Da sind sie alle, in Reih und Glied, keiner fehlt. Große Ökonomen, große Philosophen, siegreiche Weltkriegsgeneräle. Seine Regierungsmitglieder sind geschlossen erschienen, um ihrem Premierminister, dem grandiosen jungen Staatsmann, den die amerikanischen Zeitungen als »interessantesten und mächtigsten Mann Italiens« feiern, ein frohes neues Jahr zu wünschen. Auf einmal können sie es gar nicht abwarten, dem Abenteuer zu huldigen. Der faschistische Staatsstreich ist vollbracht, und der Himmel ist nicht eingestürzt.
Am 24. November hat das von seiner Antrittsrede gedemütigte Parlament Benito Mussolini sämtliche Vollmachten zur Reform der öffentlichen Verwaltung und der Neuordnung der Finanzen erteilt. Doch seine persönliche Bestätigung reicht über die Staatsgrenzen hinaus: In der vorangegangenen Woche hat der aufsteigende Stern persönlich an der Friedenskonferenz von Lausanne teilgenommen, um den französischen Präsidenten Poincaré sowie den englischen Außenminister Curzon erstmals auf Augenhöhe zu treffen; Mussolini hatte sogar verlangt, sie sollten ihn in Territet aufsuchen – einem Dörfchen vor den Toren Lausannes –, und hatte ihnen das Versprechen abgenommen, die Kolonialmandate im Mittleren Osten neu zu verhandeln. Ein großer Erfolg, Italiens erster Schritt zurück zu einer Großmacht. Das ist das Ziel. Jetzt verkündet er seinen ehrerbietigen Ministern, die im Stehen lauschen, während er selbstgefällig hinter seinem Schreibtisch sitzt:
»Die historische Aufgabe, die uns erwartet, ist folgende: Wir werden aus dieser Nation einen Staat machen, eine moralische Vision, die sich in einem System klar umrissener Hierarchien niederschlägt, deren einzelne Glieder von der Spitze bis zur Basis stolz darauf sind, ihre Pflicht zu erfüllen, einen unitarischen Staat als einzigen Sammlungsort alles Gewesenen und alles Kommenden und der gesamten Kraft der italienischen Nation.«
Die Minister nicken beifällig, die Staatssekretäre applaudieren, die faschistische Revolution hat soeben erst begonnen.
Den Duce des Faschismus erwartet eine riesige Aufgabe, ein Neugründungsepos, das Jahre, wenn nicht gar Jahrzehnte in Anspruch nehmen wird. Nur die Weichlinge, die dilettantischen Architekten universellen Glücks, glauben an Wunder und raschen Wandel. Doch er ist nicht nur vorübergehend hier; er ist gekommen, um zu bleiben und zu regieren. Die Ersten, die er dank seiner Vollmachten auf Kurs bringen wird, sind die Angestellten der römischen Verwaltung, die nicht auf ihr Mittagsschläfchen verzichten wollen. Verbissen verteidigen sie ihr Schlummerstündchen, klammern sich mit Händen und Füßen daran, als würde man diesem dösigen, trägen Volk, das noch nie eine echte Katastrophe erlebt hat, ein jahrhundertealtes Recht entreißen. Sie müssen gehorchen und sie werden gehorchen, er wird sie in ein Uhrwerk verwandeln; um die Italiener aufzurütteln, ist er bereit, gegen Feinde, Freunde und sogar gegen sich selbst zu kämpfen.
Natürlich gedenkt er fürs Erste nicht, gegen Gesetz und Verfassung zu verstoßen. Mussolini hat es im Parlament deutlich gesagt: Die Revolution hat soeben erst begonnen. Man kann nicht alles umkrempeln und eine neue Welt aus dem Hut zaubern, er hat nicht vor, »das Universum einzureißen«. Ein paar fundamentale Fixpunkte im Volksleben müssen respektiert werden. Das Mittagsschläfchen gehört eindeutig nicht dazu.
Für gute Ergebnisse braucht es Zeit und Ruhe. Um sich Italien gänzlich widmen zu können, hat er seine Angelegenheiten ins Reine gebracht, sogar Rachele und die Familie hat er in Mailand zurückgelassen, um sie nicht zwischen den Füßen zu haben. Als Ministerpräsident hat er an den Präfekten von Trient geschrieben, damit er die durchgedrehte Dalser, die ihm noch immer im Nacken sitzt, ins Irrenhaus steckt, und Angela Curti, die im März 1921 zu ihm gekommen war, um die Befreiung ihres Mannes zu erwirken, und sofort zu seiner regelmäßigen Geliebten geworden ist, hat er in einer schmucken kleinen Bleibe untergebracht. Die süße Angela, die ihm am 19. Oktober, wenige Tage vor dem Marsch auf Rom, eine weitere heimliche Tochter geschenkt hat. Diesmal hat er alles so geregelt, wie es sich gehört: Er hat den Namen Elena vorgeschlagen – noch ein homerischer Name – und sie nach Rom in eine herrschaftliche Wohnung in Parioli geholt.
