»Beim ersten Feuer wird der ganze Faschismus in sich zusammenbrechen.«
Das soll General Badoglio bei einem Treffen in Rom vor Bankiers und Journalisten gesagt haben, auch General Diaz war zugegen. Der in irgendeinem Salon dieser durch und durch verpesteten Stadt getane Ausspruch lastet wie eine an die Schläfe gesetzte Pistole auf den Männern, die heimlich im Sitz des ersten Fascios in der Mailänder Via San Marco, Nummer 16, zusammenkommen. Alle, auch die vier Generäle unter ihnen, wissen, dass Badoglio recht hat. Der Einzige, der das offenbar nicht weiß, ist Italo Balbo. Der vom Duce nach Mailand gerufene Balbo hat diesem am 6. Oktober versichert, die Militarisierung der Squadren schreite zügig voran. Die Jungs in den Provinzen seien für das Ereignis bereit.
Entgegen seinen Gewohnheiten hat Mussolini ihn zum Abschluss des Treffens kameradschaftlich zum Mittagessen ins Campari eingeladen. Das Gespräch beim Kaffee war herzlich, die Atmosphäre entspannt. Dennoch weiß Mussolini ganz genau, dass Balbos Schläger keine Soldaten sind, dass die Rauferei einen anderen Mut verlangt als die Schlacht, dass gnadenloser Terror gegen die wehrlosen Menschen und brennbaren Güter eines gegnerischen Dorfes zwar eine Riesensache ist, aber nichts mit Krieg zu tun hat. Fahrrädern mit Lastwagen, dem Stillstand mit Angriff, den friedfertigen demokratiegläubigen Massendemonstrationen der Sozialisten mit der zügellosen Raserei motorisierter Squadren zu begegnen, ist zwar berauschend, hat aber nichts mit Krieg zu tun. Das von De Bono und De Vecchi Mitte September ausgearbeitete neue Reglement der Miliz für die nationale Sicherheit hat den Squadristen militärische Disziplin verordnet, Hierarchien und militärische Grade eingeführt und gewählte Befehlshaber abgeschafft, doch sämtliche Bezeichnungen und Adjektive können nicht darüber hinwegtäuschen, dass es keine echte faschistische Streitkraft gibt. In der gesamten Poebene verfügen die Squadristen über ein paar Tausend mickrige Gewehre, und es gibt niemanden, der sie daran ausbildet.
Beim ersten Feuer der regulären Streitkräfte würde der Faschismus zusammenbrechen. Alle wissen das. Dennoch kommen an einem Herbstnachmittag in Mailand vier erfahrene Generäle und vier mehrfach dekorierte Veteranen zusammen, um über den bewaffneten Aufstand gegen den Staat zu entscheiden.
Das Treffen ist für den 16. Oktober um 15 Uhr im kleinen Salon der Fascio-Zentrale anberaumt. Die Einladungen hatte Mussolini vier Tage zuvor mit der Anordnung versandt, ihr unbedingt Folge zu leisten. Zu den Empfängern gehören neben dem bereits vor Ort befindlichen Michele Bianchi die Befehlshaber der Miliz, Balbo, De Bono, De Vecchi, dazu der römische Squadristenführer und Träger der goldenen Tapferkeitsmedaille, Ulisse Igliori, sowie die Neumitglieder Fara und Ceccherini, zwei Generäle mit brillanter Karriere. Außen wird das Gebäude durch königliche Garden, innen durch Squadristen bewacht.
Doch zuvor muss noch ein diplomatischer Brand gelöscht werden: De Bono, der über Faras und Ceccherinis Einladung nicht informiert war, echauffiert sich über deren Anwesenheit. Achselzuckend nimmt Mussolini den Zank zur Kenntnis: Die Neumitglieder sind verdiente Soldaten, Ceccherini hat die Bersaglieri in der zweiten Isonzoschlacht angeführt, Fara hat das Hochplateau Bainsizza erobert und im libyschen Sciara Sciatt Italiens Ehre verteidigt. De Bono ist außerhalb militärischer Kreise völlig unbekannt. Endlich glätten sich die Wogen, und die Versammlung beginnt. Balbo, in jeder Hinsicht der Jüngste, führt Protokoll.
Der Duce ergreift das Wort und erklärt den Grund ihres Treffens. Sie sind zusammengekommen, weil ein Staat, der sich nicht mehr verteidigen kann, sein Existenzrecht verwirkt hat. Gäbe es in Italien eine echte Regierung, müssten die königlichen Garden in diesem Moment durch die Tür kommen, das Treffen auflösen, die Räume besetzen und sie allesamt verhaften. In einem Staat, der über Armee und Polizei verfügt, kann es keine bewaffnete Organisation mit eigenen Regeln und Gesetzen geben. Doch in Italien existiert kein Staat mehr. Es hilft nichts, die Faschisten müssen an die Macht, damit die Geschichte Italiens nicht als Farce endet.
