3. KAPITEL

Lena hatte schon vieles gesehen in ihrem Beruf. Doch was Menschen einander antun konnten, entsetzte sie immer wieder aufs Neue. Sie beugte sich noch einmal zu dem Toten hinunter und zwang sich, das von brutalen Schlägen zerstörte Gesicht genau anzusehen.

Fiete Krollmann, der sich neben sie gehockt hatte, folgte ihrem Blick.

Zerfetztes Gewebe.

Blutüberkrustete Knochensplitter.

Im Tod erstarrte Augen.

»Da war jemand aber mal richtig wütend, die Schläge sind immer heftiger geworden, sogar als der Mann schon mausetot war.« Kroll-mann seufzte.

Lena musste sich abwenden. Sich in Routine flüchtend spulte sie ab: »Und? Wer ist der Mann? Wo ist die Mordwaffe? Irgendeine Idee?«

Nachdenklich kratzte sich Krollmann am Kinn. »Keine Ahnung, wer er ist, respektive wer er war. So wie er da vor uns liegt, würde ihn die eigene Mutter nicht mehr erkennen. Und die Tatwaffe? Diesmal sucht ihr nicht nach dem berühmten stumpfen Gegenstand. Es muss was Scharfkantiges gewesen sein. Nicht unbedingt spitz, aber scharfkantig. Ich überlege immer noch, was da passen könnte. Auf jeden Fall war der Mann schon nach den ersten Schlägen tot. Wahrscheinlich hätte ein einziger Schlag gereicht. Schweres Schädel-Hirn-Trauma. Alles andere war nur noch Abreagieren, der reinste Blutrausch. Wie gesagt, da hatte jemand seine Wut nicht mehr im Griff.«

»Oder er war stinkbesoffen.« Die kindlich wirkende Piepsstimme kam vom Eingang her. Wie aus dem Nichts tauchte die junge Kommissarin Mandy Fortunato im Mühlenschuppen auf. Blass, die verschränkten Arme vor die Brust gedrückt. Die Jacke aus hellem Leinen ließ ihr ohnehin schon bleiches Gesicht noch fahler wirken.

»Habt ihr Papiere bei ihm gefunden?«, fragte sie beim nächsten wackligen Schritt auf dem unebenen Fußboden, den Blick über den Toten hinweg auf das schmutzige Fenster gerichtet, das nur wenig Licht in den Raum ließ.

»Nicht das kleinste Fitzelchen.« Weiter kam Krollmann nicht.

Mandy begann erneut zu würgen. Die Hand vor den Mund gepresst rannte sie zurück ins Freie.

Verwundert blinzelnd rückte der Gerichtsmediziner die Brille zurecht. »Nanu? Was hat unsere junge Kollegin denn heute?«

»Sag du’s mir, du bist der Doc.«

Seine Brauen schoben sich wulstig zusammen. »Keine Ahnung, das ist doch nicht ihr erster Toter, oder?«

»Sicher nicht, aber vielleicht der Erste, der so übel zugerichtet worden ist.«

Ächzend richtete Krollmann sich auf. »Könnte gut sein, aber als Sensibelchen hat sie entschieden den falschen Beruf, würde ich sagen.«

Lena hielt durch die halb geöffnete Tür nach Mandy Ausschau, konnte sie aber nirgends entdecken. Nur ihr Würgen und Krächzen verriet, dass sie ganz in der Nähe war.

Krollmann musste es auch hören, tat aber, als bekomme er nichts davon mit. »Höchstens Mitte dreißig«, murmelte er vor sich hin, und Lena begriff, dass er den Toten meinte.

»Wer hat ihn überhaupt gefunden?«, erkundigte sie sich.

»Das war die Frau, die hier im Haus wohnt. Drescher heißt sie, glaub ich. Hätte fast einen Herzkasper bekommen, die Ärmste, als sie ihn heute früh beim Aufräumen entdeckt hat.«

»Kann ich gut verstehen. Und? Hat sie eine Ahnung, wer er sein könnte?«

»Eher nicht. Sie sagt, sie hat sich nicht getraut, genau hinzusehen.«

»Alles andere würde mich auch wundern.« Lena nickte Kroll-mann zu. »Dann sollten wir mal schnellstens rauskriegen, wer der Mann war und wer ihm das angetan hat.«

»Das müsst ihr rausfinden, liebe Lena. Ich kann euch nur sagen, woran er gestorben ist. Und natürlich auch, wann. Ansonsten?« Der hochgewachsene Krollmann schob sein bartloses Kinn vor. »Papiere hab ich in seinen Taschen nicht gefunden. Keinen Ausweis, keinen Führerschein, kein Geld, rein gar nichts. Zerknüllte Papiertaschentücher, mehr war da nicht. Und siehst du, das finde ich eben komisch. Selbst wenn er hier aus dem Dorf war, müsste er doch wenigstens ein bisschen Kleingeld bei sich gehabt haben, für Bier oder so. Aber nix. Kein Cent. Ist doch eigenartig, meinst du nicht auch?«

»Hm!« Lenas Blick glitt über die gekrümmte Gestalt zu ihren Füßen. Der Tote musste einmal ein großer Mann gewesen sein. Groß und sehr schlank. Sein Haar war dunkelblond, soweit sich das unter all dem Blut erkennen ließ. Er trug Jeans und eine grüne Lederjacke mit aufgesetzten Taschen. Diese Taschen, das Auffälligste an seiner ansonsten schlichten Kleidung, waren außergewöhnlich groß und mit bronzefarbenen Schnallen versehen. Die Füße steckten in abgenutzten Turnschuhen.

