Um acht Uhr morgens hat in den Parkalleen die Sammlung für den ersten Jahrestag des Marsches auf Rom begonnen: Wachbataillone des Heeres, Zenturien der Miliz, Bürgervereinigungen und patriotische Vereine. Der Duce ist zu Pferd und in der Uniform des Ehrenkorporals der Miliz erschienen: Fez, schwarzes Hemd, Arditi-Jacke mit pfeilgeschmückten Kragenspiegeln, Dolch am Gürtel. Tausende Männer mit goldenen Orden auf der Brust empfingen ihn mit frenetischem Jubel. Er begrüßte sie mit gerecktem Arm, die schwarz behandschuhte Hand flach erhoben, der aufrechte Blick in die Ferne gerichtet.
Es gibt wahrlich nichts auf der Erde, das sich vom Rücken eines Schlachtrosses nicht in seiner reinsten Form erkennen ließe. Vom Sattel aus erscheint Mailand schöner denn je. In der Flucht der schnurgeraden Alleen sind sogar die bereits beschneiten Alpengipfel zu sehen. Nur ein Jahr ist vergangen, seit er von hier im Schlafwagen aufgebrochen ist, um Rom zu erobern. Jetzt lässt sich das Programm mit einem einzigen Verb zusammenfassen: durchhalten, durchhalten, durchhalten. Erst ein Jahr … und schon gedenkt man hoch zu Ross. Die Zeit ist eine miese Betrügerin.
Nach der Truppenschau setzen sich die Gedenkfeierlichkeiten auf der Piazza Belgioioso fort. Ein weiterer Riss in der Zeit, ein weiteres Rendezvous mit der eigenen Geschichte, dem man sich nicht entziehen kann. Vor vier Jahren hat Benito Mussolini auf diesem schmucken Plätzchen vor Alessandro Manzonis Haus seine erste faschistische Kundgebung abgehalten. Damals waren es wenige Hundert, heute sind es Tausende. Damals die Ladefläche eines Fuhrwerks, heute der Balkon des Fürstenpalastes. Piazza Belgioioso. Er besucht sie, sooft er kann. Eine Art urbane Sonnenuhr. Die Sonne ist er. Nach drei Fanfarenstößen beginnt er zu sprechen:
»Ruhmreiche, unbesiegte und unbesiegbare Schwarzhemden, abermals gewährt mir das Schicksal, auf diesem heiligen Platz zu sprechen, der in die Geschichte des Faschismus eingegangen ist. Hier versammelten wir uns mit ein paar Hundert Getreuen, die den Mut hatten, das Ungeheuer herauszufordern, das in dunklen, niederträchtigen und niemals wiederkehrenden Zeiten triumphierte …« Jubelnder Applaus, der die niemals wiederkehrenden Zeiten zum Teufel jagen soll.
Damals waren wir eine kleine Schar, heute sind wir Legionen. Damals waren wir nur eine Handvoll, heute sind wir eine riesige Zahl. Es liegt wahrlich etwas Geheimnisvolles in diesem Wiederaufblühen unserer Leidenschaft, etwas Religiöses wohnt diesem Heer Freiwilliger inne, das nichts verlangt und zu allem bereit ist. Dies ist der Frühling, die Wiederauferstehung der Rasse, das Volk wird Nation und die Nation wird zum Staat, den es drängt, in die Welt zu expandieren.
Die Euphorie des Redners ergießt sich über den Platz, die Woge erfasst die Milizionäre, brandet in langem Applaus über sie hinweg und hebt von Neuem an. Er beschließt, mit seinen Zuhörern in einen Dialog zu treten, denn ganz gewiss werden die Antworten einhellig und gewaltig sein.
»Schwarzhemden, ich frage euch: Wenn die Opfer morgen größer wären als heute, wärt ihr bereit, sie zu ertragen?« Ein übermächtiges »Ja!« ist die Antwort.
»Wenn ich euch morgen um den absoluten Beweis eurer Treue bitten würde, würdet ihr mir diesen Beweis erbringen?« Begeistertes Johlen.
Wenn ich euch morgen sagte, dass man sich wieder auf den Marsch begeben und ihn unerbittlich bis zu neuen Ufern führen müsste, würdet ihr marschieren? Wenn ich euch morgen das Zeichen gäbe, das Zeichen der großen Tage, an denen sich das Schicksal der Völker entscheidet, würdet ihr es hören? Die Menge antwortet, der faschistische Chor steigert sich zu einer ohrenbetäubenden Lautstärke. In diesem Augenblick hat es wahrhaftig den Anschein, als sollte die »niederträchtige Zeit« niemals wiederkehren.
