»In Ordnung, ich kümmere mich drum. Aber erzähl es bloß nicht herum.«
Arturo Benedetto Fasciolo, Schreibkraft und Stenograf im Palazzo Chigi und Benito Mussolinis persönlicher Referent, steht vor dessen Schreibtisch. Auf der Mahagoniplatte zwischen den beiden Männern, von denen der eine steht und der andere sitzt, liegt eine mit geronnenem Blut befleckte Brieftasche. Mit einer schwungvollen Armbewegung zieht Mussolini sie zu sich heran, öffnet eine Schreibtischschublade und wirft sie hinein. Jetzt weiß er Bescheid. Es ist neun Uhr morgens, und die Würfel sind gefallen.
Auf dem Heimweg am Abend zuvor hat Fasciolo Albino Volpi in der Bar Picarozzi in der Galleria Colonna gesehen, dem üblichen Treffpunkt der römischen Nachtschwärmer. Der ehemalige Ardito ist auf ihn zugekommen, hat ihm alles erzählt und ihm die Brieftasche ausgehändigt.
Als er jetzt das Büro des Duce verlässt, läuft Fascicolo Cesare Rossi in die Arme. Der Chef hat ihm Zurückhaltung geboten, doch dem aufgewühlten Stenografen ist es unmöglich, sich daran zu halten. Kaum ist Rossi im Bilde, macht er sich auf die Suche nach Marinelli. Die Unterredung zwischen den beiden verläuft hitzig. Der von der Wut seines Komplizen überrumpelte Marinelli versucht, ihn zu beschwichtigen: »Beruhige dich. Es musste getan werden. Jetzt mach mit deiner Panik bloß nicht den Duce verrückt.«
Mit fliegenden Fahnen begibt sich Rossi zum Il Giornale d’Italia und platzt in das Büro des Direktors. Filippo Filippelli, der immer über alles im Bilde und gegen alles gefeit ist und selbst das Gras wachsen hört, gibt sich weltmännisch gelassen: Der Lancia Lambda steht gut versteckt in der Garage seines Chefredakteurs. Er ist nur ein bisschen verdreckt. Offenbar haben Matteottis Eingeweide »schlappgemacht« – fügt der Mann von Welt mit einem kleinen Lächeln hinzu. Man wird Dùmini mit Saubermachen beauftragen. Kurz darauf, gegen Mittag, treffen sich die Bandenmitglieder mit Marinelli im Hotel Dragoni. Der Schatzmeister gibt ihnen 20 000 Lire für die Flucht und weist sie an, den Wagen in Ordnung zu bringen und die Stadt zu verlassen. Ehe es Abend wird, sind die hochrangigen Politiker, die nun durch ein dunkles verbrecherisches Band verknüpft sind, eifrig damit beschäftigt, Blut und Scheiße wegzuwischen.
Velia Matteotti hat die ganze Nacht auf ihren Mann gewartet und kein Auge zugetan. Als sie die Parteigenossen am frühen Morgen von seinem Verschwinden unterrichtet, fährt ihnen ein Schauder durch die Oberschenkel. Am Nachmittag informiert Filippo Turati Anna Kuliscioff. Er offenbart ihr, »Matteottis Schicksal bereite ihm entsetzliche Qualen«, auch wenn er noch immer nicht an ein von der Regierung organisiertes Verbrechen glauben mag. Es erscheint ihm unvorstellbar. Da die Gefahr besteht, alle »ins Lächerliche zu stürzen«, zögert er und begibt er sich nicht direkt zum Polizeipräsidenten.