Die Schlussfolgerung ist einfach: Italien ist eine Nation, aber kein Staat. Also wird der Faschismus ihm einen Staat geben. Bei der Versammlung in Udine am 20. September hat Mussolini es deutlich gesagt: »Unser Programm ist simpel, wir wollen Italien regieren.«
Offenbar blickt Ministerpräsident Facta nicht über seinen Walrossbart hinaus, denn er lügt sich beharrlich in die eigene Tasche, vertraut auf den Eintritt der Faschisten in sein drittes Kabinett und lässt es sich nicht nehmen, am 24. September an einem Festessen in Pinerolo mit Vol-au-vents und Vitel tonné teilzunehmen, um seine dreißigjährige Parlamentszugehörigkeit mit den Wählern zu feiern: 3200 Gäste, darunter auch 71 Senatoren und 117 Abgeordnete. Ein Leichenschmaus erster Güte.
Die Kabinettsmumien haben sich darin verbohrt, den Marsch auf Rom für eine Metapher zu halten, dabei ist der Marsch bereits im Gange und so gut wie Geschichte. Rom ist infiziert, und man muss marschieren, um die Geschwüre zu entfernen und die Stadt den unfähigen Politstümpern zu entreißen. Die Miliz steht bereit, geläutert durch die Gewalt einer kriegführenden Armee, die Prophezeiung der Gewalt wird sich bewahrheiten, es gibt Gewalt, die befreit, und Gewalt, die in Ketten legt, die Masse ist die Herde, das Jahrhundert der Demokratie ist vorüber, der liberale Staat ist eine Larve, der Faschismus ist das junge, starke, männliche Italien, der Zusammenstoß ist unvermeidlich, der Moment ist gekommen, dies ist die Stunde des Angriffs, die Prophezeiung ist jetzt. Wenn die Glocke ertönt, werden wir marschieren wie ein einziger Mann.
Während sie dem Kriegsgesang des Duce lauschen, flackert in Balbos Blick animalischer Tatendrang und Bianchi verwandelt eine seiner unzähligen Zigaretten in Asche. De Vecchi ist blass geworden und verlangt zu sprechen:
»Duce, keiner verachtet das erbärmliche, verseuchte, faulige, altersschwache, verlauste, von pazifistischen Kastraten bevölkerte Italien mehr als ich, doch der entscheidende Punkt wird übersehen. Ohne einen militärischen Organismus, der die faschistischen Kräfte zu lenken versteht, ist der Plan zum Scheitern verurteilt.«
Mussolini und Bianchi tauschen einen einvernehmlichen Blick und richten ihre Augen auf den Zweifler. De Vecchi fährt fort:
»Die Miliz ist noch nicht bereit, und es braucht Zeit, bis sie in der Lage ist, als organische Kraft zu agieren.«
Mussolini fährt ihm verärgert über den Mund. De Vecchi verlangt Zeit, und ausgerechnet die haben sie nicht, der Angriff muss binnen weniger Tage erfolgen.
»Das ist absurd, es sei denn, man ist nicht auf einen Erfolg, sondern auf ein Debakel aus.« Nach diesem letzten Einwand schraubt De Vecchi seine Forderung auf einen Monat Aufschub herunter und bittet die anderen um ihre Meinung.
Italo Balbo äußert Bedenken: »Die Manöver der alten Parlamentsparteien werden immer ungemütlicher. Der Faschismus läuft Gefahr, Opfer einer gegen ihn gesponnenen Intrige zu werden und in die Wahlfalle zu tappen. Wir müssen den Staatsstreich jetzt versuchen, im Frühjahr wird es zu spät sein: Die Liberalen und die Sozialisten werden sich im römischen Sumpf bereits einig.«
Michele Bianchi pflichtet ihm bei und führt politische Beweggründe für ein unverzügliches Handeln ins Feld. Auf Bianchis Nachfrage signalisieren De Bono und Ceccherini zurückhaltende Zustimmung für De Vecchis Aufschubforderung. General Fara bemerkt, er sehe keine Notwendigkeit für ein sofortiges Handeln, zudem kenne er die Männer und Befehlshaber noch nicht. Er neigt zur Verschiebung.