Dann kehrt die Zeit zurück und wirft ihren flüchtigen Schatten auf den Redner. Man spricht von den Gegnern, den Geschichtsphilosophen und »geschichtsgeilen Jammergestalten, die die Geschichte niemals begreifen«.
»Sie behaupteten, wir seien nicht von Dauer, wir hätten keine Doktrin, die faschistische Regierung würde keine sechs Wochen überleben. Es sind zwölf Monate. Glaubt ihr, sie wird zwölf Jahre dauern?«
Abermals bricht der Platz in frenetischen Beifall aus. Der Redner gerät kurz ins Stocken, wie von sich selbst verblüfft. Seine Stimme schwankt.
Giuseppe Bottai beobachtet, wie der neben ihm stehende Mussolini sich innerlich auf die Zunge beißt. In zwölf Jahren ist er gerade einmal zweiundfünfzig. Die Zahl muss ihm mickrig erscheinen. Der Duce korrigiert sich mit einer Salve knatternder, von rednerischer Verve geballter Silben:
»Zwölf Jah-re mal fünf ge-nom-men!« Der Platz jubelt ihm zu.
Wir werden fortdauern, weil wir den Willen der Geschichte in die Tat umsetzen, wir werden fortdauern, weil wir unsere Feinde systematisch zerstreuen, wir werden fortdauern, weil wir fortdauern wollen.
Nach dem Festessen zu Mussolinis Ehren im Restaurant Grande Italia verläuft auch der Rest des Tages als Reise in die jüngste Vergangenheit; lebendige Geschichte, offene Wunden. Zu den Klängen von »Giovinezza« versammelt sich der Zug in der Via San Marco vor dem Sitz des ersten Fascio, zieht an faschistischen Ortsgruppen vorbei bis in die Via Paolo da Cannobio und macht vor den armseligen Gebäuden halt, in denen einst der Il Popolo d’Italia saß. Überall Bänder, Girlanden, Fanfaren, Generäle, Stadträte, Mütter und Schwestern von Märtyrern. Im Namen des Stadtrats verkündet der Bürgermeister die Benennung eines Straßenabschnitts zwischen Gamboloita und Rogoredo nach Benito Mussolini.
Das faschistische Mailand feiert das erste Jahr der faschistischen Regierung ebenso fessellos, wie ihr Duce es gelebt, wie er Reform auf Reform getürmt, Verordnungen erlassen und die Grenzen eines einzigen Jahres gesprengt hat. Mussolini preist die Zahlen seiner Mühen: In einem einzigen Jahr ist der Ministerrat sechzig Mal zusammengetreten, um 2482 Angelegenheiten zu erörtern und 1658 Verordnungen zu verabschieden. Alles läuft zu Mussolinis Gunsten: Die Wahlreform Acerbo, mit dem das Parlament nach der kommenden Stimmauszählung in seine Hände fällt, wird in wenigen Tagen Gesetz, die heikle internationale Verstimmung ob der Besetzung Korfus ist Ende September mit einer Entschädigungszahlung von 50 Millionen und dem wiederhergestellten Ansehen Italiens beigelegt worden, die Beziehungen zum Vatikan sind nach einem halben Jahrhundert der Feindseligkeit wieder herzlich.
Die Opposition hat man ebenfalls kleingekriegt. Die Sozialisten – abgesehen von dem halsstarrigen Giacomo Matteotti – wagen kaum zu atmen, der interne Widerstand ist vom Großen Rat am 12. Oktober mit einer Rochade zerschmettert worden: Massimo Roccas »Revisionisten« wurden geopfert, um Farinaccis »Falken« schachmatt zu setzen. Nun sieht das Reglement vor, dass das Direktorium der Partei von ihren Parteifunktionären vorgeschlagen wird, die endgültige Ernennung jedoch beim Duce liegt. Der freien Presse hat man im Sommer mit einer Reihe von Zensurerlassen einen Maulkorb verpasst, während die Polizei nun befugt ist, Zeitungsredaktionen ebenso zu stürmen wie illegale Spielhöllen oder Freudenhäuser.
