Der Saal ist brechend voll. Das italienische Parlament bietet einen »fantastischen Anblick«, wie ihn – so schreibt es die L’Illustrazione italiana – selbst die dienstältesten Reporter in dreißig Jahren Berichterstattung nicht erlebt haben. Die Tribünen der Senatoren, Diplomaten und ehemaligen Abgeordneten wimmeln vor eleganten Herren und Damen in Pelz, die Zuschauertribünen quellen fast über, die Seitengänge sind von einfachen Bürgern verstopft, die gekommen sind, um ihre neue Regierung zu begrüßen. Der Blick auf die Menge ist beglückend, euphorisierend, und dennoch sind alle Fotoapparate auf das Podium gerichtet.
Begleitet von sämtlichen Ministern seiner Regierung einschließlich des Präsidenten der Abgeordnetenkammer, Enrico De Nicola, sowie des Kriegsministers und Duca della Vittoria über die Österreicher, General Diaz, betritt der Onorevole Mussolini auf die Sekunde genau um 15 Uhr den Saal. Bis auf die Vertreter der Linken erheben sich sämtliche Abgeordneten und applaudieren. Die Zuschauertribünen fallen in den Beifall ein. Ganz Italien scheint mit diesem Mann in den Flitterwochen zu sein, der nun triumphalen Schrittes das Parlament betritt und so sehr zu schweben scheint, dass man meint, er sitze zu Pferde.
Kaum fünfzehn Tage sind seit dem sogenannten »Marsch auf Rom« vergangen, der in der nationalen und internationalen Presse ausführlich kommentiert wurde – »eine schöne, fröhliche Revolution starker junger Menschen«, »ein bahnbrechendes Experiment, der Anbruch einer neuen Ära«, »typisch italienisch, ein Teller Spaghetti«, eine »Komödie«. Kaum fünfzehn Tage sind vergangen, in denen es allein in Rom 19 Tote und 20 Verletzte gegeben hat, und dennoch ist der Marsch auf Rom bereits halb vergessen.
Niemand scheint sich mehr an die Tage der Angst erinnern zu wollen, die Scharen von marschierenden schwarzbehemdeten Männern heraufbeschworen haben, sämtliche Aufmerksamkeit ist auf diesen einen Mann gerichtet, der drohend mit den Augen rollt, die sogar seinen verächtlichen Gegnern »wie helle Scheinwerfer in der Nacht« erscheinen. Die Erwartungen sind riesig. Man hofft, dass mit ihm, dem aus der Finsternis aufgetauchten Nachttier, die Nacht endlich enden möge.
Absurderweise sind die Liberalen die Ersten, die im Duce des Faschismus ein Friedensversprechen sehen. Benedetto Croce hört nicht auf zu applaudieren, Giolitti hofft, dass Mussolini das Land »aus dem Graben zieht, in dem es zu verwesen drohte«, Nitti verspricht »keinerlei Opposition«, Salvemini fordert ihn auf, die »alten Mumien und Kanaillen« der verfaulten politischen Klasse hinwegzufegen, selbst Amendola, dem die Squadristen die Zeitung in Brand gesteckt haben, erwartet vom Duce die Rückkehr der Legalität. Die Mitglieder der Volkspartei, die Nationalisten, die Demokraten und die Liberalen sind in seine Regierung eingetreten. Der europaweit berühmte Philosoph Giovanni Gentile hat das Bildungsministerium übernommen, die Weltkriegssieger General Armando Diaz und Admiral Paolo Thaon de Revel das Kriegs- und das Marineministerium. Italien hat die Nase voll von den üblichen Spielchen, von den Gerüchten und vergeblichen Klagen, den unblutigen, müßigen Palastverschwörungen, die Menschen sind es leid, einzig mit ihren Schwächen im Parlament vertreten zu sein. Die Italiener sind ihrer selbst überdrüssig. Fast alle, selbst manche seiner Opfer, wünschen dem Retter in der Not ein langes Leben und »eiserne Gesundheit«, auf dass er die Geschwüre reinigen möge. Wie eine Krankheit, die sich selbst heilen muss.
