Es stinkt nach Fußschweiß.
Er hat die Gamaschen ausgezogen, die Schuhe aufgebunden, den Gürtel gelockert und sich hemdsärmelig in den Sessel geworfen. Die Zigarette hängt ihm à la française zwischen den Lippen, die Beine liegen auf dem Sessel gegenüber, »auf amerikanische Art«, wie er sagt.
»Man muss einräumen, dass die Uneinigkeit der anderen uns mächtig geholfen hat … Ah! All diese Regierungsanwärter: Bonomi, De Nicola, Orlando, Giolitti, De Nava, Fera, Meda, Nitti … Das klingt, als hätten die verzweifelten Wunderheiler des sterbenden Parlamentarismus namentlich abgestimmt. Und erst Facta, dieser arme Tropf, der ausgerechnet nach unserer Versammlung in Neapel eine Kabinettskrise einläutet!«
Cesare Rossi hört zu, wie Mussolini im Kreis einer Handvoll Kameraden – gegen Freundschaften verwehrt er sich weiterhin beharrlich – die für die Anwesenden siegreiche Kampagne mit abgeklärter Gelassenheit rekapituliert. Doch er weiß, dass der Duce, zumal in diesem siegreichen Augenblick, vor allem von sich selbst spricht.
»Nicht zu vergessen die Passivität des Antifaschismus … Nach dem legalen Streik leckte der Kahn sowieso an allen Enden … Selbst wenn sie uns nur einen lumpigen kleinen Generalstreik zwischen die Beine geworfen hätten, hätte uns das die Sache ziemlich erschwert.«
Den ganzen Tag schon lungern vor den Türen des kleinen Salons, den die Direktion des Hotel Londra dem frischgebackenen Ministerpräsidenten bereitgestellt hat, eitle Squadristen, Minister in spe, Staatssekretäre, Generäle im Dienst und im Ruhestand, Männer und Frauen der römischen Halbwelt und zwielichtige Geschäftemacher herum, die sich mit raubvogelhaftem Instinkt in die Via Ludovisi gestürzt haben und nun auf Zuspruch, Bevorteilungen und gute Geschäfte hoffen. Doch in der luxuriösen Behausung, in der sich der barfüßige Wanderer die Kleider gelockert hat und sich nach dem zurückgelegten Weg umblickt, ist von ihrem Betteln nichts zu hören.
»Wenn Giolitti an der Regierung gewesen wäre, wäre die Sache natürlich nicht so glatt gelaufen … In unseren Gebieten hätte es zwar beharrlichen Widerstand gegeben, aber wirklich geschafft hätten wir es nicht. Wenn ein Staat sich zur Wehr setzen will, dann gelingt ihm das auch. Aber in Italien gab es nun mal keinen Staat mehr …«
Während sich das öffentliche Selbstgespräch fortsetzt – friedlich und siegessatt wie ein sanftes Schlaflied – lässt der Regen endlich nach. Der römische Herbst gewährt den geplagten Männern eine milde Nacht, ehe es Winter wird. Die Sieger danken Gott für den Herbst und genießen ihn, denn der Winter wird kommen, er ist schon auf dem Weg.
Dann beginnt die Rekapitulation der letzten Stunden. Jemand lässt den Getränkewagen über den Marmorboden rollen.
Vom königlichen Adjutanten, der ihn nach Salandras Verzicht am 29. Oktober nach Rom berief, um ihn mit der Regierungsbildung zu beauftragen, hatte Benito Mussolini ein schriftliches Telegramm gefordert. »Sobald ich das Telegramm erhalte, mache ich mich auf den Weg, ich steige sogar ins Flugzeug.« Doch als das Telegramm eintraf, hatte er nicht einmal einen Zug bestiegen. Der von Lusignoli um 15 Uhr bereitgestellte Sonderkonvoi wartete vergeblich auf ihn. Zuerst wollte er die Sonderausgabe seiner Zeitung fertigstellen, die seinen Sieg verkündete.
Erst nachdem er sich einen kurzen Moment der Rührung mit seinem Bruder Arnaldo erlaubt (»Wenn Papa das noch erleben könnte!«) und die Titelseite abgesegnet hatte, stieg er in den Schnellzug 17, der um 20:30 Uhr vom Hauptbahnhof abfuhr und am nächsten Morgen um 9:30 Uhr in Rom eintreffen sollte. Der Gruß der Menge war flüchtig ausgefallen. Der neue Ministerpräsident hatte auf eine pünktliche Abfahrt gepocht (»Ab jetzt muss alles laufen wie geschmiert.«). Während die letzten Waggons in der Dunkelheit verschwanden, verhallte der Gesang der Mailänder Faschisten – »giovinezza, giovinezza …« – in der Ferne.
