»Wir gedenken nicht. Wir haben uns hier zu einem Ritual versammelt, zu einem religiösen Ritual, dem Ritual des Vaterlandes. Der Bruder, den ich nicht nennen muss, weil sein Name in diesem Augenblick in den Herzen aller Menschen diesseits und jenseits der Alpen und der Meere erklingt, ist kein Toter, kein Besiegter und nicht einmal ein Ermordeter. Er lebt, er ist hier, und er kämpft. Er ist ein Kläger, er ist ein Richter, er ist ein Rächer. Vergeblich haben sie seine Gliedmaßen zerstückelt. Vergeblich haben sie sein sanftes, strenges Gesicht entstellt. Die Gliedmaßen haben sich wieder zusammengefügt. Das Wunder von Galiläa ist neu belebt. Das Grab hat uns den Leichnam zurückgegeben. Der Tote erhebt sich. Und er spricht. Und ich schwöre ihm im Namen von euch allen, dass sein Schatten schon bald besänftigt wird.«
Diese erhebenden Worte über den ermordeten Freund spricht Filippo Turati am 27. Juni vor der Versammlung sämtlicher vereinigter Oppositionsgruppen. Während Turati spricht, drehen sich viele ängstlich zum Eingang des Saales B im Montecitorio um, als rechneten sie damit, dass ihnen der zerstückelte Geist Giacomo Matteottis erscheint. Kurz zuvor, zu Beginn der Sitzung, ist der spiritistischen Atmosphäre ein linkischer Fauxpas vorausgegangen: Der Sekretär, der in bürokratischem Ton die Anwesenheitslisten der Kammer verlas, hat ihn, als er zum entsprechenden Namen kam, versehentlich aufgerufen: »Matteotti Giacomo?« Nach einem Moment ergriffener Verstörung riefen etliche: »Anwesend!«
Doch angesteckt und behext vom Tod, führt ganz Italien dieser Tage ein gespenstisches Dasein. Allen voran die Oppositionsparteien, die nach Turatis Worten die Entscheidung treffen, den Sitzungen der Kammer bis zur Wiederherstellung der zerstörten politischen und gesetzlichen Ordnung fernzubleiben. Das unbegrenzte Fernbleiben vom Parlament wird sogleich »Aventin« getauft, in Erinnerung an andere Geister, eine andere Sezession und andere römische Plebejer, die sich 494 v. Chr. aus Protest auf den gleichnamigen Hügel zurückzogen.
Nach dem Willen ihrer Anführer, allen voran Giovanni Amendola, sollte sich die neue Sezession »jeglicher billiger Schlichtungen« verweigern, sich unnachgiebig der Barbarei entgegenstellen, doch tatsächlich spielt sie die Karte der allgemeinen Empörung und setzt alles auf die Frage der Moral. Als müsste man gegen den faschistischen Block, der in Ehrfurcht vor Mussolini erstarrt und durch die Mittäterschaft der Macht gelähmt ist, nicht mit Hammerschlägen vorgehen, um ihn zu zerschlagen. Als genügte die Entrüstung, um dem Schlagstock zu trotzen. Als wäre die Moral eine politische Größe.
So geht es überall, in jedem Büro, jedem Verein, jeder Bar Italiens. Im Wunsch vereint, mit nichtkörperlichen Wesenheiten in Kontakt zu treten – vor allem mit der Giacomo Matteottis –, versammeln sich die unterschiedlichsten Menschen zu spiritistischen Sitzungen, um ihre Fragen loszuwerden. Doch die Fragen bleiben unbeantwortet. Die Geister wimmeln und schweigen.
Um Matteotti zu würdigen, bleiben die Arbeiter landesweit zu Dutzenden Millionen der Arbeit fern. Weil sie die verheerenden unbegrenzten Generalstreiks noch lebhaft in Erinnerung haben, beschränken sie sich auf zehn Minuten. Zur gleichen Zeit tun die Industriellen und führenden Köpfe der italienischen Wirtschaft keinen Mucks gegen das Regime und finden die Produktionssteigerung und den Haushaltsausgleich wichtiger als politische Freiheit. Doch auch die Kriegsheimkehrer, die sich am 7. Juni versammeln, distanzieren sich vom Faschismus. Wenige Tage später schließen sich die Kriegsinvaliden ihrem Protest an. Gabriele D’Annunzio, in dem alle ehemaligen Kämpfer und Invaliden ihren natürlichen Anführer sehen, hat sein Draufgängertum jedoch leider verloren und beschlossen, sich voll und ganz der Literatur zu verschreiben: Dass der Staat die Manuskripte des chronisch klammen Dichters für viel Geld gekauft und damit den Anfang einer langen Reihe von Subventionen gemacht hat, stimmt ihn endgültig friedlich. Und so bleibt die kurze antifaschistische Empörung der Heimkehrer und Invaliden führungslos.