Offenbar will Benito Mussolini sie nicht enttäuschen. Als der lange Beifall für General Diaz und den italienischen König verebbt, erhebt er sich und spricht im üblichen, jede Silbe betonenden Duktus den ersten, sarkastischen Satz seiner Rede in die gebannte Stille:
»Meine Herren! Das, was ich heute in diesem Saal tue, ist ein formaler Akt der Ehrerbietung gegen euch, für den ich kein besonderes Zeichen der Dankbarkeit verlange.«
Es folgt eine lange Pause, bis bei den Mumien des Montecitorio der Groschen der Beleidigung fällt: Der Ministerpräsident hat den Abgeordneten seines Parlaments soeben erklärt, dass er sie lediglich begrüßt, um die Form zu wahren. Dann setzt er seine Rede fort und spricht im Namen des Volkes.
»Das italienische Volk hat sich von seiner besten Seite gezeigt, ein Kabinett abgeschüttelt und sich eine Regierung abseits, jenseits und entgegen jedweder parlamentarischen Einmischung gegeben … Ich behaupte, die Revolution hat ihre Rechte. Ich bin hier, um die Revolution der Schwarzhemden in höchstem Maße zu verteidigen und zu stärken.«
Nach diesem unerwarteten Appell an die »Revolution« brandet auf den mit Squadristen besetzten Tribünen tosender Beifall auf. Soeben hat ihr Duce den Marsch auf Rom heraufbeschworen, den alle schon fast vergessen hatten. Mit einem Mal hat der Marsch das Parlament gestürmt, man meint, die Nagelstiefel auf dem Travertin der Flure zu hören, und dieser Marsch – »meine Herren« – wird nicht vergessen. Schaut nicht zurück, sondern nach vorn. Der Weg hat gerade erst begonnen.
Von den Bänken der Demokraten und der Liberalen gehen bange Blicke in Richtung der lärmenden Squadristen. Mussolini lenkt sie wieder auf sich:
»Ich habe bewusst darauf verzichtet, auf ganzer Linie zu siegen, obwohl ich es gekonnt hätte. Ich habe mir Grenzen gesetzt.«
Im Saal macht sich Erleichterung breit. Viele der Abgeordneten, die eben noch besorgt zu den Squadristen schielten, verfallen in beifälliges Nicken: Ihr Anführer erklärt, er werde nicht über die Stränge schlagen. Ein Glück. Die Katze hat die Maus verschont.
Doch dann zieht Benito Mussolini die Peitsche unter der Ministerbank hervor:
»Mit 300 000 voll bewaffneten jungen Männern, die zu allem entschlossen und auf geradezu übernatürliche Weise bereit waren, mir zu dienen, hätte ich all jene strafen können, die den Faschismus diffamiert und in den Schmutz gezogen haben. Ich hätte diesen tristen, grauen Saal in ein militärisches Lager verwandeln können.«
Ein Peitschenhieb mitten ins Gesicht. Die Beleidigung hallt durch den Sitzungssaal: dieser triste, graue Saal! Jetzt ist offenkundig, dass das Überleben dieser demokratischen Institution der mitleidigen Nachsicht dieses Mannes zu verdanken ist, der sie regieren und respektieren sollte. Die Benennung der Strafe, die ausgeblieben, aber vielleicht nur verschoben ist, ist den entehrten Ehrenmännern Strafe genug.
