zu sehen. Ein echter Todesstoß.
Bevor er an jenem Morgen zum Steuerknüppel gegriffen hatte, hat Mussolini in La Giustizia einen Artikel gelesen, in dem Turati persönlich die vernichtende Niederlage verkündet: »Es erfordert Mut zuzugeben: Der Generalstreik war unser Caporetto. Schwer geschlagen gehen wir aus dieser Prüfung hervor. Wir haben unsere letzte Karte gespielt und dabei Mailand und Genua verloren, die wir für uneinnehmbare Bollwerke unseres Widerstands hielten. Mit unvermindert zerstörerischer Gewalt entflammt das faschistische Feuer in sämtlichen großen Städten. Es erfordert Mut zuzugeben: Heute beherrschen die Faschisten das Feld. Wenn es nach ihnen ginge, nähmen ihre vernichtenden Schläge kein Ende.«
Italien ist wirklich ein wunderbares Land: Achtundvierzig Stunden rohe Gewalt haben geschafft, was ein Jahrhundert des Kampfes nicht zuwege brachte: Die Sozialisten sind zerstört. Schau nur, all diese Menschen dort unten, all diese sozialistischen Blätter und Vereinigungen, die bis gestern die Ebenen, Küsten und Gebirge dieses herrlichen Landes belebten. Schau sie dir jetzt an … nicht ein Zucken, nicht ein Wort, sie wagen kaum zu atmen.
Turati hat zwar recht, doch sein Pessimismus ist übertrieben. Inzwischen ist jede weitere Aktion gegen die Sozialisten eine Verschwendung; es gibt nur noch zwei Kräfte auf dem Platz: die Faschisten und den liberalen Staat, und ihr Duell wird tödlich sein. Bis zum ersten Schlag braucht es einen langen Atem. Das ist der Leitspruch, an den man sich halten muss. Wie immer.
Aber einfach wird es nicht, das ist es nie. In Mailand sind die Squadristen voller Jubel über den immensen Erfolg der in seiner Abwesenheit vollbrachten Taten. Als der Duce Bianchi den Kopf für die nicht genehmigte Mobilisierung wusch, hat ihm Michelino zwar seine unverbrüchliche Treue beteuert, aber anzumerken gewagt, dass er bei dessen Palastmanövern um einer »Wackelregierung« willen nicht mitmachen würde, die Zeit sei reif für eine wirkliche Machtergreifung. Cesare Rossi, den er am 5. August angerufen hatte, wagte sogar zu sagen, er würde an seiner Stelle nicht zurückkommen, nur um die drei bei der Stürmung des Avanti! gefallenen Faschisten unter die Erde zu bringen. Zudem haben Rossi, Bianchi, Finzi und die anderen angefangen, im Taumel der Begeisterung von einem Staatsstreich zu faseln und dafür alle möglichen Leute zusammenzutrommeln. Sie sind sogar geschlossen zum Corriere della Sera marschiert, um das Ereignis anzukündigen, doch Albertinis Bruder hat sie vor die Tür gesetzt.
Am 9. August ist dann Leandro Arpinati während der Parlamentsdebatte um das Vertrauensvotum gegen Facta plötzlich seelenruhig aufgestanden und ohne ein Wort auf die Bänke der kommunistischen Abgeordneten zugegangen. Als die Parlamentsdiener ihn zu fassen bekamen, hatte er bereits die Waffe in der Hand.
So läuft das nicht. Von den Ereignissen mitgerissen, hat Mussolini zwar wie üblich die Niederschlagung des legalen Streiks durch die Squadristen verteidigt, doch bei ihrem Sprung ins Ungewisse wird er ihnen nicht folgen. Die faschistische Miliz will militärisch organisiert sein, doch nur ein Schwachkopf würde ausschließlich auf die militärische Aktion setzen. Bis jetzt hat die Armee noch keinen Schuss auf die Squadristen abgefeuert, und wenn doch, wie in Sarzana, ging die Sache glimpflich aus. Selbst den Sozialisten ist es gelungen, die Squadristen aufzuhalten, wenn sie sich organisiert haben wie am 6. August in Parma bei der Gegenwehr der Arditi del Popolo im Arbeitervorort Oltretorrente. Dort hat es Balbo mit 4000 Schwarzhemden nicht einmal über den Fluss geschafft.