Als Rossi den Ministerpräsidenten am Abend zur Rede stellt, verschanzt sich Mussolini hinter einem Sarkasmus, der dem Opfer in einer Art perverser Projektion Versatzstücke der eigenen Biografie andichtet: »Die Sozialisten im Montecitorio sind unruhig, weil sie seit gestern nichts von ihrem Matteotti wissen. Bestimmt ist er zu den Nutten gegangen …«
Die Nachricht verbreitet sich gleich nach dem Mittagessen. Rodolfo De Bernart, Kommissar für öffentliche Sicherheit im Viertel Flaminio, hat die beiden Hausmeister des Gebäudes in der Via Stanislao Mancini 12 direkt neben Matteottis Wohnung befragt. Der am Vorabend der Entführung durch die Straßen des Viertels schleichende Lancia Lambda war ihnen verdächtig vorgekommen. Sie hatten eine Einbruchsserie befürchtet und sich das Nummernschild notiert.
Der arglose, pflichttreue De Bernart beeilt sich, die Nachricht an das Polizeipräsidium zu übermitteln. In Windeseile ist die Nachricht bei De Bono, der sie an Mussolini weiterleitet.
»Die haben in einer öffentlichen Garage sogar ein Auto angemietet! Gottverflucht! Sie hätten wenigstens aufs Nummernschild pissen können, dann hätte der Straßenstaub es verdeckt!«
Als die ersten Abendzeitungen die Nachricht bringen, hat Cesare Rossi eine Sonderaudienz beim Duce und wird zum ersten Mal Zeuge, wie die Verwirrung ihm die Züge entgleiten lässt.
Benedetto Fasciolo, der ihn kurz darauf trifft, bestätigt diesen Eindruck. Am Morgen zuvor hat er ihm Matteottis Brieftasche übergeben, jetzt überreicht er ihm dessen Pass, den er direkt von Dùmini erhalten hat.
»Wieso hast du den an dich genommen?«, entrüstet sich Mussolini. »Jetzt weiß es bestimmt ganz Rom.«
Er greift nach dem Pass, wie er am Tag zuvor nach der Brieftasche gegriffen hat, und lässt ihn in derselben Schublade verschwinden.
»Ab jetzt kümmere ich mich darum.«
Ehe er Fasciolo entlässt, erkundigt er sich nach der verscharrten Leiche. Er will alles wissen: Ort, Größe, Bedeckung der Grube.
Um 19:30 Uhr tritt der Ministerpräsident vor das Parlament. Ihm schlagen die Entrüstung und die Angst von Männern entgegen, denen mit einem Mal schwant, dass ein Mann wie sie, ein Kollege, am helllichten Tag im Zentrum der Reichshauptstadt angegriffen und entführt werden kann. Mussolini bestätigt ihr Gefühl: Die Umstände der Entführung »legen ein Verbrechen nahe« – erklärt er – ein Verbrechen, das fraglos »die Betroffenheit und Empörung der Regierung und des Parlaments« hervorruft.
Der Ernst der Tragödie lässt Benito Mussolini vor 500 Volksvertretern zu einer schamlosen Lüge greifen: »Im Zuge ihrer raschen Ermittlungsarbeit ist die Polizei bereits verdächtigen Elementen auf der Spur und wird nichts unversucht lassen, um Licht in das Geschehen zu bringen, die Schuldigen zu fassen und sie der Justiz zu überstellen. Ich wünsche mir, dass der Onorevole Matteotti bald wieder ins Parlament zurückkehren kann.« Während er die Worte ausspricht, kennt der Regierungschef bereits den Ort, die Größe und die Bedeckung der Grube, in der die durchbohrte Leiche des Mannes liegt, den er bald wiederzusehen wünscht. Es ist ein Affront gegen die einzige Gottheit, die dies nicht verzeiht: den Gott der Toten.
Die Opposition gibt sich damit nicht zufrieden. Den Sozialisten ist es unbegreiflich, dass ein derartiges Vorkommnis so einfach beiseitegewischt werden kann. Der republikanische Onorevole Eugenio Chiesa fordert von Mussolini weitere Erklärungen. Doch Mussolini bleibt reglos auf der Regierungsbank sitzen, die Arme vor der Brust verschränkt.