Während die Squadristen auf den Tribünen jubeln, ist Mussolinis Beleidigung für sämtliche Nicht-Faschisten ein Peitschenschlag ins Gesicht. Doch nur Francesco Saverio Nitti verlässt den Saal in entrüstetem Schweigen, nur Modigliani und Matteotti springen von den Bänken der Sozialisten auf. Nur ein einziger Ruf – »Es lebe das Parlament!« – erhebt sich im gedemütigten Parlament. Alle Übrigen machen den Eindruck, als hätten sie die Demütigung verdient. Ihr Schweigen ist Ausdruck unterwürfiger Zerknirschung. Als Mussolini seine Rede fortsetzt, spricht er zu einem Haufen Schuldiger:
»Ich hätte das Parlament kurz und klein schlagen und eine rein faschistische Regierung bilden können. Ich hätte es tun können, doch zumindest fürs Erste habe ich davon abgesehen.«
Abermals reuige Erleichterung und kleinmütiges Nicken auf den Bänken. Die rechtmäßigen Vertreter demokratischer Freiheiten nehmen es hin, dass ihnen diese Freiheiten aus reiner Willkür und nur unter der Bedingung gewährt werden, nicht mehr von ihnen Gebrauch zu machen. Der klägliche Überrest dieser demokratischen Institution findet sich damit ab, von Almosen zu leben. Offenbar hält sich keiner ihrer Repräsentanten für würdig und berufen, für die Freiheit aufzustehen und sie zu verteidigen.
Nachdem er das Parlament zur Schnecke gemacht hat, kann sich der Ministerpräsident nun den großen Themen der internationalen Politik zuwenden – der Triple Entente, den Beziehungen zur Türkei, zu Russland und den anderen Staaten –, doch für die Abgeordneten des Montecitorio, die abwesend ihrem Pulsschlag lauschen, um sicherzugehen, dass sie noch am Leben sind, ist seine Rede zu Ende.
Zum Schluss kommt der Führer der Faschisten noch einmal auf die zuvor mit Füßen getretene Autorität des Staates zu sprechen; er gelobt, sie wiederherzustellen und gegen die Gesetzlosigkeit der Faschisten zu verteidigen. Beifall und Beglückwünschungen von allen Seiten, auch von Facta und sogar von den Sozialisten. Mit Daumen und Zeigefinger formt Mussolini einen Ring und führt ihn an die Stirn: Er hat wieder angefangen, Katz und Maus zu spielen, doch inzwischen blickt die halb totgespielte Maus mit beinahe entschuldigendem Lächeln zu ihrem räuberischen Gegner auf.
Dann folgt ein letzter Peitschenschlag, eingeleitet durch eine weitere Herabwürdigung, die das gebührende »Onorevoli« und das respektvolle »Kollegen« und »Mitbürger« durch ein vertraulich verächtliches »meine Herren« ersetzt.
»Meine Herren, ich will nicht gegen die Abgeordnetenkammer regieren … sofern mir das möglich ist … doch die Kammer muss sich ihrer besonderen Lage bewusst sein … Man kann sie ebenso gut in zwei Tagen wie in zwei Jahren auflösen.«
Mit diesem Ultimatum wird die XXVI. Legislaturperiode begraben. Die Klügsten bezweifeln, dass es eine weitere geben wird. Sie wird zwei Tage oder zwei Jahre überdauern und ihren Tod auf Raten abstottern.
Damit kein Zweifel darüber herrscht, wer das Sagen hat, fordert Benito Mussolini von der Kammer die Erteilung »sämtlicher Vollmachten«. Wieder begehrt niemand dagegen auf.
Während der Vertagungspause versucht eine Gruppe Parlamentarier Giovanni Giolitti zu einem Protest zu bewegen, um die Würde der Abgeordnetenkammer zu verteidigen. »Dazu sehe ich keinen Anlass«, lautet die Antwort des alten Staatsmannes, »diese Kammer hat die Regierung, die sie verdient.«
Ihm wird nicht widersprochen. Obwohl die Faschistische Partei nur 35 Abgeordnete zählt, spricht die Kammer der Regierung Mussolini, die jener das Vertrauen verweigert hat, das Vertrauen aus. Sie wählt sie mit 306 Ja-Stimmen gegen 116 Nein-Stimmen und 7 Enthaltungen und überträgt ihr sämtliche Vollmachten. Selbst die Kritiker und Empörten wie der Onorevole Gasparotto oder der Onorevole Albertini stimmen dafür. Kapitulationswille in Reinform.