Die Demokratie hat einen miserablen Stil. Grässliche Literatur. Trotzki hat recht.
Die von der faschistischen Offensive überrumpelten liberalen Blätter liefern den besten Beweis: Sie stottern, sympathisieren, gehen wieder auf Distanz und verrennen sich in pedantische, wirre, unstete Prosa. Es ist die Prosa einer abgehängten, ideen- und willenlosen Demokratie, die sich verängstigt umblickt, mit ihrem Geschreibsel einen Vorbehalt nach dem anderen anhäuft und aus dem Englischen übersetzt, einer Sprache, die sie nicht beherrscht und die so fern und fremd klingt wie Altgriechisch. Italien weiß nicht, was Demokratie ist. Russland weiß es ebenso wenig, doch um seine Ahnungslosigkeit wettzumachen, hat es sich immerhin dem Kommunismus verschrieben.
Ende Oktober bricht Nicola Bombacci nach Moskau auf, wo ihn der IV. Kongress der Kommunistischen Internationalen erwartet. Er hat sich der Delegation der Kommunistischen Partei Italiens angeschlossen, die sich im Januar 1921 in Livorno von der Sozialistischen Partei abgespalten hat und ihrerseits geteilt ist. Angelo Tasca führt die rechte Minderheit, die sich nach dem Rauswurf von Turatis Reformisten am Monatsanfang für eine Wiedervereinigung mit den Sozialisten ausspricht, während Sekretär Bordiga die sich gegen eine »einheitliche Front« starkmachende linke Mehrheit repräsentiert. Die russischen Bolschewiken drängen auf einen Zusammenschluss, um dem Faschismus mit einem geeinten, gesamtproletarischen Lager die Stirn zu bieten, doch Bordiga weigert sich. Seiner Meinung nach ist Demokratie schon Faschismus, die kapitalistische Konterrevolution hat schon gesiegt, was macht es da noch für einen Unterschied, ob die Faschisten an die Macht kommen? Beharrlich versucht Trotzki, Bordiga klarzumachen, dass die Besonderheit des italienischen Faschismus in der massiven Mobilisierung des Kleinbürgertums gegen das Proletariat liegt, doch Bordiga bleibt hart. Für ihn sind Demokratie und Faschismus das Gleiche, egal was Trotzki sagt.
Der unvermindert moskautreue Bombacci ist für die Wiederherstellung der »einheitlichen Front«. Beim Parteitag im Februar in Rom hat er mit offenem Visier gegen die Abstraktheit und den Purismus von Bordigas Anhängern gekämpft, die nur darauf aus sind, jegliche Verseuchung durch die Sozialisten zu vermeiden. Daraufhin wurde er von seinen eigenen Genossen gemieden; es folgten die Einsamkeit, das Misstrauen und schließlich sein Ausschluss aus dem Zentralkomitee der Partei. In einem glühenden Brief an Sinowjew hat er seine »politische Ermordung« beklagt.
Als die Delegation der italienischen Kommunisten, die von den Faschisten besiegt, von den Sozialisten abgespalten und im Inneren selbst zersplittert sind, Ende Oktober in Russland eintrifft, ist der russische Kommunismus auf dem Gipfel seines Triumphs. Der von Bordiga geschmähte Leo Trotzki, ehemaliger Literat mit dem Spitznamen »Feder«, hat seinen Schreibtisch verlassen und in wenigen Monaten die Rote Armee auf die Beine gestellt, das größte Volksheer der Geschichte, Millionen bewaffneter Arbeiter und Bauern, ein neuartiger, weltumspannender Bewegungskrieg, an dessen Spitze er in vier blutigen Bürgerkriegsjahren auf zwei Kontinenten und an Dutzenden Fronten sämtliche Feinde der Revolution zerrieben hat. Nach diesen Vernichtungsschlägen gegen innen und außen sind die russischen Kommunisten kurz davor, die Union der sozialistischen Sowjetrepubliken zu gründen und eine neue weltgeschichtliche Ära einzuläuten. Die Kommunisten im Westen beklagen derweil eine Schlappe nach der anderen und weichen an jeder Front zurück. Innerhalb der Komintern, der Internationalen sämtlicher kommunistischer Parteien der Welt, zeichnet sich die unangefochtene Vorherrschaft der russischen Genossen ab. Den anderen – allen voran Bordiga –, die sich in irgendwelchen Löchern verkriechen müssen, bleibt nichts anderes übrig, als sie von dort aus nach Kräften zu unterstützen.