Er selbst braucht nicht viel. Er wohnt in einem Zimmer des Grand Hotel, nur von einem gewissen Cirillo Tambara versorgt – persönlicher Kellner, Fahrer und Leibwächter zugleich –, der ihm sogar sein Lieblingsessen Minestrone mit Speck zubereitet. Ansonsten herrscht mönchisches Leben und militärische Disziplin. Um sechs ist der Duce bereits auf, um sieben auf der Straße, um acht in seinem Büro im Palazzo Chigi, wo er sich ans Telefon hängt, um sicherzugehen, dass sämtliche vierzigtausend Angestellte der römischen Bürokratie an ihren Plätzen sind. Er wird die öffentliche Verwaltung reformieren – er sollte mit Kanonen auf sie schießen –, er wird diesen riesigen, von seiner trägen Verdauung benommenen, im ewigen Nickerchen eines endlosen, schwülen Nachmittags vor sich hindämmernden Dickhäuter wecken.
Und dann muss auch die andere Bestie eingefangen werden, die unberechenbare, wilde. Nach der Machtergreifung haben sich die Squadristen ausgetobt, um die letzten Rechnungen zu begleichen. In Mailand besetzten sie die Behörden demonstrativ während der Sprechzeiten, in Brescia verprügelten sie sogar die Priester in ihren Pfarrhäusern, und dann sind da noch die Vorfälle von Turin … ein Gemetzel. Sogar Francesco Giunta, der zu seinen gewalttätigsten Squadristen zählt und den er zu Ermittlungen nach Piemont geschickt hat, spricht von einer noch nie dagewesenen Brutalität, von einer Horde Schläger, einer ganzen Stadt in der Hand von Mörderbanden.
Offenbar hat sich in Turin Folgendes zugetragen:
In der Nacht vom 17. auf den 18. Dezember hat ein kommunistischer Straßenbahnfahrer bei einem Straßenkampf unweit von Barriera di Nizza zwei Faschisten getötet. Auslöser war angeblich eine persönliche Angelegenheit, Weibergeschichten. Der örtliche Faschistenführer, Piero Brandimarte, ein echtes Tier, hat sofort 3000 Schwarzhemden aus der ganzen Region zusammengetrommelt. »Unsere Toten werden nicht beweint, sondern gerächt.« Getreu diesem Schlachtruf haben Brandimartes Squadristen vom Mittag des 18. Dezember bis zum Nachmittag des 20. Dezember gewütet: Strafexpeditionen, Gefangennahmen, Brände, Zerstörungen, Morde und Blitzhinrichtungen auf offener Straße. Zwei Tage und Nächte übermäßiger Gewalt, grober Fehler, Personenverwechslungen und unschuldiger Opfer. Ein ins Hinterzimmer gezerrter und mit zwei Pistolenschüssen in den Kopf kaltgemachter Wirt, die Leber von Stich- oder Schnittverletzungen zerfetzt, beim Abendessen getötete Familienväter, junge Arbeiter, die auf die Straße gezwungen und totgeknüppelt wurden, die Straßen der Innenstadt blutüberströmt, Leichen in den Wassergräben, in den Senken, auf den waldigen Hügeln, Leichen, die vom Fluss angespült wurden. Namenlose Grausamkeiten, unvorstellbare Abscheulichkeiten, allgegenwärtige Angst. Nicht zu vergessen der Brand der Arbeiterkammer, der dritte in Folge, dazu Brandimartes Squadristen, die vor der glutroten Kulisse grölen und tanzen wie blutberauschte Köter.
Der Duce hat sich sofort von ihnen losgesagt. Er nannte das Massaker »eine Schande für die menschliche Rasse« und drohte exemplarische Strafen an. Doch drei Tage später, am 23. Dezember, verkündete er für die politisch motivierten Bluttaten (»nationaler Beweggrund«) eine Generalamnestie. Am 28. zwang er dem Ministerrat das erste Dekret zur Bildung der Freiwilligenmiliz für die Nationale Sicherheit auf: Um sie an weiteren Verbrechen zu hindern, müssen Brandimartes Mörder zu einer staatlichen Institution werden, zu einer Art Nationalgarde, einem Grundpfeiler der bewaffneten Nation. Mit diesem Kauter will der Duce die Wunde ausbrennen.
Das Paradox entgeht ihm ebenso wenig wie die Dämlichkeit. Doch es braucht Realitätssinn: Wenn eine Gruppe an die Macht gelangt, hat sie die Pflicht, sich zu wappnen und sich gegen alle zu verteidigen, außerdem ist das Land müde. Mit Furcht hat Italien dem Marsch auf Rom entgegengesehen und erst dann aufgeatmet, als es der Gefahr entronnen ist. Die Zeit des Durcheinanders, der wilden Streiks, der unter Knüppelhieben geborstenen Schädel ist vorbei. Um jeden Preis, und sei es, dass man die Kriminellen zu Gendarmen machen muss. Es wäre sowieso nicht das erste Mal. Der Faschismus muss Italien vom Joch der eigenen Gefahr befreien. Italien will sich erholen, zur Ruhe kommen.
Gefügigkeit greift um sich und überschwemmt die Halbinsel. Weil alles Schatten wirft und verdächtig ist, haben sich viele Zeitungen nicht einmal zu den Gemetzeln in Turin geäußert. Jetzt ist alles vorbei, und man wird endlich schlafen können, schlafen müssen, denn jetzt ist er da, der neue Mann, der Wache hält. Schließt die Augen, träumt süß, träumt von Größe und mediterraner Macht, träumt von morgen, denn der neue Tag erwartet uns, und wir gehen ihm entgegen, weil das neue Jahr in seinem Namen beginnt, im Namen Benito Mussolinis, des Helden der Müdigkeit.