Dann ist da noch der Süden, dieser mittelalterliche Spreißel, der im Fleisch der Nation steckt und unter Honoratioren wie Nitti aufgeteilt ist. Abgesehen von Apulien und Neapel hat der Faschismus im Süden noch keinen Fuß auf den Boden gekriegt. Die Mehrheit der emilianischen, toskanischen und lombardischen Ras hat es nie über Rom hinausgeschafft. Südlich davon ist alles ein einziger weißer Fleck.
Und nicht zu vergessen, D’Annunzio. Nach der Ansprache auf dem Balkon des Palazzo Marino hat er sich über Rossis Pressemitteilungen echauffiert, der ihn offiziell in die Reihen der Faschisten eingliederte, und sich öffentlich davon losgesagt. Doch das Bad in der Menge hat ihm den Kamm wieder schwellen lassen und das wechselhafte Temperament des Koksers scheint einem neuerlichen Anflug politischer Erregung Vorschub zu leisten.
Doch wie dem auch sei, am Steuerknüppel braucht es Fingerspitzengefühl, wenn man nicht abstürzen will. Und weil er geschickt zu manövrieren versteht, hat er nach beharrlichen vertraulichen Verhandlungen ein bis dahin undenkbares Geheimtreffen mit den beiden Erzfeinden D’Annunzio und Nitti eingefädelt, um eine Dreierregierung auf die Beine zu stellen, die alles zusammenhält, Norden und Süden, Legalität und Illegalität, Revolution und Wiederherstellung der staatlichen Autorität, Palast und Straße, Blut und Scheiße, Kabinettsgeheimnisse und Rassemythen. Das Treffen soll am 19. August in der toskanischen Villa des Barone Camillo Romano Avezzana stattfinden, dem ehemaligen Botschafter in Washington. Das Problem ist nur, dass D’Annunzio selbstverständlich das Sagen haben will.
Beim Treffen der faschistischen Führungsspitzen am 13. August in Mailand weiß bis auf Bianchi und Rossi niemand von alldem. Zu der Versammlung erscheinen die Parteiführung, das Zentralkomitee, die parlamentarische Fraktion und der Gewerkschaftsverband, sämtliche Köpfe des Faschismus sind zugegen, viele von ihnen nehmen zum ersten Mal an einem Gipfel teil, sogar Caradonna aus Apulien und Aurelio Padovani aus Neapel sind gekommen, doch niemand ahnt etwas von der angedachten Regierungsbildung mit D’Annunzio und Nitti. Die Zusammenkunft findet in einem schmucklosen, schlichten Saal im Sitz des Fascio in der Via San Marco hinter geschlossenen Türen statt.
Eine Zigarette nach der anderen rauchend, gibt Parteisekretär Bianchi einen allgemeinen Lagebericht und legt das Dilemma dar: »Wir stehen vor enormen Aufgaben. Die Arbeiter strömen uns in Massen zu … Der Faschismus setzt sich durch … entweder wird er zum Lebenssaft, der den Staat ernährt, oder wir ersetzen den Staat.« Das Dilemma besteht in der Entscheidung zwischen politischem Umsturz und legaler Machtübernahme durch Neuwahlen. Bis auf Bianchi, Farinacci und Balbo zieht niemand einen Umsturz ernsthaft in Betracht. Dino Grandi spricht sich offen dagegen aus, und viele folgen seinem Beispiel. In einer Sache allerdings hat Bianchi recht: Man steht an einem Scheideweg, an einem Punkt ohne Wiederkehr. Das wirre Gefasel von der sozialistischen Revolution ist eine Lehre gewesen; ab jetzt heißt es Macht oder Untergang. Das hat sogar der große Denker Vilfredo Pareto geschrieben, in einer vertraulichen Nachricht an Mussolini aus Genf: »Jetzt oder nie.«
Während der Mittagspause nehmen Bianchi und Mussolini Balbo zur Seite und betrauen ihn, der auf die zentrale Organisation der Kampfbünde bestanden hat, mit der nationalen Führung der Miliz. Grinsend schlägt Balbo ein. Um das Militär ruhig zu halten, beschließt man, ihm zwei Generäle zur Seite zu stellen. Die Wahl fällt auf den Turiner Ras De Vecchi und auf Emilio De Bono, einen vorzeitig gealterten General im Ruhestand, der jahrelang bei sämtlichen Parteien politischen Anschluss gesucht hat.
