Die XIV. Internationale Kunstausstellung in Venedig ist die erste der faschistischen Ära. Wie immer ziehen die festlich geschmückten Gondeln zwischen San Giorgio und San Marco im Verbund über den Wasserspiegel. Wie immer haben die Meister der Axt, die alten venezianischen Bootsbauer, in den Gondelwerften von San Trovaso dem Holz das perfekte Ungleichgewicht verliehen, damit die Gondolieri sie einseitig rudern können. Wie immer treffen sich die Künstler im Caffè Florian, die Damen laden in den Salons ihrer Palazzi am Canale Grande, und Venedig ist seit fast zwei Jahrhunderten sein eigenes Museum: die perfekte Kulisse für eine Kunstausstellung. Doch in diesem Jahr sind es die hohen faschistischen Parteifunktionäre im Schwarzhemd, die König Vittorio Emanuele III. im Garten des Palazzo delle Esposizioni empfangen.
Auch für Margherita Sarfatti ist es gewissermaßen die erste Biennale ihres Lebens, obschon die gebürtige Venezianerin keine einzige verpasst hat. Ihr Vater, der wohlhabende jüdische Kaufmann Amedeo Grassini, der das erste Vaporetto-Unternehmen gegründet sowie eine Finanzgruppe für die touristische Erschließung des Lido ins Leben gerufen hat und als Stadtrat aus dem Ghetto in den Palazzo Bembo gewechselt ist, hat sie bereits als kleines Mädchen dorthin mitgenommen, und die Gojim haben den Hut vor ihnen gezogen.
Dennoch ist es für Margherita ein Debüt. Zum ersten Mal stellt sie in einem eigenen Saal ihre Künstler der Gruppe »Novecento« aus. Sie lässt sich mit ihnen vor den sorgfältig ausgewählten und optimal platzierten Bildern fotografieren, mit angespannt hochgezogenen Schultern und in Schal und Mütze, die einzige Frau in einer männlich dominierten Kunstwelt.
Für Margherita ist dies die Nagelprobe. Ihre Idee einer neuen künstlerischen Objektivität, einer Rückkehr zur Ordnung, einer modernen Klassik, die auf geometrischer Komposition, gestalterischer Dichte, farblicher Harmonie und der reinen Mütterlichkeit einer jungen Arbeiterin fußt, die Achille Funi als Renaissance-Madonna malt, soll sich neben den Pavillons Japans, Rumäniens und der Vereinigten Staaten von Amerika der Welt präsentieren, die in Gestalt internationaler Delegationen aus Spanien, Belgien, Frankreich, Holland, Ungarn, Großbritannien, Deutschland und Russland am Landungssteg der Riva degli Schiavoni von Bord gegangen ist. Diese Nagelprobe ist für Margherita Sarfatti auch deshalb entscheidend, weil es ihr um eine Kunst geht, die mit der politischen Macht auf Augenhöhe ist, dieselbe Sprache spricht und mit ihr eine neue Einheit bildet. Nicht nur für die Kunstkritikerin ist dies eine Premiere, sondern auch für die »Nymphe Egeria«, die »Diktatorin der Kultur«, die »Frau Präsidentin«, Benito Mussolinis gebildete Geliebte. Überall sind die Gewehre im Anschlag und auf den einen oder die andere gerichtet.
Aber alles läuft glatt. Kein Zweifel, die Werke der Gruppe »Novecento« sind schön, kundig ausgewählt und gut ausgestellt. Nur Marinetti lässt es sich nicht nehmen, bei der feierlichen Eröffnung in Gegenwart des Königs ein wenig von dem alten Chaos zu stiften und Giovanni Gentiles Eröffnungsrede mit dem Ruf »Nieder mit dem antiquierten Venedig!« zu unterbrechen. Doch inzwischen ist das futuristische Chaos nur noch eine Farce und Marinetti zur Karikatur seiner selbst verkommen; alle wissen, dass er protestiert, weil er nicht eingeladen wurde, und man munkelt, er werde bald heiraten und eine Familie gründen. Dem König kommt der Zwischenfall womöglich gar nicht ungelegen, um dem Saal und der Langeweile vorzeitig entfliehen zu können. Die von Margherita Sarfatti gewollte und von Benito Mussolini verhängte Ordnung triumphiert. Doch der Sieg fühlt sich für sie nach Niederlage an.