Leider erreichte der Konvoi sein Ziel mit fast anderthalb Stunden Verspätung. Bereits in Fiorenzuola und später in Sarzana und Civitavecchia hatten sich Schwarzhemden auf die Gleise gestellt, und der Duce hatte aussteigen und sie abschreiten müssen (»Der Sieg ist unser, vergeudet ihn nicht. Italien ist unser, und wir verhelfen ihm wieder zu alter Größe.«).
Die ganze Nacht über glitt Italien hinter dem Schlafwagenfenster zu Benito Mussolinis Füßen vorbei. Als er um 10:50 Uhr endlich in Rom eintraf, zogen ihm zu Ehren sogar sechs Flugzeuge über den Himmel, die vom Flugfeld Centocelle aus gestartet waren.
Als Benito Mussolini um 11:05 Uhr an jenem 30. Oktober 1922 die Stufen des Quirinalspalastes erklommen hatte, um vom italienischen König mit der Regierung betraut zu werden, wurde der aus einfachen Verhältnissen stammende Polit-Zigeuner und Autodidakt der Macht mit nur neununddreißig Jahren der jüngste Premierminister seines Landes und zu diesem Zeitpunkt der jüngste Staatschef der Welt. Er hatte keinerlei Regierungs- oder Administrationserfahrungen, war erst sechzehn Monate zuvor in die Abgeordnetenkammer eingetreten und trug das Schwarzhemd, die Uniform einer bis dahin in der Geschichte beispiellosen, bewaffneten Partei. Als der Sohn des Schmieds – der Sohn des Jahrhunderts – die Stufen zur Macht derart emporstieg, öffnete sich das neue Jahrhundert unter seinen Schritten und schloss sich sogleich wieder.
Tags darauf hatte man sie in die Stadt einlassen müssen. Es war nicht anders zu machen. Jetzt, da Benito Mussolini bekommen hatte, was er wollte, hatte der König ihn persönlich gebeten, ihnen Einhalt zu gebieten und die Hauptstadt zu verschonen. Doch der hatte dagegengehalten, wenn man ihnen nicht die Genugtuung gäbe zu marschieren, könne er für ihre Reaktionen nicht garantieren. Ehe er am Morgen des 30. Oktober mit dem Zug eingetroffen war, hatten diese armen Teufel bereits vor den Toren Roms gestanden und sich drei Tage und Nächte lang vom Regen durchweichen lassen. Dennoch hatte man Giuseppe Bottai, der darum bettelte, an der Spitze seiner Kolonne von Verzweifelten in die Stadt einmarschieren zu dürfen, eine Abfuhr erteilt. Mit der Bildung einer faschistischen Regierung am 31. Oktober wäre es schier unmöglich, die Squadristen nach Hause zu schicken, ohne ihnen diesen trügerischen, erbärmlichen Triumph zu gönnen. In den Provinzen hatten manche sogar noch tollkühn ihr Leben geopfert, als Mussolini in Mailand das Telegramm des königlichen Adjutanten bereits in den Händen hielt. Nach der Befreiung Dutzender Kameraden aus dem Bologneser Gefängnis San Giovanni in Monte unter der Führung von Leandro Arpinati hatten sich acht dieser verrückten, selbstlosen Schwarzhemden bei der Erstürmung der Kasernen einvernehmlicher Carabinieri und nunmehr völlig nutzloser Munitionslager ermorden lassen, während Rachele in Mailand die Koffer für den Duce packte. Acht posthume Leichen.
Außerdem brauchte es den Glorienschein von Heldentum und Gewalt, um die Macht des Lieblingssohnes dieses neuen Jahrhunderts zu weihen. Zwar würde der militärische Aufstand scheitern, doch die Komödie war nun einmal Wirklichkeit geworden, und das Messer musste an der Kehle bleiben.