Unerklärlicherweise zeigen sich selbst die liberalen Philosophen der Mussolini-Regierung gegenüber wohlgesinnt, allen voran Benedetto Croce, der seine Anhänger noch am Tag zuvor in einem Zeitungsinterview zur Pflicht aufgerufen hat, »das Gute zu akzeptieren und anzuerkennen, ganz gleich woher es kommt, und sich für die Zukunft bereitzumachen«. Auch die großen italienischen Künstler feiern Mussolini. Der geniale Theatermann Luigi Pirandello, der mit seinem vom Duce überaus geschätzten Stück Sechs Personen suchen einen Autor gezeigt hat, dass jeder Mensch seine eigene Maske ist, pilgerte vor seiner Abreise nach Amerika in den Palazzo Chigi, um dem Duce die Ehre zu erweisen. In Amerika stieß der große Journalist Luigi Barzini in dasselbe Horn und gratulierte ihm mit einem Jubeltelegramm zu seinem »herrlichen Aufstieg«.
In Kürze wird auch die königliche Familie den Schmiedssohn Benito Mussolini bei einem Empfang im Palazzo Venezia vor den Augen der versammelten Hauptstadtaristokratie in Beschlag nehmen. Danach sind die Herrscher Spaniens an der Reihe, die der italienischen Hauptstadt einen offiziellen Besuch abstatten. Begleitet werden sie vom Kriegsgeneral Primo De Rivera, der sich an die Macht geputscht hat und keinen Hehl daraus macht, sich am italienischen Faschismus ein Beispiel zu nehmen. Liberale Philosophen, königliche Familien, Putschgeneräle – keiner fehlt. Alle fallen bereitwillig in den Jubelchor ein.
Von dieser Euphorie getragen, erreicht der Festzug des Marsches auf Rom am 28. Oktober 1923 den Corso Venezia 69, um den neuen Sitz der Mailänder Fasci unter dem Beifall von Hunderten Invaliden, Müttern toter Soldaten und Kriegswitwen einzuweihen.
Am Ende einer kurzen Eröffnungsrede tritt ein Bote des Il Popolo d’Italia mit der Erlaubnis Cesare Rossis an den Duce heran und informiert ihn, dass in Filettole, einer ländlichen Gemeinde in der Provinz Pisa, die Leiche eines sozialistischen Bauern namens Pietro Pardi mit einem Loch in der Schläfe aufgefunden wurde. Wenige Stunden zuvor hatte der örtliche Squadristenführer Sandro Carosa den Jahrestag des Marsches auf seine Weise in einer Bar in Vecchiano feiern wollen und einigen Gästen mit der Pistole den Hut vom Kopf geschossen. Wie Wilhelm Tell, meinte er. Pardi hatte sich geweigert. Carosi – ein wegen mehrerer Straftaten verhafteter und als Schützling des Ras von Pisa immer wieder freigelassener Psychopath – hatte ihm daraufhin nachgestellt.
Mussolini ist wie von der Tarantel gestochen. Die Nachricht des idiotischen Mordes hat ihm offenbar das Fest vermiest. Wutentbrannt erteilt der Duce in alle Richtungen Anordnungen: an die Polizei, an die Presse und bezüglich der Säuberung des örtlichen Fascio. Dann verschwindet er in einem Nebenzimmer und lässt sich auf einen Stuhl fallen. Herbstliche Dämmerung senkt sich über die neoklassizistische Eleganz des Corso Venezia, in der das erste ruhmreiche Jahr der faschistischen Geschichte zu einer üblen Räuberpistole zu verkommen droht.
Cesare Rossi, der in solchen Rückzugsmomenten der Einzige ist, der sich dem Duce nähern darf, reicht ihm zwei Fotografien, damit er sie mit einer Widmung versieht. Die eine ist für die große Schauspielerin Emma Gramatica, die auch Pirandello spielt, die andere für die berühmte Sängerin Luisa Tetrazzini. Beide sind glühende Bewunderinnen Mussolinis.
Beim Anblick seines fotografischen Konterfeis gewinnt der Duce die Fassung zurück. Mit der kantigen Feder seines Füllhalters verfasst er ein paar geschliffene Komplimente an seine Bewunderinnen und setzt ein rätselhaftes Kürzel unter seine Unterschrift: »Jahr II – F. Ä.«
»Was schreibst du da, Benito?«, fragt Rossi, der ihm dabei zusieht.
»Jahr zwei, faschistische Ära. Man muss anfangen, seiner Zeit voraus zu sein.«