Unterdessen bevölkern am 9. Juli Tausende bewaffnete Faschisten die Straßen von Florenz. Sie scheinen die Ankunft der vielbeschworenen »zweiten Welle« zu verkünden, doch dann verpufft auch diese Aufwallung in einer Regierungsumbildung. Gentile, Carnazza, Corbino gehen raus, Casati, Sarrocchi, Lanza di Scalea kommen rein, und so lassen die ewigen Hemmnisse die Welle verebben.
Nach dem Bekanntwerden der Entführung rutschen die Börsen in den Keller, doch als »Kriegsgefangener« bricht der König seinen Eid auf das Albertinische Statut und unterzeichnet ein Dekret, das es den Präfekten erlaubt, Zeitungen zu beschlagnahmen, die der Nation abträgliche Nachrichten verbreiten, und kaum ist die Presse geknebelt, beruhigt sich auch die Börse wieder. Sowieso liefert der quietistische Fatalismus des Königs den Grundton für das gespenstische Dasein, das sein Volk erfasst. Einer Delegation ehemaliger Kämpfer, die ihn mit der dringenden Bitte um dringende und drastische Maßnahmen aufsucht, antwortet Vittorio Emanuele III. zerstreut und ohne auf das Thema einzugehen: »Heute hat meine Tochter zwei Wachteln getötet«, und zeigt kaum verhohlenen väterlichen Stolz.
Ja, die Mehrheit der von dem Verbrechen entsetzten Italiener wünscht sich ein Ende des Faschismus, um ihre heimgesuchten Häuser von den Gespenstern zu befreien, doch zur Abendbrotzeit gewinnen die alltäglichen Bedürfnisse wieder die Oberhand. Anstand gehört nicht dazu. Das Land ist dumpf, sein Gerechtigkeitssinn geschwächt und trüb. Der Drang nach Revolte verkommt zur abseitigen Leidenschaft für die Chronik des Skandals.
Vor allem die Spekulationen über das Verschwinden des Leichnams schießen ins Kraut: Unter anderem geht das Gerücht eines Scheiterhaufens neben dem römischen Krematorium um, andere ziehen das Eis dem Feuer vor, weshalb man von einer Kühlzelle in der gerichtsmedizinischen Abteilung der Poliklinik munkelt. Wieder andere sind felsenfest davon überzeugt, dass der Leichnam auf dem geheimnisvollen Grund des Vicosees zu finden sei. Die Taucher durchkämmen ihn Zentimeter für Zentimeter. Doch sein Grund ist leer, verlassen, verwaist. Das Geheimnis fördert nur Schlamm und Schlick zutage. Also stürzt man sich begeistert auf Höhlen, Katakomben und kleine, verwilderte Friedhöfe. Die Unrast des Landes wird zum schweißtreibenden Albtraum. Italien schreit im Schlaf, Geister lasten auf seiner Brust, die jedes Gefühl der Befreiung ersticken.
Selbst Benito Mussolini – der ganz eins ist mit seinem Körper und der eisernen Materie, aus der er geschmiedet zu sein scheint – nimmt in diesen Wochen etwas Geisterhaftes an. »Es gibt zwei Tote«, schreibt der Journalist Ugo Ojetti, »Matteotti und Mussolini.«
Nach dem dynamischen Strohfeuer von Mitte Juni fällt der Duce des Faschismus in laue Willenlosigkeit zurück und vegetiert unmerklich von sich hin. Der Streit zwischen Revisionisten und Dogmatikern lebt wieder auf. Zu dem Chor Letzterer gesellt sich ein junger ehemaliger Kriegsfreiwilliger aus der Toskana mit dem Namen Curzio Malaparte, der eine Zeitschrift namens Die Eroberung des Staates gegründet hat, in der er im Namen der bäuerlichen, freigebigen und vorurteilslosen Volksseele des ländlichen Faschismus, der das Gegenteil der »römischen Kloake« ist, eine Lanze dafür bricht, mit gnadenlosem Squadrismus auf Matteottis Waisen loszugehen.