Und so hatte man sich am Morgen des 31. Oktober, während die Regierung im Quirinalspalast ihren Eid ablegte, im Park der Villa Borghese versammelt. Der Marsch startete um 13 Uhr an der Tiberpromenade, wo der Duce Zehntausende schlammverdreckte, ausgehungerte, Schlagstöcke schwingende Faschisten mit Dolchen am Gürtel abschritt. Als man sie auf der Piazza del Popolo zusammengeschart, ihnen äußerste Ordnung und Disziplin befohlen und jedwede Gewalt, für die sie mobilisiert worden waren, verboten hatte – Mussolini war nun Ministerpräsident und Hüter des Gesetzes –, ließ man sie geschlossen den Corso Umberto bis zum Vaterlandsaltar hinuntermarschieren und unter den Fenstern des Quirinalspalastes entlangziehen.
Eingezwängt zwischen General Diaz und Admiral Thaon de Ravel, winkte der König ihnen vom Balkon aus flüchtig zu. Der Duce ließ sich ein paar kurze Minuten am Fenster des Palazzo della Consulta blicken. Die Parade dauerte sechs Stunden.
Völlig entkräftet nach der nervösen Anspannung schleppten sich die wie räudige Köter behandelten Squadristen, die leibhaftigen Protagonisten dieser Geistergeschichte, noch ein paar Kilometer durch die Straßen der Hauptstadt, ließen sich von der Feigheit bejubeln, die nun, da die Angst gewichen war, übermütig winkend am Straßenrand stand, und fanden sich dann unversehens im Zug wieder, um den galligen Geschmack ihres Sieges hinunterzuschlucken.
Natürlich hatte dennoch manch einer den Gehorsam verweigert. Nach jahrelangen Prügeleien und wöchentlichen Strafexpeditionen tobten sich die rebellischen Faschistengruppen aus und verwüsteten Nittis Wohnhaus, demolierten das Büro des Abgeordneten Bombacci, schlugen den Anführer der Arditi del Popolo, Argo Secondari, so lange auf den Kopf, bis er mit einer schweren Gehirnerschütterung zu Boden ging. Andere, die mutiger oder leichtsinniger waren, versuchten, den Krieg in das feindliche Lager zu tragen, und drangen bewaffnet in die Arbeiterviertel Borgo Pio und San Lorenzo und in die Bezirke entlang der Prenestina und der Nomentana vor, aus denen man sie im Jahr zuvor davongejagt hatte. Auch diesmal wurden sie in die Flucht geschlagen.
Kaum erfuhr Mussolini von den Zwischenfällen, begab er sich zum Bahnhof Termini, um sicherzustellen, dass auch die letzten, unverbesserlichen Squadristen mit Gewalt in die Züge gesetzt wurden. Rom musste geräumt werden, Italien zur Ordnung kommen. Morgen war ein neuer Tag.
Jetzt macht es sich der Duce des Faschismus in seinem Zimmer des Hotel Londra im Sessel bequem, streckt die Beine aus, lässt die Stimme, angenehm benommen vom miefigen Dunst seiner nackten Füße und in wohliger Aussicht auf Schlaf, um eine Oktave sinken und wiederholt seinen wenigen Anhängern das, was er bereits am Nachmittag zu einem Redakteur des Corriere della Sera gesagt hat:
»Jetzt mal ehrlich, wir haben eine Revolution gemacht, wie sie die Welt noch nicht gesehen hat. In welcher Ära der Geschichte, in welchem Land hat es schon einmal so eine Revolution gegeben – während das Land funktionierte, die Wirtschaft lief, die Angestellten in ihren Büros, die Arbeiter in den Fabriken und die Bauern auf dem Feld ihre Arbeit taten und die Züge regelmäßig fuhren? Insgesamt zählen wir dreißig Tote, zehn in Mantua, acht in Bologna, vier in Rom. Abgesehen von Parma, San Lorenzo und wenigen anderen Ausnahmen hat Italien tatenlos zugeschaut. Das ist eine ganz neue Art von Revolution!«
Niemand hat etwas einzuwenden, niemand sagt etwas. Die Kunst der Gefügigkeit erteilt den neuen Jüngern ihre erste Lektion.
Was steht morgen an? Niemand weiß es, nicht einmal die Männer in diesem Zimmer. Man berauscht sich an vollendeten Tatsachen: Jetzt ist man an der Macht und will sie behalten. Die römische Herbstnacht ist süß.
Schweigend sekundiert man die Dunkelheit und gleitet erst sanft in einen Dämmerzustand, dann in den Schlaf. Es wird noch mehr als genug Zeit für die Erkenntnis sein, was unwiederbringlich verloren gegangen ist, weil man diesem im Sessel fläzenden Kerl erlaubt hat, die Macht mit einer Reise im Schlafwagen gewaltsam an sich zu reißen.