Die erste Enttäuschung bereitete ihr die Abkehr von Ubaldo Oppi am Vorabend der Eröffnung. Der hochgewachsene, blonde, vom Boxtraining gestählte Oppi hatte das Angebot des Kunstkritikers des Corriere della Sera, Ugo Ojetti, angenommen, seine Bilder in einem eigenen Saal auszustellen. Dann meldete sich die missgünstige Kritik in Gestalt von Giovanni Papini zu Wort, der behauptete, diese Kunst sei so »aufgebläht und leer wie eine Blase«. Und schließlich verabschiedete sich auch noch Anselmo Bucci, der Jüngste von allen, der Dandy der Gruppe, schön wie Luzifer.
Sowieso hat das Jahr 1924 für Margherita schlecht begonnen. Am 18. Januar ist Cesare Sarfatti auf der Heimreise nach Rom plötzlich im Zug zusammengebrochen. Fünf Tage später war er tot. Nach seinen vielfach enttäuschten politischen Ambitionen hatte Margherita es endlich geschafft, ihrem Geliebten den Vorsitz der Sparkasse der lombardischen Provinzen abzuhandeln, doch ihr von einer inoperablen Blinddarmentzündung dahingeraffter Gatte hatte noch nicht einmal die Zeit gehabt, sich über seinen neuen Posten zu freuen. Als ihr Mann gestorben und sie endlich frei für ihren Geliebten war, hatte sich auch der von ihr abgewandt. Gleich nach Cesares Tod hatte Mussolini ihr offiziell die rechtmäßige Verantwortung für Gerarchia übertragen, die inzwischen zum Sprachrohr des Regimes geworden war, doch immer häufiger saß die Hohepriesterin der faschistischen Kunst in ihren einsamen, trostlosen Hotelzimmern und wartete vergeblich auf ihn. Dieser Mann fuhr immer zweigleisig, ob in der Politik oder in der Liebe: die Straße und der Palast; die Squadristen und die Minister; die Geliebte und die Ehefrau. Völlig unmöglich, sein Leben auf ein einziges, gerades Gleis zu bringen.
Alles in allem also eine weitere Niederlage. Zwar hatte sie ihm beibringen können, wie man ein Fischmesser benutzt, doch als es darum ging, unter den Tausenden antiken Marmorbildern Roms eine Siegesstatue für sein Büro im Palazzo Chigi auszuwählen, hatte der Duce des Faschismus es tatsächlich fertiggebracht, sich für eine Fälschung zu entscheiden.
Vorerst verkehren Benito Mussolini und Margherita Sarfatti noch miteinander. In den Tagen nach der Biennale-Eröffnung reist der Ministerpräsident nach Mailand und gibt vor, in der Präfektur zu übernachten; tatsächlich wohnt er aber nicht in seinen eigenen vier Wänden, sondern schlüpft jetzt, da Cesare im jüdischen Teil des Cimitero Monumentale ruht, gleich im Palazzo der Sarfattis im Corso Venezia unter. Er steht völlig neben sich, die Ergebnisse der bevorstehenden Wahl treiben ihn um, sämtliche Muskeln seines Körpers sind bereit zum Sprung an die absolute Macht. Wie immer nimmt Margherita ihn bei sich auf, umsorgt und beruhigt ihn, doch offenbar kann sie ihren eigenen Verdruss nicht ganz verbergen. Wieder ist die Rede von Reisen, exotischen Zielen und afrikanischen Wüsten. Margheritas Reise nach Tunesien im Jahr zuvor hat sich als fruchtbar erwiesen. Nachdem sie Benito so lange mit der Erlaubnis in den Ohren gelegen hatte, hat sie nach ihrer Rückkehr ein erfolgreiches Buch daraus gemacht. Nun ist er es, der ihr zum Aufbruch rät.
Wieder macht sie sich auf den Weg, doch diesmal kommt sie nicht weit. Als sie die Treppe eines spanischen Luxushotels hinabsteigt, stürzt sie auf den Stufen ihres schwindenden Glücks und bricht sich das Bein.