Obwohl der Saal des Montecitorio von der Mitte bis nach rechts außen gut gefüllt ist, genügen die wenigen demonstrativ leeren Bänke des linken Flügels, um ihn absterben zu lassen wie einen infarzierten Herzmuskel.
Unten im Halbkreis scherzt Francesco Giunta mit Alfredo Rocco in der Präsidentenbank, der Onorevole Lanza di Trabia ruft »Es lebe Italien!«, Farinacci echot »Es lebe der Faschismus!«, die Squadristen stimmen »Giovinezza« an. Heute ist man im italienischen Parlament zu Scherzen aufgelegt, man ruft und singt, niemand redet.
Seit zwei Tagen hat das Land Herzkammerflimmern, die Gerüchte über den Rücktritt des Präsidenten reißen nicht ab, die Straßen hallen von antifaschistischem Getöse wider und werden beim nächsten Dementi wieder still. Die Szenerie wechselt minütlich in einem Auf und Ab trauriger Leidenschaften, das Leben fühlt sich an wie ein Kinofilm.
Man munkelt, »Er« sei entmutigt, gedemütigt durch den heftigen Gegenwind, der ihm entgegengekommen ist, und stehe kurz vor dem Kollaps; andere behaupten, die Konsuln der Miliz hätten ihm einen resistenten Keim eingeimpft. Jedenfalls warten alle auf Ihn wie auf ein existentielles Ereignis, das den natürlichen Film des Lebens in ein Davor und ein Danach zerreißt.
Wenige Minuten nach 15 Uhr betritt der Onorevole Mussolini, mit den Onorevoli Di Giorgio, Federzoni und Ciano im Schlepptau, durch die übliche, rechterhand gelegene Tür den Saal. Er wirkt »grimmig und düster«, notiert ein Reporter des Corriere della Sera.
Mit einer Bewegung der rechten Hand lässt der Duce des Faschismus den rituellen Applaus seiner Anhänger verstummen und nimmt auf der Regierungsbank Platz. Als der Onorevole Rocci ihm das Wort erteilt, rückt sich Benito Mussolini in der zum Zerreißen gespannten Stille mit gewohnter Geste den Krawattenknoten zurecht und geht direkt zum Angriff über.
Ein Auszug der Opposition hat nur dann Erfolg, wenn der Gegner bereit ist zu verhandeln. Doch dieser Mann, der mit dem Rücken an der Wand steht und den sämtliche seiner Feinde für erledigt halten, zeigt sofort, dass er nicht verhandeln will. Der Ministerpräsidentenstuhl ist noch immer seine Barrikade; seine Apostrophe richtet sich mit offenem Visier an seine Feinde.
»Meine Herren! Die Rede, die ich nun halten werde, kann nicht im strengen Sinne als Parlamentsrede gelten. Ich will bei euch nicht um politische Stimmen werben, denn von denen hatte ich bereits mehr als genug.«
Der Redner hält ein Buch in die Höhe. Es ist das Handbuch der Abgeordneten mit dem Albertinischen Statut. Alle starren gebannt auf das kleine Bändchen, als wäre es eine entschärfte Handgranate.
»Der Artikel 47 des Statuts besagt: Die Abgeordnetenkammer hat das Recht, die königlichen Minister anzuklagen und sie dem Obersten Gericht zu überstellen. Ich frage in aller Form: Gibt es in dieser Kammer oder außerhalb dieser Kammer jemanden, der vom Artikel 47 Gebrauch machen möchte?«
Es ist eine Zurschaustellung. Wie ein Priester, der den Gläubigen den Leib Jesu zeigt, hebt Benito Mussolini das Buch mit den demokratischen Statuten vor den Parlamentariern in die Höhe.
Schweigen.
Nur ein Einziger.
Nur ein Einziger müsste den Mund aufmachen, und er wäre verloren.
Unter den Oppositionsführern, die auf ihren Plätzen sitzen oder sich auf den Tribünen unter die Zuschauer gemischt haben, gibt es mutige Männer. Jahrelang haben sie ein Leben wie im Schützengraben geführt, ständige Einschüchterungen ertragen und sind mitunter schon mehrmals zusammengeschlagen worden. Es müsste nur einer von ihnen aufstehen, sich zum einsamen Kläger aufschwingen, die Disziplin der Partei und den Teufelskreis der Gewalt durchbrechen, physischer Kraft mit moralischer Stärke begegnen, dem Aufruf der Zukunft folgen, sich heute hinrichten lassen, um von künftigen Generationen gerächt zu werden, und im Leben untergehen, um in der Geschichte zu überdauern. Nur ein Einziger müsste sich erheben, um alles zu vergiften, was »Er« noch sagen will und sich in wenigen, auf einen Zettel gekritzelten Stichpunkten zurechtgelegt hat.
Niemand erhebt sich.
Nur die faschistischen Höflinge springen auf, um ihrem Duce zu applaudieren.
Also holt der Duce aus. Wenn niemand in diesem Saal es wagt, als einsamer Kläger aufzustehen, wird er, Benito Mussolini, Klage gegen sich selbst erheben.