»Dann sind Sie mitschuldig!«
Die Bemerkung, die Chiesa instinktiv, aber laut vernehmbar herausgerutscht ist, hallt durch den stummen Saal. Kaum sind die Worte gesprochen, klettert der Verdacht auf der Leiter der Wahrscheinlichkeit eine Stufe höher.
Wie um ihn wieder herabzustufen und den, der ihn ausgesprochen hat, niederzuringen, wirft Giuseppe Bottai den Stuhl um, auf dem er gesessen hat, und stürzt sich auf Chiesa. Es kommt zum Handgemenge. Präsident Rocco läutet verzweifelt mit seiner Glocke.
Wenige Stunden später wird Amerigo Dùmini beim Versuch, nach Norden zu fliehen, am Bahnhof Termini gefasst. Entgegen allen Festnahmevorschriften schleift Polizeichef De Bono ihn zu einem Geheimverhör in das Bahnhofskommissariat und lässt sich den mit blutgetränkten Kleidern des Opfers vollgestopften Koffer aushändigen.
»Du musst alles abstreiten, alles abstreiten. Es geht darum, den Faschismus zu retten.«
Amerigo Dùmini wird zum Häftling 780/bÜI (besondere Überwachung und Isolationshaft) im Gefängnis Regina Coeli. Bislang ist er der Einzige, der für das Verbrechen bezahlt, doch ihm wird eine baldige Freilassung versprochen. Der Straffreiheit gewiss, willigt er ein. Alle anderen Bandenmitglieder sind noch immer flüchtig.
Unterdessen tritt im Palazzo Wedekind der eilends einberufene Große Rat des Faschismus zusammen. Nach Ende der Beratung treffen sich Rossi, Marinelli und Finzi heimlich in De Bonos Büro in der Generaldirektion für öffentliche Sicherheit.
Sofort geht Rossi zum Angriff über: Was gerade passiert, ist Wahnsinn, man muss das doppelte Spiel beenden, Dùminis Verhaftung ist eine gefährliche Farce. Um sein bisheriges Vorgehen zu rechtfertigen, beklagt Marinelli den seit Anfang Juni auf ihn ausgeübten übergroßen Druck, Matteotti auszuschalten.
Entnervt von seinem Gejammer kommt Rossi aus der Deckung:
»Ihr könnt Dùmini und alle anderen ruhig verhaften, allerdings nur zum Scherz. Buchtet sie ein paar Tage ein und lasst sie dann wieder laufen.«
»Warum?«, fragt De Bono, als wüsste er es nicht.
»Weil sonst das Gerede losgeht und es heißt, er hätte ihnen die Idee in den Kopf gesetzt.«
»Wer, er?«
»Der Präsident.«
Als er wieder allein in seinem Büro im Innenministerium ist, ruft der Polizeichef, Quadrumviro des Marsches auf Rom und ehemalige General des königlichen Heeres, auf einer Geheimleitung beim Duce des Faschismus an:
»Die schieben dir die Verantwortung in die Schuhe.«
»Diese Feiglinge wollen mich erpressen!«, brüllt Mussolini. Das Gespräch bricht ab und eine gespenstische Nacht beginnt.
Man munkelt, Dùmini habe Matteottis Leiche entmannt und Filippelli die Hoden in die Hand gedrückt, der vor Entsetzen in Ohnmacht gefallen sei. Man munkelt, er habe sie direkt an Mussolini geschickt, der die Trophäe feixend zu dem Reisepass in die Schreibtischschublade geworfen habe. Man munkelt, die Leiche sei auf einem Heukarren zurück nach Rom befördert und in einem Ofen verbrannt worden; man munkelt, sie sei in den Tiber geworfen, mithilfe von Säure entfleischt und in einer anatomischen Sammlung ausgestellt, zu Seife verarbeitet, im Vicosee versenkt worden. Man munkelt auch, der Leichnam des sozialistischen Abgeordneten sei an die Löwen im Zoo an der Villa Borghese verfüttert worden.
