Der Palio ist keine wiederbelebte Folklore für Schaulustige und Touristen, sondern seit jeher Teil des Sieneser Lebens.
Seit 1644 werfen sich zwölf starkhufige, kompakte Maremmano-Pferde, die den Bauern in den steilen Hügeln und in der Macchia als zähe Arbeitstiere dienen, mit ihren Jockeys, die ohne Sattel reiten und leicht sind wie Spreu im Wind, in die enge Kurve von San Martino, um in drei Minuten drei irrwitzige Runden um die Piazza del Campo zu drehen – eine Runde pro Minute. Seit drei Jahrhunderten brennt das in siebzehn Contraden aufgeteilte Siena für dieses wüste Rennen und der allgemein aufbrandende Jubel lässt das von Gesten der Unterwerfung, geschundenen Rücken und namenlosen Generationen gezeichnete Dasein vergessen.
Einige Sozialisten sind gegen den Palio. So hat der mutige Parteigenosse Modigliani in einer Minenarbeiterversammlung in Siena die himmelschreiende Brutalität dieses mörderischen Rennens verurteilt, bei dem die Pferde häufig ihr Leben lassen. Giacomo Matteotti hat dennoch seine Frau mitgebracht, um in einem seltenen Moment der Zerstreuung diesem wunderbaren Schauspiel aus Volksbegeisterung und animalischer Wucht beizuwohnen. Zu diesem Anlass hat Velia eines der schlichten, eleganten Kleider aus ihrem Schrank geholt, die sie an der Seite ihres Mannes nie tragen kann. Jetzt schmiegt sie sich unter dem Kreuzgewölbe der Loggia della Mercanzia, rückseitig zur Piazza del Campo gelegen, an seinen Arm, um versteckt in der Menge den historischen Umzug der siebzehn Contraden zu bestaunen.
Nein, Modigliani irrt sich. Zwar sitzen auf den rings um den Platz errichteten Ehrenlogen und auf den Balkonen der Palazzi die bürgerlichen Herren, Großindustriellen, Magnaten und Großgrundbesitzer, um im Schatten ihrer Sonnenschirme das gewaltvolle Spektakel zu genießen, doch der Palio gehört dem Volk, das sich, benommen von der steil niederbrennenden Sonne und umtost von den wild galoppierenden Pferden, in der Mitte des Platzes drängt. Ja, das Volk spielt beim Palio die Hauptrolle! Zwar sind auch hier die Herren oben und das Volk ist unten, doch bei genauerem Hinsehen wird deutlich, dass die Herren, ob beim Palio oder in der Geschichte, immer nur Zuschauer des einfachen Lebens sind, in dem die Menschen leiden und sich auf den Tuffäckern die Seele aus dem Leib schwitzen – mögen sie es auch beherrschen, lenken und oder sogar nehmen.
Noch nie hat sich Giacomo Matteotti beim Volk so sehr in seinem Element gefühlt wie heute. Die anonyme Masse nimmt ihn auf, versteckt und schützt ihn. Der Ehrengast, für den sich Sienas Stadtobere in Lobpreisungen ergehen, ist der Philosoph und Minister für öffentliche Bildung Giovanni Gentile. Die Schulreform, die er erfolgreich durchgesetzt hat, beruht auf der Überhöhung humanistischer Bildung und wird nicht nur von Benito Mussolini als großer Erfolg seiner Regierung gepriesen, sondern selbst von Benedetto Croce gelobt. Offenbar will Rom die Stadt Siena ihrer Universität berauben und offenbar ist der Minister, der auf offiziellem Besuch in der zweitgrößten Stadt der Toskana ist, fest entschlossen, diese Herabstufung zu verhindern. Die Aufmerksamkeit aller faschistischen Anführer ist deshalb auf Giovanni Gentile gerichtet, und Giacomo Matteotti kann bequem im geschützten Abgrund seines Volkes verschwinden.
Seit Monaten vergällt ihm seine Unnachgiebigkeit das Leben, auch innerhalb der Partei. Vor allem unter den Gewerkschaftlern sind viele geneigt, mit den Faschisten zusammenzuarbeiten, und spekulieren darauf, dass sich Mussolinis sozialistische Vergangenheit und seine Normalisierungstaktik für die Arbeiter günstig auswirkt. Diese »Salonsozialisten« haben sich über die Jahrzehnte an sämtliche parlamentarischen Kompromisse gewöhnt. Sie begreifen nicht, dass der Marsch auf Rom nicht das Ende der Konflikte, sondern den Anfang der Diktatur bedeutet. Matteotti dagegen wird nicht müde, auf die Blindheit der Genossen hinzuweisen. Immer wieder macht man den Fehler, nach einer zukünftigen Katastrophe Ausschau zu halten, aber dann wacht man eines Morgens mit einem bleiernen Druck auf der Brust auf, blickt sich um und stellt fest, dass das Ende nun hinter einem liegt, die kleine Apokalypse hat bereits stattgefunden, ohne dass man etwas davon mitbekommen hat. Die von Farinacci nunmehr öffentlich geforderte »zweite Welle« reißt sie bereits mit sich fort.