Laut tönt seine Stimme in skandierten Silben durch den Saal des Montecitorio. Es hieß, er habe eine Tscheka gegründet. Wo? Wann? Wie? Niemand wüsste es zu sagen. Wenn niemand ihn beschuldigt, wird er sich selbst entlasten: Er hat nie einen Hehl daraus gemacht, ein Jünger jener Gewalt zu sein, die von der Geschichte nicht zu trennen ist, doch er ist mutig, klug, weitblickend, die Gewalt von Matteottis Mördern dagegen ist feige, dumm und blind. Man solle bloß nicht den Fehler machen und ihn für so dämlich halten. Er hat sich den Ereignissen stets gewachsen gezeigt und wäre selbst im Traum nicht darauf gekommen, den absurden, katastrophalen Mord an Matteotti anzuordnen, er hat diesen unbeugsamen Gegner nicht gehasst, im Gegenteil, er schätzte ihn, ihm imponierte seine Dickköpfigkeit und sein Mut, der dem seinen, welcher ihn nie verlassen hat, so ähnlich war. Und den wird er nun beweisen.
Benito Mussolini schweigt für ein paar Sekunden, als müsste er seine Waffe nachladen. Dann stemmt er die Hände in die Hüften, reckt den Hals und fährt damit fort, die Sätze in hämmernden Silben hervorzustoßen.
Monatelang hat man eine erbärmliche politische Schmutzkampagne geführt und die makabersten, nekrophilsten Lügen verbreitet, selbst unter Tage wurden Inquisitionen abgehalten. Er hat Ruhe bewahrt, die Gewalttäter gestoppt, für Frieden gesorgt. Und wie haben seine Feinde darauf reagiert? Sie haben noch eine Schippe draufgelegt und alles noch schlimmer gemacht. Man hat die Moral auf die Bühne gezerrt und behauptet, der Faschismus sei keine hehre Leidenschaft des italienischen Volkes, sondern eine schmutzige Begierde, der Faschismus sei eine Horde Barbaren, die sich in der Nation eingenistet haben, eine Bewegung von Banditen und Plünderern. Auf diese Weise wurde alles zum Verbrechen erhoben und den Italienern wurde eingeredet, niemals etwas für bare Münze zu nehmen, es wurde der giftige Verdacht gestreut, dass Himmel und Erde, Luft und Farben, Geräusche und Gerüche nichts weiter als der Trug eines bösen Dämons seien, dass das großartige Drama der Geschichte – der Kampf der jungen Völker gegen die dekadenten, die mediterrane Mole des europäischen Kontinents gegen die afrikanische – nichts weiter sei als eine banale, bedeutungslose Randnotiz. Die gesamte Schöpfung wurde in Zweifel gezogen und der Wahnvorstellung eines dummen Gottes zugeschrieben, der aus der Mitte eines unbekannten Universums heraus Kaskaden wirrer Sätze ausspuckt, es wurde behauptet, die Welt sei nichts weiter als ein ewiger, vom Bösen gelenkter Fehler.
Deshalb wird er sich nun mit dem ihm üblichen Mut den Verleumdern des Lebens, der Welt und der Geschichte entgegenstellen:
»Nun denn, meine Herren, im Angesicht dieser Versammlung und des gesamten italienischen Volkes erkläre ich, dass ich, ich allein, die politische, moralische und historische Verantwortung für alles Geschehene übernehme. Wenn ein paar mehr oder weniger verdrehte Sätze genügen, um einen Mann aufzuhängen, dann her mit dem Galgen und dem Seil! Wenn der Faschismus nur Rizinusöl und Schlagstock war und nicht eine hehre Leidenschaft der besten italienischen Jugend, dann ist das meine Schuld! Wenn der Faschismus eine kriminelle Bande war, dann bin ich ihr Anführer!«
Wieder steht niemand auf, um den Sohn des Jahrhunderts zu verhaften. Der Saal antwortet mit einem einzigen, respektvollen, ehrerbietigen Begeisterungsruf:
»Tutti con Voi! Alle mit euch, Präsident!«
Er hebt das Kinn zum Horizont, schwellt die Brust und zieht seine Schlüsse. Wenn zwei unbeugsame Elemente miteinander ringen, heißt die Lösung Stärke. In der Geschichte hat und wird es nie eine andere Lösung geben. Er, der starke Mann, verspricht, die Situation in den achtundvierzig Stunden, die seiner Rede folgen, »flächendeckend« zu klären.
Dieser schwammige, behördliche Ausdruck – »flächendeckend« – senkt sich wie ein Grabstein auf die Abgeordnetenkammer. Ohne jegliche Debatte und ohne eine Abstimmung endet die Sitzung. Die Versammlung wird bis auf Weiteres aufgelöst.
Als sich der rauschende Beifall der Faschisten gelegt hat und sich der Saal nach und nach leert, bleibt Benito Mussolini noch lange allein auf seiner Präsidentenbank sitzen.
Hör sie dir an. »Es lebe Mussolini! Es lebe Mussolini!«