Die Hirngespinste über Matteottis Verschwinden haben die kollektive Fantasie erobert und sogar das Verbrechen des »geheimnisvollen Mannes in Grau«, der das Mädchen vor den Mauern von Sankt Paul vergewaltigt und getötet hatte, vom ersten Platz verdrängt.
Die Nachricht von der Entführung eines Parlamentariers am helllichten Tag in den Straßen des Zentrums hat das brutale Alltagsleben brutal aus der Bahn geworfen. Es herrscht allgemeine Empörung, überall und sogar unter den Faschisten erhebt sich Protest, die oppositionellen Zeitungen drucken eine Sonderausgabe nach der anderen und können die nach Gerechtigkeit und Rache lechzenden Leser doch nicht befriedigen. Das mutmaßliche Verbrechen erscheint so abartig und abscheulich, dass es das ganze System in die Krise stürzt. Die offenkundige Korruption, die brutalen Methoden des politischen Kampfes und die Zersetzung der Ideale sind allen plötzlich unerträglich geworden. Anschuldigungen, Abscheu, Drohungen, Säbelgerassel, Wehklagen, Reue, ein allgemeines Händeringen und kollektives Haareraufen. Mit einem Mal hört und sieht man nichts anderes mehr, egal wohin man blickt. Die abstrakte, vage Vorstellung des Bösen verfestigt sich wie schnellhärtender Zement in der Gestalt Amerigo Dùminis und seiner unbekannten oder flüchtigen Komplizen.
Im Haus der Faschisten bricht das »Es rette sich, wer kann« los. Am Morgen wurde eine weitere Versammlung des Großen Rates abgehalten: Es war ein »Jeder gegen jeden«. Verteidigungsschriften werden vorbereitet, Balbo eilt in den Palazzo Chigi, um »Dùminis unverzügliche Erschießung« zu fordern, Beweise verschwinden, falsche Fährten werden gelegt, Spuren verwischt, es beginnen die Betrugsmanöver, die geschickt verbreiteten Falschmeldungen, die Schlammschlacht. Man behauptet, Matteotti sei ins Ausland geflohen, er habe sich bei einer Geliebten verkrochen, zwei Killer der französischen Ultrarechten seien vor ein paar Tagen nach Rom gekommen, eine Gruppe Squadristen aus Rovigo sei dem Abgeordneten auf der Spur.
Die Falschnachrichten gehen nach hinten los und treffen die Verleumder: Aldo Finzi, faschistischer Abgeordneter aus Rovigo, stürzt in den Graben der Verdächtigen.
Um 16 Uhr tritt der Ministerpräsident erneut vor das Parlament, doch diesmal ist der Saal leer. 370 faschistische Abgeordnete sitzen ordentlich in ihren Bänken, doch das genügt nicht, um den Krater zu füllen, den die oppositionellen Fraktionen hinterlassen haben, als sie beschlossen, den Saal aus Protest zu verlassen, es genügt nicht, um den klaffenden Abgrund zu schließen, den die Anwesenheit von Velia Matteotti dort oben auf der Tribüne aufgerissen hat.
Mussolini verspricht, die Schuldigen zu bestrafen, er verurteilt die Abscheulichkeit, zeigt sich bewegt, erschüttert und erklärt sich sogar bereit, »kurzen Prozess« zu machen, wenn man es von ihm verlangte. Dann entrüstet er sich, dass ein derart absurdes, schändliches Verbrechen weniger ein Schlag gegen die Opposition als vielmehr gegen den Stamm der faschistischen Revolution ist, der davon eine schwere Kerbe davongetragen hat:
»Nur einer meiner Feinde«, erklärt er mit Nachdruck, »konnte in langen Nächten etwas derart Teuflisches aushecken und ein Verbrechen begehen, das uns heute vor Grauen erschaudern und empört aufschreien lässt.«
Benito Mussolini verlangt, dass nur ein einziges Leichentuch die Toten bedeckt, sämtliche Toten, auf dass sie ohne Groll ruhen mögen. Dann erklärt er die Sommersitzung des Parlaments für vorzeitig beendet und vertagt die Wiedereröffnung auf ein noch festzulegendes Datum.
