Lena rekelte sich und schloss noch für einen Moment die Augen. Jetzt einen Kaffee! Bei diesem Gedanken sprang sie aus dem Bett, lief barfuß in die Küche und setzte Wasser auf.
Nach dem ersten Schluck verspürte sie Lust auf ein Zigarett-chen. Blöd nur, dass sie gerade dabei war, sich das Rauchen abzu-gewöhnen. Zum x-ten Mal übrigens. Und immer war sie dabei so erfolgreich gewesen wie bei der Besteigung des Mount Everest. Falls sie das je versucht hätte.
Um sich abzulenken, trank sie einen weiteren Schluck, schlug ihr Buch auf und begann zu lesen. Sie hatte Zeit, viel Zeit. Heute war ihr erster Urlaubstag. Als sie ein paar Seiten gelesen hatte und Hunger bekam, beschloss sie, sich einen seltenen Luxus zu gönnen. Wenn schon kein Zigarettchen, dann wenigstens ein deftiges Frühstück.
Vorsichtig, um sich nicht am brutzelnden Fett zu verbrennen, schob sie knusprig braune Speckscheiben an den Pfannenrand, schlug Eier in die frei gewordene Mitte und gab Salz und ordentlich Pfeffer darüber.
Doch bevor sie ihr spätes Frühstück aus der Pfanne gleiten lassen konnte, klingelte das Telefon. Verdammte Hacke! Was sollte das denn? Sie hatte Urlaub.
»Ja, bitte!« Ihr Tonfall ließ keinen Zweifel daran, wie sehr sie sich gestört fühlte.
»Ich weiß, du hast Urlaub«, sprudelte ihre junge Kollegin Mandy Fortunato grußlos heraus. »Aber du musst zur Mühle kommen, zur alten Mühle gleich hinter deinem Dorf. Sofort! Weil, weil …«
»Gib mir mal Freddy«, unterbrach Lena ihre Kollegin, deren zartes, beinahe kindliches Stimmchen schon so manchen darüber hinweggetäuscht hatte, wie hartnäckig die schmächtige junge Frau sein konnte. Aber was wollte sie jetzt von ihr?
Ihr Stellvertreter, Alfred Meichsner, den alle nur Freddy nannten, leitete während ihres Urlaubs das Team. Sollte er doch bitte schön zur Mühle fahren. Sie, Lena, wollte in Ruhe frühstücken. Nach einem ganzen Jahr ohne einen einzigen Urlaubstag hatte sie sich das redlich verdient.
»Geht nicht!«, prustete die seltsam verstörte Mandy ins Telefon. »Freddy hat sich krankgemeldet. Die Haxen gebrochen oder so was. Tut mir wirklich leid, Chefin. Wir brauchen dich hier … weil … Hier ist …«
Urplötzlich brach das Gestammel ab. Lena hörte nur noch Rauschen, dann war die Verbindung unterbrochen.
Verblüfft starrte sie das Telefon an. Es musste doch jeden Augenblick erneut klingeln. Doch das Gerät blieb stumm.
Sie drückte die Kurzwahltaste mit Mandys Handynummer. Niemand meldete sich. Von wegen opulentes Frühstück mit Eiern, Brot und Speck. Irgendwas oder irgendwer funkte ihr dazwischen. Kriminalkommissarin Mandy Fortunato, das Küken in Lenas Team, hatte ganz bestimmt nicht aus Jux und Tollerei angerufen. Doch was sollte das heißen, Freddy hätte sich die Haxen gebrochen? Hatte Hauptkommissar Alfred Meichsner einmal mehr sein Fitness-programm übertrieben? Jeder im Kommissariat wusste, wie fanatisch dieser Mann Sport trieb. Er ließ weder Mountainbiking noch Outdoor-Rafting oder sonst irgendetwas aus, das nur annähernd die Chance bot, sich alle Gräten zu brechen. Offensichtlich hatte er das jetzt geschafft. Na dann, prost Mahlzeit!
Aber was war mit Mandy los? Unschlüssig starrte Lena auf ihr Handy. Automatisch drückte sie die Wahlwiederholung. Nichts!
Wenn sie weiter zögerte, würde sie nur wertvolle Zeit verlieren. Sie musste duschen und sich anziehen. Und zwar pronto!
Hastig streifte sie ihr heiß geliebtes Depeche-Mode-Fanshirt über den Kopf, das sie als Nachthemd trug, seit es gar zu ausgeblichen war.
Nach dem Duschen beäugte sie die Stapel in ihrem Kleiderschrank und entschied sich in Anbetracht des sonnigen Wetters für ein luftiges olivfarbenes Oberteil. Über dem Stuhl im Schlafzimmer hing eine schon etwas abgewetzte, aber immer noch ganz passable Jeans. Dazu passte beinahe alles – ein großer Vorteil, wenn man es eilig hatte. So muss Kleidung sein, fand Lena: praktisch und gut kombinierbar. Zur Sicherheit schnappte sie sich noch ihre geliebte graue Lederjacke. Ein letzter Blick in den Spiegel und los.
Beim Zuziehen der Haustür fiel Lena ein, dass ihr Mini seit dem Vortag in der Angersbacher Werkstatt stand. Der TÜV war abgelaufen und ein, zwei autofreie Tage waren ihr zum Urlaubsanfang ganz recht gewesen. Nun hatte sich die Situation geändert. Sie würde zum Tatort radeln müssen.
Als sie die Garage aufschloss und ihr altes Trekkingbike ins Freie schob, spürte Lena die angespannte Unruhe, die sie bei jedem neuen Fall befiel.
