»Wie geht es dir?«
»Wie soll’s mir schon gehen, liebste Vela?«
»Nichts Neues?«
»Gar nichts. Inzwischen kann mich selbst die absurdeste und frevelhafteste Tat nicht mehr überraschen … Allerdings schmerzt es mich, dass ich keine Ahnung habe, was meine feindlichen Freunde denken. Die, die mich verraten haben.«
»Es kommt alles wieder in Ordnung, du wirst sehen: Aber du musst Ruhe bewahren und darfst die Nerven nicht verlieren.«
»Das hat doch nichts mit den Nerven zu tun, ich hasse niemanden, ich hege keinerlei Groll! Das Schicksal hat seinen Trumpf leider für meine Feinde ausgespielt, und sollte ich diese Partie verlieren, was so gut wie sicher ist, bleibt mir noch nicht einmal die Möglichkeit für eine Entscheidungsrunde.«
»Du hast immer gezeigt, was für ein guter Spieler du bist, und du weißt, dass sich bei vielen scheinbar aussichtslosen Partien das Blatt in letzter Minute wendet.«
Wie aus den Abhörprotokollen der geheimen Leitungen des Präsidenten hervorgeht, ist es wieder einmal Margherita Sarfatti, die Mussolini das Vertrauen in sich selbst und sein Spielerhändchen zurückgibt: niemals den Tisch nach einem verlorenen Spiel verlassen (die Ironie des Schicksals will es, dass der Geliebte sie im Vertraulichen zärtlich »Vela« nennt, was sich nur durch einen Buchstaben vom Namen der Witwe Matteottis unterscheidet). Die gleiche ermutigende Aufforderung bekommt Mussolini von Costanzo Ciano zu hören, dem Helden der bewaffneten Sturmboote, der ihn an seine Seemannserfahrung erinnert: Schon beim ersten Einschiffen hat man ihm beigebracht »bei stürmischer See nicht von Bord zu gehen«.
Benito Mussolini geht nicht von Bord. Schließlich zwingt ihn keiner dazu. Der König hat ihm abermals das Vertrauen ausgesprochen, die Oppositionsparteien beschränken sich auf journalistische Polemik und die von oben gesteuerten gerichtlichen Ermittlungen greifen ihn nicht persönlich an.
Amerigo Dùmini, der sich in der Abteilung VI von Regina Coeli behaglich eingerichtet hat, hält an der Version der tragisch geendeten Prügelei fest und bestreitet jegliche Verantwortung Mussolinis. Die Verwaltung der Nationalen Faschistischen Partei begleicht dafür in aller Heimlichkeit sämtliche Spesen des schillernden Häftlings und seiner Komplizen: Verpflegung aus dem Restaurant, seidengefütterte Anzüge aus englischer Vikunjawolle, mit Astrachan verzierte Pyjamas, Briefpapier mit dem Emblem der Partei und dem unsäglichen Briefkopf »Gruppe faschistischer Arditi – Abteilung Regina Coeli – Rom, Via della Lungara 29«.
Nur einmal fährt Dùmini aus der Haut, als eine eidliche Erklärung De Bonos, »dieser alten Nutte«, seine Version des nicht vorsätzlichen Verbrechens zum Einsturz zu bringen droht. Sogleich macht sich der toskanische Squadrist daran, erpresserische Briefe an Finzi zu schreiben, und droht, sollte man ihn hinters Licht führen, würde er mit allen Mitteln kämpfen, gegen alles, alle und um jeden Preis; doch dann rudert Dùmini zurück, bereut seine Unbeherrschtheit und verspricht, wieder »der gute, treue Faschist« zu sein. Im Grunde ist Regina Coeli für Amerigo Dùmini ein »Gefängnis ohne Gitter«, und der Pakt mit Mussolini hält.
So merkt Mussolini, dass er den Sturm überstehen und die Zügel der Partei wieder in die Hand nehmen kann. Die Mitglieder des nationalen Rates, die an der Versammlung vom 7. August im Saal des Konsistoriums im Palazzo Venezia teilnehmen, erhalten von ihrem wiedergewonnenen Duce – der vorausschickt, er spreche zu ihnen als Führer des Faschismus und als Regierungsoberhaupt – das neue Motto und den neuen Kurs:
»Ein deutscher Philosoph sagte einmal: ›Lebe gefährlich‹. Ich möchte, dass dies der Leitspruch des jungen, leidenschaftlichen italienischen Faschismus sei: ›Gefährlich leben‹.«
Nachdem er das Motto ausgegeben hat, erläutert er dessen Sinn. Man muss zu allem bereit sein, zu jedem Opfer, für jede Gefahr, und zugleich seine Fehler erkennen. Wir sind vom Weg abgekommen, zu viele Commendatoren, zu viele Cavalieri. Stattdessen sollten wir den Stolz besitzen, »nackt zum Ziel zu gelangen«. Schluss mit sinnloser Gewalt: Man darf nicht mehr sagen, man sei bereit, für den Faschismus zu töten und zu sterben, sondern nur, man sei bereit, sich für das Vaterland zu opfern. Doch auch mit dem Revisionismus muss Schluss sein. Revisionisten lieben es, in der Nachhut zu sein, um zur Vorhut zu gehören, sollte sich die Front umkehren. Doch jetzt muss die im Oktober 1922 begonnene Revolution mit der endgültigen Eroberung des hinfälligen demokratischen und liberalen Staates vollendet werden. Der Faschismus lässt sich nicht den Prozess machen, außer von der Geschichte.
Doch da die Schlacht schwierig ist und die Auflösung der Regierungsmehrheit verhindert werden muss – Mussolini rechnet mit knapp hundert wankelmütigen Abgeordneten –, bedarf es neben einem Motto vor allem einer ausgeklügelten Strategie. Sie lautet wie folgt: »Man muss, wenn ihr mir diesen medizinischen Begriff erlaubt, die Opposition chloroformieren und auch das italienische Volk.«
Gewiss, es bedarf der Grausamkeit, doch der Grausamkeit des Chirurgen. Schluss mit der Panik und der Hysterie. Man kann ein Volk schlagen, es mit Steuern auspressen, ihm eine harte Disziplin aufzwingen, doch gewisse tief verwurzelte Gefühle darf man nicht mit Füßen treten. Man kann nicht ununterbrochen mit der Bedrohung einer Apokalypse leben. Der Wille des italienischen Volkes – versichert der wiederbelebte Duce dem Großen Rat – ist dieser: Strapaziert uns nicht jeden Tag mit der Behauptung, Erschießungskommandos bilden zu wollen. Das geht uns auf die Nerven. Sagt uns, wenn wir eines schönen Morgens aufwachen, dass ihr sie gebildet habt, aber bitte nicht dieses ewige Herumlavieren. Macht, was ihr wollt, aber sagt es uns hinterher.
Außerdem ist in einer Woche Mariä Himmelfahrt. Dieses Jahr fällt der Feiertag auf einen Freitag. Das Volk wird drei ganze Tage haben, um mit den Kindern ans Meer zu fahren und sich an einem Esstisch bei einem Teller Maccheroni mit den Alten und den Toten zu versöhnen, die Beine unter den Tisch gestreckt, die Flasche obendrauf, drei ganze Tage, um an nichts mehr zu denken und nichts mehr mitzukriegen.