Dann ergreift Mussolini wieder das Wort. Sein lauernder Ingrimm ist einem milderen Ton gewichen:
»Die revolutionäre Tat, der Marsch auf Rom, wird entweder sofort oder nie mehr vollbracht. Die Verhandlungen, die ich mit Facta führe, sind lediglich ein Ablenkungsmanöver. Die Zeit ist reif und die Regierung verdorben. Das Gespenst Giolittis rückt immer näher, und ihr wisst, dass man sich mit Giolitti am Ruder so manches aus dem Kopf schlagen kann.« Er macht eine Pause, blickt in die Runde, um die Wirkung seiner Worte zu prüfen, und fährt fort: »Soweit ich weiß, streben einige von Factas Leuten eine spektakuläre Versöhnung zwischen Giolitti und D’Annunzio an. Ich habe D’Annunzio vergangene Woche in Gardone getroffen, und wir sind uns einig geworden. Fürs Erste ist er auf unserer Seite. Doch die von Facta geplante Umarmung mit Giolitti soll zum Jahrestag des Sieges am 4. November in Gegenwart der Kriegsveteranen auf dem Vaterlandsaltar erfolgen. Man muss kein Hellseher sein, um zu begreifen, dass eine solch entsetzlich theatralische, aber zweifellos bedeutsame Geste Giolitti neuen Auftrieb geben würde. Ehe es dazu kommt, müssen wir handeln.«
Die Entscheidung ist gefallen: Gewaltakt. Zur Festlegung des Datums will man die große Versammlung abwarten, die für den 24. Oktober in Neapel geplant ist. Bleibt nur noch, sich über den Handlungsablauf klarzuwerden. Mit Beginn der militärischen Offensive müssen sämtliche politischen Hierarchien verschwinden. Bianchi, Balbo, De Bono und De Vecchi werden ein Quadrumvirat bilden und das volle militärische Kommando übernehmen. In den nur eine Nacht Fußmarsch von Rom entfernten Ortschaften Monterotondo, Tivoli und Santa Marinella wird man die Kolonnen zusammenziehen. Perugia wird zum Sitz des Quadrumvirats, Foligno zum Sitz der Reserve ernannt.
Mussolini holt ein Stück Papier hervor. Zur Verblüffung der Anwesenden verliest er den Aufruf zum faschistischen Aufstand, den er bereits seit Tagen fertig in der Tasche hat:
»Faschisten! Italiener! Die Stunde der Entscheidungsschlacht hat geschlagen …«
Zwischen all den kahlen, leeren Räumen in der Via San Marco nimmt sich Cesare Rossis üppig möbliertes Büro äußerst gediegen aus. Bevor Italo Balbo nach der Versammlung mit den anderen aufgebrochen ist, konnte er es sich nicht verkneifen, sich über Rossis holzvertäfelten Großbürgerprotz lustig zu machen. Jetzt tigert Mussolini grimmig zwischen dem eleganten Mobiliar auf und ab und bleibt schließlich vor Rossis Schreibtisch stehen.
»Wenn Giolitti wieder an die Macht kommt, sind wir erledigt.«
Er betont jede Silbe – »er-le-digt« –, und in seiner schneidenden Stimme schwingt leise Panik mit.
»Weißt du noch, in Fiume hat er bei ähnlicher Gelegenheit mit Kanonen auf D’Annunzio geschossen. Jetzt heißt es schnell sein. Es wollte ihnen einfach nicht in den Kopf … Aber ich habe nicht lockergelassen. Bis Ende des Monats muss alles unter Dach und Fach sein.«
Er verstummt und wandert auf den zwanzig Quadratmetern wieder hin und her. Rossi wartet ab, er weiß, dass Mussolini mit seinen Ausführungen noch nicht zu Ende ist. Die Vertrautheit der Situation lässt den Berater das wahre Ausmaß der Lage erfassen.
»Der Faschismus quillt aus allen Löchern; jetzt will er sich sogar den Anstrich einer militärischen Organisation geben. Der Antifaschismus ist zu keinem ernsthaften Widerstand mehr fähig; bis auf ein paar gottverlassene Gegenden und eine Handvoll Leute haben wir ihn im Griff. Die Carabinieri und die königlichen Garden sind ganz klar auf unserer Seite, vor allem in den Provinzen. Die Armee wird uns unterstützen, weil sie weiß, dass wir das in den Schützengräben geborene Italien sind; jedenfalls wird sie nicht mucken. Factas Regierung wird nicht auf uns schießen. Die Monarchisten sind durch meine Rede in Udine beschwichtigt, und in Neapel werde ich noch deutlicher werden. Wenn all ihre Manöver gescheitert sind, werden die Parlamentarier nur darauf aus sein, sich mit uns einig zu werden. Eine schäbige Bande gieriger Selbstmörder ist das … Industrielle, Bürgertum, Landbesitzer, sie alle wollen uns in die Regierung holen. Sogar Liberale wie Albertini sind inzwischen der Meinung, dies sei das oberste Ziel. Auch Luigi Einaudi hat uns im Corriere Sympathie bekundet …«
Mussolini bleibt wieder stehen und rammt die Hände in die Taschen, als würden ihn die Hürden auf dem Weg zur Macht daran hindern, weiter durch Cesare Rossis Büro zu tigern.