Mussolini lässt ihn reden, er kann sich zu nichts entschließen. Beim Großen Rat des Faschismus am 22. Juli ist er noch immer unschlüssig: Er verkündet, die Revolution verlange nach Listen und Tricks, bittet um Nachsicht und Hilfe und erklärt sich dann bereit, wenn nötig auch zur Gewalt zu greifen. Unterdessen rät ihm der junge Anwalt, der sich voller Elan in die Verteidigung Dùminis gestürzt hat, sich wie ein Gespenst in die Dunkelheit zurückzuziehen: Zu viele Leute munkeln von Verteidigungsschriften der Verdächtigen, von Verhören und Indizien; das ist gefährlich, er muss das Thema von sich weisen, das Gerichtsverfahren ignorieren.
Sogar Benito Mussolinis Privatleben schwankt zwischen kurzen Momenten der Euphorie und düsterer Schwermut. Seine »kindliche« Geliebte Bianca Ceccato, die inzwischen auch Mutter seiner unehelichen Tochter ist und die er nach Rom eingeladen hat, verbringt mehrere Tage eingesperrt in seiner Wohnung in der Via Rasella und muss ihm rund um die Uhr zu Diensten sein. Auf dem Gipfel seiner Eitelkeit liest er ihr zahllose Briefe unbekannter Bewunderinnen vor und bricht unvermittelt in heftige Wutausbrüche gegen seine Frau Rachele aus, die, so heißt es, nun endlich ebenfalls eine Affäre mit einem Kerl aus der Romagna hat. Die Treulosigkeit seiner Frau, vermischt mit der Galle dieser Leiche, die man ihm vor die Füße geworfen hat, beschert Benito Mussolini zum ersten Mal im Leben eine heftige Gastritis. Die Ärzte schränken ihm seine geliebten Orangensäfte ein und verbieten ihm den Kaffee. Sein unfehlbarer Diener Quinto Nararra beobachtet eines Tages, wie er sich, von Magenschmerzen gepeinigt, auf dem Teppich des Siegessaales zusammenkrümmt.
Die wenigen Freunde, die ihn noch besuchen kommen, beschreiben einen von Gespenstern heimgesuchten Mussolini. Nachdem er sich von seinem Autounfall erholt hat, reist Leandro Arpinati Ende Juli mit vier Kameraden nach Rom. Sie betreten den verwaisten Palazzo Chigi, der so wirkt, als hätten alle das Weite gesucht. Ohne seine Ankündigung abzuwarten, betritt Arpinati geradewegs das Büro des Duce und findet ihn abgezehrt, mit Dreitagebart und fiebrigen Augen vor.
»Die Situation ist unerträglich, man kann mit einem Toten vor den Füßen nicht regieren«, beklagt sich der Ministerpräsident.
»Hast du ihn umbringen lassen?«, fragte Arpinati ihn rundheraus.
»Nein.«
»Was kümmert’s dich dann? Bestraf die Täter dieses dämlichen Verbrechens und denk nicht mehr dran.«
Bei Leandro, seinem treuen alten Freund, macht Benito sich Luft: Nicht daran zu denken, ist unmöglich. Jeden Abend gegen sieben begegnet er auf dem Heimweg einer kleinen Menschenansammlung, die ihm stumm und feindselig nachsieht. Es ist ein Albtraum. Matteottis Frau kommt fast jeden Tag und fragt nach Neuigkeiten von ihrem Mann. Die ersten Male hat er sie empfangen, doch jetzt hat er nicht mehr den Mut dazu.
Das stimmt nicht, es ist eine weitere Lüge, womöglich gar eine Halluzination: Nach jenem einzigen Treffen am 13. Juni hat sich Velia Matteotti nicht mehr blicken lassen. Doch während Mussolini seinem Freund Arpinati das Herz ausschüttet, sieht dieser, wie der Duce des Faschismus sich verstört umblickt, als fürchtete er, sie auftauchen zu sehen. Ehe der Ras von Bologna in die Emilia zurückkehrt, befiehlt er seinen vier Squadristen, sich am Abend unter jene stumme, feindselige Menschentraube zu mischen und zu applaudieren, sobald der Chef auf die Straße tritt. Mussolini ist verblüfft – seit Wochen hat ihm niemand mehr applaudiert – und deutet ein Lächeln an.
Es währt nur kurz. Trotz Turatis feierlichem Versprechen verschwindet Matteottis Schatten nicht. Sein Geist streift noch immer ruhelos durch das Land. Doch das Land erhebt sich nicht. Es bleibt dumpf. Wird diese Heimsuchung ewig dauern?
Benito Mussolini vermerkt in seinem Notizbuch: »Die Leiche ist unauffindbar – Die Spannung wächst – Der Vorwurf der Schacherei greift um sich.«