Doch der entsetzliche 13. Juni, an dem in Padua das Fest des heiligen Antonius gefeiert wird, ist noch nicht zu Ende: Velia Matteotti hat um ein Treffen mit dem Präsidenten gebeten. Seit dem Morgen ist sie in der Kammer, um einige sozialistische Abgeordnete dazu zu bewegen, sie zu Mussolini zu begleiten. Turati hat alles versucht, um sie davon abzubringen, doch sie hat sich nicht erweichen lassen.
In der von der regimetreuen Presse wiedergegebenen Version empfängt Mussolini die »arme Signora« zusammen mit den Abgeordneten Acerbo und Sardi auf der Türschwelle eines Saales im Palazzo Chigi. Als Signora Matteotti selbige Schwelle übertritt, nimmt er die Achtungshaltung ein. Als sie in Tränen ausbricht, tröstet er sie mit gerührter Entschlossenheit: »Signora, wie gern würde ich Ihnen Ihren Mann lebend zurückgeben. Die Regierung wird all ihren Pflichten nachkommen. Zwar wissen wir nichts, was uns Mut machen könnte, doch noch gibt es Hoffnung.«
Der Anwalt Casimiro Wronowski, Matteottis Schwager, schildert etwas anderes. Velia, die alle bereits die »Witwe Matteotti« nennen, steht in Begleitung ihrer Schwester Nella im Vorzimmer und wartet, dass ein Amtsdiener den Regierungschef über ihre Anwesenheit in Kenntnis setzt. Auch in dieser zweiten Version empfängt Mussolini Velia Matteotti stehend, jedoch flankiert und halb gestützt von den Unterstaatssekretären Acerbo, Sardi und Finzi.
Zwei Frauen und vier Männer stehen einander gegenüber. Mussolini zittert, Finzi versteckt sein Gesicht hinter der Hand. Velia verlangt, dass man ihren Mann, sollte er noch am Leben sein, nach Hause zurückkehren lässt, oder ihr, sollte er tot sein, die sterblichen Überreste für eine christliche Bestattung aushändigt. Stotternd, als müsste er nach Worten ringen, antwortet Mussolini ihr:
»Ich weiß nichts, Signora; wenn ich Bescheid wüsste, würde ich Ihnen Ihren Mann wiedergeben, lebend oder tot.«
»Wer ertrinken muss, der tue es restlos.«
Das im Il Popolo d’Italia abgedruckte Urteil bringt die Hoffnungen und Gewissheiten der Opposition auf den Punkt. Gewissheit des Unabwendbaren, Hoffnung auf Erlösung.
Eine Welle der Empörung und Erschütterung hat den Faschismus erfasst, ein Strudel aus Gerüchten zieht ihn in die Tiefe. Während immer mehr Einzelheiten des Verbrechens bekannt werden, die die Männer der Regierung belasten, ergehen sich die Zeitungen in skandalösen Enthüllungen ihrer kriminellen Machenschaften: Aldo Finzis gewinnträchtiges Geschacher mit zu Schleuderpreisen gekauftem Bauland, Michele Bianchis schamlose Spekulationen auf illegale Einwanderung und so weiter. Das Gruppenfoto von Mussolinis Entourage zeigt den Hofstaat eines sterbenden Reiches.
Derweil steigt die Figur Giacomo Matteottis zum strahlenden Heiligen auf. Sein Wohnhaus in der Via Giuseppe Pisanelli ist bereits zur Pilgerstätte geworden, am Ort der Entführung häufen sich Hunderte Blumenkränze, er gleicht einem Mausoleum unter freiem Himmel. Die Polizei muss einschreiten, um die Prozession der Getreuen auf der Tiberpromenade aufzulösen, die berittenen Carabinieri beseitigen die Blumen und zerstreuen den Menschenauflauf.