»Es gibt folgende Schwachpunkte: Parma, das in den bewaffneten Händen der Kommunisten ist, D’Annunzio, der König und die Disziplinlosigkeit der Faschisten. Es wäre zu ärgerlich, wenn man beim entscheidenden Schlag in der Poebene steckenbliebe. Selbst nach seinem Fenstersturz übt D’Annunzio noch immer eine gewisse Faszination auch auf einen Teil unserer Leute aus, doch er bringt nichts zuwege. Er hat Alcyone geschrieben, was ich gewiss niemals fertigbrächte, doch als Politiker ist er eine Niete. Er ist der Mann der großen Schritte … doch kaum hat er die Strecke zurückgelegt, ist er des Wanderers Schatten … Ihn wieder umzudrehen, wird nicht schwer sein, auch wenn viele unserer Feinde ihn belagern …«
Wieder hält Mussolini in der Bewegung inne.
»Nein, wer mir am meisten Kopfzerbrechen bereitet, sind die Faschisten. Als menschliches Material für eine Großtat sind sie nichts wert. Persönliche Lehen, Provinzoligarchien, Satrapenwirtschaft … die muss man in den Griff kriegen … Was den Monarchen betrifft, dem ist gewiss nicht leicht beizukommen, doch auch am Thron gibt es gewisse Hebel, und wir werden sie zu bedienen wissen …«
Die Anspielung auf die Königinmutter und den Herzog von Aosta, die unverhohlen mit dem Faschismus sympathisieren, hängt im vom Abendlicht erfüllten Raum. Was die Freimauer betrifft, ist die beredte Stille Wink genug. Abermals schiebt Mussolini die Hände in die Taschen und schüttelt den Kopf.
»An den Gamaschen fehlen die Knöpfe … verstehst du, Cesare? Wenn uns diese Chance durch die Lappen geht, war’s das für uns, und De Vecchi, De Bono und die anderen Operettengeneräle werden behaupten, die Uniformen seien noch nicht fertig! Als ginge es nicht darum, auf Rom zu marschieren, sondern eine Ehrenparade auf die Beine zu stellen …«
Im Büro des Sekretärs der Mailänder Fasci ist es dunkel geworden. Allmählich werden die Tage kürzer. Mitte Oktober kommt der Abend in Norditalien schnell.
Schließlich steht Cesare Rossi von seinem Schreibtisch auf und knipst eine Art-déco-Lampe an. Sein beharrliches Schweigen und der vielsagende Blick malen den Schatten einer peinlichen Frage an die Wand und tauchen Mussolinis martialische Äußerungen in sarkastisches Licht. Von der Stille verschluckt, verliert der Ausdruck »Marsch auf Rom« seine Bedeutung.
Als Benito Mussolini seinen Blick bemerkt, muss er grinsen. Die beiden verstehen sich blind.
Der Krieg ist eine allzu ernste Sache, um sie den Generälen zu überlassen. Die haben keine Hintergedanken, die können gar nicht denken und zwischen Krieg und psychologischer Kriegsführung, zwischen angedrohter Gewalt und Gewalt nicht unterscheiden. Dennoch muss man so tun »als ob«, es ist alles eine Frage des »als ob« … Proklamieren, mobilisieren, bewaffnen, sich ein bisschen selbst zerfleischen und dann … dann so tun, als würde man marschieren, und es tatsächlich tun. Oder genau umgekehrt, ganz egal. So oder so geht es um Fanfaren, Getöse, Gesang und ein paar Blutlachen, es geht um eine Fiktion, die, um für bare Münze genommen zu werden, ein Übermaß an Wirklichkeit braucht. Im Grunde ist jede Großtat bestenfalls ein Symbol. Was sie schlimmstenfalls sein könnte, davon sollte man lieber nicht sprechen.
»Jetzt oder nie«. Das hat ihm sogar der große Pareto in einem Telegramm aus Genf geschrieben. Allerdings hat der berühmte Gelehrte hinzugefügt: »Die Italiener lieben große Worte und kleine Taten.«
Der Faschismus ist eine Revolution, mag sein, aber man darf nicht alles aufs Spiel setzen. Ein paar Fixpunkte müssen bleiben, damit es nicht so aussieht, als bräche alles zusammen. Sonst werden die Wellen der anfänglichen Begeisterung noch von Panik überrollt. Eine gemäßigte Barbarei also … das braucht es, um die Macht zu ergreifen: eine gemäßigte Barbarei.