Eilig schwang sie sich in den Sattel. Frühstück und Zigarettchen waren vergessen. Die holprige Dorfstraße entlang radelte sie bis zur Ortsmitte und bog gegenüber dem Gasthof nach links in einen Feldweg ein. Auf knochentrockenem Boden schlängelte sie sich geschickt der dürren Grasnarbe folgend an zahlreichen Schlaglöchern vorbei.
Vor Tagen noch hatte auf den Feldern leuchtend gelber Raps geblüht, ein weithin sichtbares Blütenmeer, das mit der Sonne zu wetteifern schien. Nun ließen sich inmitten der Ölfrüchte, die unscheinbar dem Sommer entgegenreiften, nur noch hier und da gelbe Sprengsel ausmachen. Auch wenn sie heute keinen Blick dafür hatte, Lena liebte die Landschaft der Uckermark. Sanft gewellt, in Hügeln aufragend, in weitläufige Senken gedehnt, zeigte sie sich immer wieder anders und doch gleichbleibend in der friedvollen Gelassenheit, die sie ausstrahlte.
An all das verschwendete Lena jetzt keinen Gedanken. Obwohl sie zu schwitzen begann und zunehmend Mühe hatte, ihr Rad zwischen den Schlaglöchern in der Spur zu halten, trat sie mit aller Kraft in die Pedale. Mandys Anruf ließ ihr keine Ruhe.
Als sie schon den Dachfirst des alten Mühlenhauses aus dicht belaubten Bäumen herausragen sah, kam ihr ein Fahrzeug entgegen. Sie sprang vom Rad, um das Wohnmobilvorbeizulassen, das, einen Bierwagen im Schlepptau, durch die Schlaglöcher rumpelte. Max Lüders rückte ab. Beim Fest rund um die alte Mühle hatte der Gastronom am Vortag durstige Kehlen mit Getränken versorgt.
Auf der Wiese hinter dem Haus hatte eine Band gespielt, an Bierwagen und Grillstand drängten sich mehr Menschen als rund ums ratternde Sägegatter. Heute bot sich ein anderes Bild. Zwischen senfbeschmierten Papptellern und achtlos weggeworfenem Plastik-besteck standen Autos mit blinkendem Blaulicht.
Mit strengem Blick und abwehrender Handbewegung versuchte ein junger Polizist, Lena am Näherkommen zu hindern.
Erst als sie direkt vor ihm vom Rad sprang, erkannte er sie und stotterte: »Oh, äh, Frau Hauptkommissarin, heute so sportlich unterwegs? Sie … äh … Sie werden schon erwartet. Da drinnen …«
Eifrig riss er die grau verwitterte Holztür zur Schneidemühle auf. Doch statt einzutreten, wandte Lena den Kopf, denn genau neben ihr stoppte ein Leichenwagen. In der Fahrerkabine zogen zwei Männer in Schwarz an ihren Zigaretten, als hätten sie alle Zeit der Welt.
Der Polizist stieß die Tür noch ein Stück weiter auf und Lena trat in den halbdunklen Mühlenschuppen, ohne mehr wahrzunehmen, als einen reglosen Schatten irgendwo im Hintergrund. Erst nach einigen Schritten und mehrmaligem Zwinkern erkannte sie Fiete Krollmann, den Gerichtsmediziner. Über etwas gebeugt, das Lena noch nicht sehen konnte, verharrte er regungslos.
»Mandy?« Ihr Schrei ließ ihn herumfahren. Verwundert schüttelte er den Kopf und Lena erfasste das makabre Bild.
Auf dem hölzernen auf Schienen laufenden Schlitten, der dazu diente, Stämme zum Gatter zu transportieren, lag eine menschliche Gestalt. Der Figur nach ein Mann. Ein Mann ohne Gesicht. Zwischen blutverklebten Haarbüscheln, Hautfetzen und Knochensplittern quoll Hirnmasse aus dem eingeschlagenen Schädel. Blut war ins rissige Holz gesickert und zu dunklen, beinahe schwarzen Flecken geronnen. Endlich verstand Lena Mandys Schnaufen und Würgen am Telefon. Die blutjunge Kommissarin hatte den Anblick dieses grausam zugerichteten Mannes nicht ertragen.
Ächzend richtete Krollmann sich auf. Seine Augen, die eben noch konzentriert auf die Leiche gerichtet waren, blitzten Lena entgegen. »Hallo, Lena! Ich dachte, du hättest Urlaub!«
»Willkommen im Klub, ich dachte das nämlich auch, zumindest bis Mandy angerufen hat.« Ohne seinen Blick zu erwidern, sah sie sich um, doch sie konnte ihre Kollegin nirgends entdecken. »Wo ist die Kleine denn abgeblieben?«
»Keine Ahnung.« Der Gerichtsmediziner zuckte mit den Schultern. »Gerade eben war sie noch hier. Aber schön, dich zu sehen, Lena. Auch wenn«, er wies auf den Toten, »der Anlass alles andere als schön ist.«
Schaudernd verschränkte sie die Arme vor der Brust und zog die Schultern zusammen. Sie zwang sich, die blutverkrustet auf-gequollene Masse, die einmal das Gesicht eines Menschen gewesen war, genauer zu betrachten.
»Was ist dir bloß passiert?«, murmelte sie vor sich hin. Sie musste schlucken, um den Kloß im Hals loszuwerden. Dieser brutale Mord, hier am Rande ihres beschaulich ruhigen Dorfes, berührte sie auf ganz besondere Weise. Seit sie denken konnte, kannte sie beinahe jeden im Ort, und nie war in Raglow Schlimmeres passiert als Schlägereien unter Betrunkenen. In diesem Dorf, in dem sie aufgewachsen war, einen Mörder zu suchen, würde anders sein als alles, was sie bisher getan hatte.
Sie ahnte nicht, wie sehr sie recht behalten sollte.