»Im Augenblick ist nichts zu machen. Diese Jungs haben zu viel Mist gebaut. Ich bin machtlos. De Bono ist zu nichts nütze. Es ist zu viel böses Blut in Wallung.«
Das sind die letzten Worte, die Cesare Rossi von einem aschfahlen Mussolini hört, ehe es zum Bruch kommt. Der Duce wirkt völlig verstört, von der Überraschung überrumpelt, von der Enttäuschung gelähmt. Soeben hat Giovanni Marinelli gestanden, dass er fünf Tage nach der Entführung noch immer im Besitz der ordnungsgemäß gegengezeichneten Quittungen für die Zahlungen ist, die die Mörder vor und nach dem Verbrechen erhalten haben. Der Schatzmeister der faschistischen Partei rechtfertigt sich damit, dass ein ordentlicher Kassenwart seine Belege immer gewissenhaft abheftet. Dann schlägt er die Hände über dem Kopf zusammen und stürzt davon, um sie zu vernichten.
Mussolini schüttelt den Kopf und starrt gläsern auf ein Gespenst am Horizont: Seit jeher hat er von der historischen Notwendigkeit chirurgischer Gewalt, von gezielter, präziser, unerbittlicher Grausamkeit geträumt und gepredigt, doch stattdessen hält er nun ein bestialisches Verbrechen in den von Blut und Exkrementen verschmierten Händen.
Wenn man die Kette der Verantwortlichkeiten nicht zerreißt, wird sie bald bei ihm münden. Also zerreißt er sie, indem er seine engsten Mitarbeiter opfert: Benito Mussolini fordert Aldo Finzis und Cesare Rossis Rücktritt.
Der mit einem Versprechen geköderte Aldo Finzi – man sagt ihm, sein Opfer werde schon sehr bald mit dem Innenministerium belohnt – geht darauf ein. Doch Cesare Rossi reagiert entrüstet: Er beteuert seine völlige Unschuld, erklärt, er müsse seine Ehrbarkeit verteidigen, und nennt Mussolini vor seinen Freunden einen Verrückten. Er verfasst ein offizielles, nüchtern und höflich formuliertes Rücktrittsschreiben, dem er jedoch einen weiteren, geheimen, mit unverhohlenen Drohungen gespickten Brief folgen lässt. Nachdem er die beiden Briefe abgeschickt hat, taucht er unter.
Mussolini versucht, sich wieder zu fassen, und mimt die Rolle des Staatsoberhauptes. Er empfängt den Negus Haile Selassie. Doch sein staatsmännisches Auftreten nützt ihm nichts. In der Satirezeitschrift Il becco giallo, dessen Herausgeber, der brillante Journalist Alberto Giannini, von Dùmini mit einem Schlagstock angegriffen wurde und der ihn daraufhin zum Duell forderte, wird eine vernichtende Karikatur abgedruckt. Sie zeigt den äthiopischen König, der wie ein Geier auf den Schultern des faschistischen Polizeichefs De Bono hockt und ihm komplizenhaft ins Ohr raunt:
»Mir könnt Ihr die Wahrheit sagen: Ihr habt ihn gefressen.«
Plötzlich ist es um Benito Mussolini einsam geworden. Der Befehl zur Mobilisierung der Miliz, die das Regime mit gezücktem Schwert verteidigen sollte, ist so gut wie ins Leere gegangen: In Rom sind ihm nur vierzig Prozent der Soldaten gefolgt, in Mailand zwanzig Prozent, in Turin niemand. Auf dem Corso Umberto in Rom hasten die Passanten ängstlich unter den Fenstern des Palazzo Chigi vorbei, wo der Ministerpräsident sich in seinem Büro verschanzt hat, und wagen es offensichtlich nicht, zu seinem Balkon emporzuschauen. Als Giuseppe Viola in Mailand von Albino Volpis Verhaftung erfährt, erklärt er den Freunden, die ihn noch immer verstecken, sollte er bei einem Gerichtsverfahren befragt werden, würde er einzig und allein mit Mussolini reden wollen: »Und dann werde ich mich auf ihn stürzen und ihm ein Stück seiner Nase abbeißen!«
Niemand kennt die Einsamkeit seines Herrn besser als ein Amtsdiener. Quinto Navarra hat Benito Mussolini zum ersten Mal 1920 in Cannes getroffen, als er zum Gefolge des damaligen Außenministers, Seiner Exzellenz, dem Marchese della Torretta gehörte. Damals war eines Tages ein unbekannter Journalist bei ihm vorstellig geworden, der den Minister interviewen wollte, und hatte ihm eine Visitenkarte hingehalten: »Benito Mussolini«. Danach hatte er ihn am 31. Oktober 1922 um 13 Uhr im Palazzo della Consulta wiedergesehen, als er bereits Regierungschef geworden war.