Um das zu belegen, hat Matteotti es sich seit Monaten zur Aufgabe gemacht, sämtliche faschistischen Gewalttaten gewissenhaft zu vermerken. Akribisch füllt er damit die Seiten eines Buches, das er zum Jahresende unter dem Titel Ein Jahr Faschistenherrschaft zu veröffentlichen gedenkt. Bis zu diesem Tag hat er 42 Morde, 1112 Schlag-, Stich- und sonstige Verletzungen, 184 Verwüstungen von Gebäuden und Wohnungen sowie 24 Zeitungsbrände aufgeschrieben und dokumentiert. Doch mit jedem neuen Eintrag wird es um den Verfasser einsamer. Je länger die Liste der Gewalttaten wird, desto fester umgibt den Sekretär der Ring der Einsamkeit auch innerhalb seiner Partei. Sogar Turati hat ihn aufgefordert, sein Buchprojekt fallenzulassen, und wirft ihm »voreingenommene Feindseligkeit« gegenüber den gemäßigteren Genossen vor. Damit seine Partei Haltung bewahrt, bleibt dem isolierten jungen Generalsekretär nichts anderes übrig, als andauernd mit Rücktritt zu drohen. Manchmal scheint es, als müsste man die faschistischen Repressalien auf sich selbst lenken, um den schwachen Genossen die Augen zu öffnen.
Der einzige Weg, dieses immer verlorenere Italien zu retten, ist, ins Ausland zu fahren. Seit Anbruch des ersten faschistischen Herrschaftsjahres reist Giacomo Matteotti vermehrt in die Nachbarstaaten, um Bündnisse mit den französischen, belgischen, deutschen und englischen Genossen zu schließen. Im Februar war er beim Parteitag der französischen Sozialisten in Lille gewesen, im Monat darauf in Paris und ist dann nach Berlin gefahren, um die deutschen Sozialdemokraten zu treffen. Doch auch dieser Weg wurde ihm versperrt. Nach seiner Deutschlandreise hat Mussolini ihm den Pass entzogen.
Jetzt bereitet sich Siena unter der Loggia della Mercanzia auf das große Ereignis vor. Der Umzug mit den Bannern der Contraden und den Hunderten kostümierten Statisten ist fast beendet. Gleich wird die Startleine gespannt und die Pferde werden auf den Platz geführt, um sich auf den Start vorzubereiten. Giacomo und Velia Matteotti haben einander untergehakt und lassen sich bereitwillig vom jubelnden Menschenstrom mitziehen.
Irgendjemand ruft Matteottis Namen. Es klingt, als warnte er vor einem Wolf oder einem Räuber. Sein Name ist der eines Feindes.
Die Männer, die ihn erkannt haben, tragen keine Schwarzhemden, sondern die leuchtenden Farben ihrer Contraden. Der Milan, das Stachelschwein, die Gans, vielleicht die Welle, der Panther, die Schildkröte. Sie stürzen sich auf ihn. Velia klammert sich an den Arm ihres Mannes, er stellt sich schützend vor sie. Das Volk bemerkt nichts, Prügeleien zwischen Mitgliedern unterschiedlicher Contraden gibt es dauernd.
Doch dieses Mal ist eine Dame in das Handgemenge geraten, eine vornehme noch dazu. Diese Merkwürdigkeit fällt auf, Leute bleiben stehen. Bei aller Rauflust der rivalisierenden Contraden ist das eine Schande: Frauen sind tabu.
Ein Polizeiwagen schiebt sich durch die Menge. Unter den beklommenen Blicken der Umstehenden bringen die Polizisten die beiden Herrschaften in Sicherheit, damit das Rennen beginnen kann. Während Giacomo und Velia Matteotti zum Bahnhof geleitet werden, ausgestoßen und aus der feiernden Stadt verbannt, hallt das lärmende Treiben der Piazza del Campo bis in die Kreidehügel von Siena, auf denen der Wein in der Junisonne darrt.
Am Abend legt Giacomo Matteotti abermals Hand an sein Buch und fügt dem Rosenkranz faschistischer Herrschaft eine weitere Perle hinzu. Unter dem 2. Juli steht dort zu lesen: »Siena – Der Abgeordnete Matteotti wird im Beisein seiner Familie von Faschisten angegriffen und gezwungen, die Stadt zu verlassen. Die Polizei sieht tatenlos zu.«
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