Der von der leisen Schwermut in seinen himmelblauen Augen gut beratene Nicola Bombacci weiß, dass man sich Moskau unterordnen muss. Seit Livorno hat er es den versammelten Genossen immer wieder erklärt: »Trotz Angst und Schmerz schreiten wir voran und folgen dem Licht der russischen Revolution.« Im Parlament hat er sich anschließend dafür starkgemacht, dass der italienische Staat die Handelsbeziehungen mit Russland wiederaufnimmt und dessen Regierung anerkennt. In dieser Schlacht hat er seltsame Weggefährten gefunden wie den Großindustriellen Ettore Conti. Geschäftsstreben und Kommunismus Seite an Seite. Auch dieser Ironie der Geschichte muss sich das zynische Los der Besiegten beugen.
In Moskau sind die Fotografien der glorreichen Revolution bereits zu Ikonen der Zeit aufgestiegen und schmücken Funktionärsbüros und Kongresssäle. Juli 1917: Die Truppen der Übergangsregierung schießen in der Sadowaja-Straße in die Menge. September 1917: Gruppen bolschewistischer Arbeiter stehen mit gezückten Gewehren auf der Ladefläche eines Wagens und patrouillieren durch die Straßen Petersburgs. Oktober 1917: Die Matrosen des Kreuzers Aurora bereiten sich auf den Kampf vor.
Das weitaus schönste Foto trägt das Datum 25. Oktober 1917: Die roten Garden stürmen auf den Eingang des Winterpalastes zu. Das Foto des proletarischen Sturms auf den Hauptsitz und das Machtsymbol des russischen Zaren wurde von oben aufgenommen, vielleicht ist der Fotograf auf eine Straßenlaterne geklettert. Auf dem weißen Untergrund des verschneiten Platzes ist eine Vielzahl dunkler Männer im Ansturm auf eine ebenso dunkle Mauer zu sehen, die ihnen die Sicht auf alles Kommende versperrt. Der feindliche Wall erscheint unüberwindlich, eine unerbittliche Zurückweisung inmitten der Kälte eines endlosen Winters, stumm und fühllos, und dennoch hat keiner der winzigen Männer, die darauf zustürmen, beide Füße auf dem Boden. Allesamt jagen sie zentralperspektivisch und in einer nahezu perfekten Pyramide darauf zu, als hätte ein Renaissancemaler, Masaccio oder Piero della Francesca, dieses Triumphbild entworfen. An diesem späten Oktobertag des Jahres 1922 erkennen Nicola Bombacci und die anderen italienischen Delegierten noch nicht die Skrupellosigkeit der Revolutionssieger – bis dahin braucht es noch einige Jahre –, doch fraglos verstehen sie sie die Wehmut der Verlierer.
Antonio Gramsci, der brillanteste Kopf der Kommunistischen Partei Italiens, der ebenso wie Bombacci zur Delegation gehört, ist in beklagenswerter gesundheitlicher Verfassung. Um am Moskauer Kongress teilnehmen zu können, hat er seinen sechsmonatigen Sanatoriumsaufenthalt beendet, der lediglich die Verschlechterung seines Zustandes verhindern konnte. Gramsci leidet an chronischer Müdigkeit, Amnesien und Schlaflosigkeit.
Lenin, der bedeutendste Mann des Jahrhunderts, ist bedauerlicherweise ebenfalls krank. Als er die italienischen Genossen empfängt, hat er bereits einen Schlaganfall hinter sich, begrüßt sie aber dennoch mit einem Lächeln und plaudert mit Bordiga und Camilla Ravera auf Italienisch, ein Andenken an seine jugendliche Verbannung nach Capri. Im Namen aller wünscht Bordiga ihm baldige Genesung.
»Es geht mir gut«, lautet die prompte Antwort, »allerdings muss ich mich dem Joch der Ärzte beugen, wenn ich nicht wieder krank werden will …« Ohne ein weiteres Wort über seine knapp bemessene Zukunft zu verlieren, erkundigt er sich nach den Ereignissen in Italien.
Als Bordiga die Beziehungen mit der Sozialistischen Partei zu erläutern beginnt, schneidet Lenin ihm das Wort ab. Für dieses Hickhack ist ihm seine Zeit zu schade. Lieber will er wissen, was mit den Faschisten ist.
Bordiga legt ihm die Fakten dar, wiederholt, was bereits ausgeführt und geschlussfolgert wurde, als der große Mann ihm wieder ins Wort fällt und zu hören verlangt, was die Arbeiter und Bauern von den Geschehnissen halten. Der italienische Kommunistenführer Bordiga wird rot wie ein Schüler, der über eine unvorhergesehene Frage stolpert.
Während in Italien Zehntausende Schwarzhemden auf der Piazza del Plebiscito in Neapel »Nach Rom! Nach Rom!« rufen, besteigen die führenden Köpfe der Sozialistischen Partei in einträchtiger Entschlossenheit, sie nicht ernst zu nehmen, und begleitet von der felsenfesten Gewissheit, dass nichts Entscheidendes passieren wird, den Zug nach Moskau.