Seit jenem Tag hat Quinto Navarra das Vorzimmer des Präsidenten bewacht, ein Leben wie unter einer Glasglocke, und Italien zu seinen Füßen defilieren sehen. Zwanzig Monate lang hat der getreue Diener die Stimme seines Herrn hinter der Tür poltern hören und Minister, Generäle, Industrielle, Squadristen und Marchesen mit gesenktem Kopf herauskommen sehen. Eines Tages hatte ein zum Plaudern aufgelegter Mussolini zu ihm gesagt:
»Ich bin sicher, wenn ich den ganzen Tag schliefe, würde den Italienern nichts fehlen. Ihnen würde es reichen zu wissen, dass es mich gibt und dass ich im nächsten Moment aufwachen könnte. Bewunderung und Angst sind sich immer ein wenig gleich.«
Doch jetzt hat sich alles geändert, jetzt ist nur die Angst geblieben. In den vergangenen hundert Stunden hat man im gesamten Palazzo Chigi Grabesluft geatmet. Die Bürger auf den Straßen haben sich die faschistischen Abzeichen abgenommen, und das Gleiche passierte im Ministerium. Die lichterfüllten Säle, die bis vor wenigen Tagen vor ehrerbietigen Menschen wimmelten, haben sich nach und nach geleert. Heute Morgen ist das Vorzimmer dann gänzlich verwaist geblieben. Würde jemand mit gezückten Pistolen vom Platz heraufstürmen, um Matteotti zu rächen, wäre niemand da, um ihn aufzuhalten.
Heute Abend wird die Rückkehr des Königs in die Hauptstadt erwartet, das Land und Mussolini sind wieder in seinen Händen. Allein und schweigend wartet der Duce im Siegessaal.
Quinto Navarra weiß nicht, was er tun soll. Ebenfalls allein sitzt er auf seinem Platz im Vorzimmer, widersteht der Versuchung zu fliehen und zwingt sich zu äußerster Zurückhaltung. Doch der Präsident hat ihn schon seit Stunden nicht mehr zu sich gerufen, um ihn mit den üblichen Aufgaben zu betrauen oder sich die Besucher ankündigen zu lassen. Besucher gibt es sowieso keine.
Plötzlich ruft der Sekretär des Ministerrats Navarra wegen einer dringenden Depesche für Mussolini zu sich. In solchen Fällen ist er laut Protokoll berechtigt, das Zimmer des Chefs unaufgefordert zu betreten.
Mit angehaltenem Atem gibt sich Quinto Navarra einen Ruck und öffnet die Tür zum Siegessaal. Was er dahinter erblickt, wird er nie mehr vergessen.
Mussolini sitzt mit weit aufgerissenen Augen in seinem Arbeitssessel und schlägt den kahlen Schädel schnaubend und keuchend gegen die vergoldeten Holzstreben der hohen Lehne wie ein eingerostetes Metronom, das unerbittlich den Takt seines eigenen Endes schlägt.