Am Nachmittag wird im Kreis der wenigen führenden Köpfe der Partei weitergetagt. Mussolini leitet die Diskussion. Vier Tagesordnungspunkte stehen zur Abstimmung: Militarisierung der Squadren unter dem Oberkommando Balbo, De Vecchi und De Bono; parlamentarischer Antrag auf Neuwahlen; Ausweitung des Faschismus in bislang unerschlossenen Regionen; eine wirre und für niemanden verständliche Absichtserklärung der Unnachgiebigkeit gegenüber eventuellen Wahlbündnissen.
Es ist Abend geworden. Die Versammlung will sich gerade auflösen, als das Telefon klingelt: D’Annunzio liegt im Sterben. Der Comandante ist aus dem Fenster seiner Villa gestürzt, hat ein ernstes Schädeltrauma davongetragen und reichlich Blut verloren.
Die Nachricht löst heftige Bestürzung aus, die sich noch steigert, als man den Grund für den Fenstersturz erfährt: Angeblich hat sich der Dichter an Jolanda herangemacht, die minderjährige kleine Schwester seiner Dauergeliebten, der berühmten Pianistin Luisa Baccara, die gerade am Klavier saß und den beiden etwas vorspielte. Unklar ist, welche der beiden ihn hinuntergestoßen hat, die erzürnte Geliebte oder ihre bedrängte kleine Schwester. Vielleicht ist der Sturz des Poeten aber auch seiner dem weißen Pulver geschuldeten Unfähigkeit zuzuschreiben, eine Gefahr richtig einzuschätzen. Wie dem auch sei, die Geschichte Italiens steht an einem Wendepunkt.
Benito Mussolini verspürt ein Hochgefühl, wie er es sonst nur vom Steuern seines Flugzeuges kennt. Er schwingt sich in seinen Sportwagen, fordert den jungen Balbo ebenfalls zum Einsteigen auf und unternimmt mit ihm eine Spritztour durch Mailand. Er tritt das Gaspedal durch, und der Wagen schlingert in der sommerlichen Abenddämmerung über das Straßenpflaster und gerät auf den Straßenbahnschienen gefährlich ins Rutschen. Doch das macht nichts. Es bereitet dem Duce des Faschismus Freude, mit seinem jungen Freund über das kulturelle Schicksal der Nation zu plaudern. Manche Zeitungen, auch die rechten, lassen sich über die tägliche Gewalt zwischen »Roten« und »Schwarzen« aus und munkeln von finsteren Zeiten und Niedergang. Dämliche Schwarzseher. Die kapieren nichts. Selbst die Göttliche Komödie, die größte italienische Dichtung überhaupt, hat unseren ewigen Bürgerkrieg besungen. Hätten Guelfen und Ghibellinen sich nicht ein Jahrhundert lang die Köpfe eingeschlagen, hätte Dante gar nicht gewusst, worüber er schreiben soll.
Ermutigt von der selten guten Laune seines Duce, frotzelt Balbo über Dichter und ihre Inspiration, über Höhenflüge und Balkonstürze. Empor die Herzen! Es ist ein schöner Sommerabend, der Sportwagen saust über die wabenförmig gepflasterten Mailänder Straßen und das Leben ist herrlich.
Ehe es auf gemeinsame Spritztour ging, hat der sportliche Fahrer mit scheinheiligem Lächeln eine Pressemitteilung der faschistischen Parteiführung aufgesetzt, die verlautet, der Marsch auf Rom sei ein »völlig haltloses Gerücht«.