»Willst du damit sagen, es war ein Raubmord? Er wurde beklaut?«, wandte sie sich an Krollmann.

»Beklaut ja. Aber Raubmord? Dafür hätte man ihn nicht so übel zurichten müssen.«

»Vielleicht hast du nicht gründlich genug gesucht. Bei den vielen Taschen ist leicht was zu übersehen.«

Sein Blick ließ sie stocken. Sie klatschte sich die Hand an die Stirn. »Sorry! Ich weiß doch, du bist Mister Supergenau. Wie konnte ich das nur vergessen?«

»Das muss ich auch sein, du wärst sonst die Erste, die sich beschwert. Auf jeden Fall spricht die Spurenlage für eine Tat im Affekt.«

Lenas Kopfschütteln wirkte ratlos. »Ein Mord hier am Rand der Welt, ausgerechnet in meinem verschlafenen Raglow. Ist das zu glauben?«

»Oh«, Krollmann winkte ab. »Dafür kann ich dir Gründe aufzählen, die so alt sind wie die Welt. Fangen wir an mit Liebe, Hass und der guten alten Eifersucht. Schon der schlaue Goethe wusste, dass sein edel, hilfreich und gut für immer ein Wunschtraum bleiben wird. So ist der Mensch nun mal nicht gestrickt.«

»Du meinst, Gott – oder wer auch immer für diesen irdischen Schlamassel verantwortlich ist – hat nicht gründlich genug nachgedacht bei der Erschaffung der Welt? Und wir müssen jetzt sehen, wie wir mit dem Pfusch klarkommen?«

»Ja, so könnte man das ausdrücken«, stimmte er zu. Kurz schien es, als wollte er noch etwas sagen, doch dann beugte er sich wieder zu dem Toten hinunter. »Der Mann ist, sagen wir mal, ungefähr fünfzehn Stunden tot, plus, minus, du weißt schon. Also ist er, lass mich kurz rechnen, gestern Abend gegen neunzehn Uhr zu Tode gekommen. Auf keinen Fall später.«

Als er schwieg, war Lena nicht gleich klar, was anders war als sonst. Dann ging ihr ein Licht auf. Es war die Stille. Normalerweise summte der Gerichtsmediziner irgendwelche Melodien vor sich hin, meistens aus Opern und meistens falsch. Wenn man ihn darauf ansprach, gab er ungerührt zurück: »Wenn ich singen könnte, wäre ich Tenor geworden und nicht Leichendoktor. So, wie’s ist, passt es prima. Keiner von meinen Patienten hat sich je beschwert.« Dann pflegte er weiterzusummen, am liebsten Verdis Gefangenenchor.

Heute sah er still auf den Toten. Es dauerte ein Weilchen, ehe er erneut zu sprechen begann. »Jedenfalls wurde er hier getötet, so viel ist sicher. Du siehst das viele Blut ja selbst. Auch die Leichenflecken sind lagegerecht. Wie gesagt, die meisten Schläge haben ihn post mortem getroffen.« Er holte tief Luft. »Alles andere wie immer.«

»Ich weiß. Wenn du ihn auf dem Tisch hattest. Allerdings frag ich mich …« Lena zögerte kurz. »Ich frag mich, warum niemand was bemerkt hat. Mindestens hundert Leute sind hier gestern rum-gesprungen und keiner will was mitbekommen haben? So wuchtige Schläge! Das geht doch nicht in aller Stille ab.«

»Sollte man meinen.« Krollmann nickte. »Aber nach sechs war nur noch am Bierwagen so richtig was los, und der stand drüben auf der anderen Seite der Wiese. Leise waren die Leute da auch nicht gerade. Von Musik und Alkohol mal ganz abgesehen.«

»Woher willst du das denn wissen?«

»Da staunst du, was?« Der sonst so selbstsichere Gerichtsmediziner lächelte verlegen. »Erstens stand der Wagen heute früh noch auf demselben Fleck. Und zweitens dachte ich gestern so gegen sechs selbst darüber nach, mich zu verkrümeln oder mir noch ein Bierchen zu gönnen.«

Verblüfft fuhr sich Lena durchs fuchsrote Haar. »Sag bloß, du warst auf unserem Mühlenfest?«

»Ja, warum denn nicht?« Sein Blick suchte ihre smaragdgrünen Augen. »Vielleicht habe ich gehofft, hier eine gewisse Hauptkommissarin zu treffen. Schließlich ist das hier dein Dorf.«

»Ach so? Du wirst staunen, ich war tatsächlich hier, wenn auch nur ganz kurz. Nachmittags zu Kaffee und dicker Torte. Unsere Dorffrauen backen himmlisch.«

»Du und dicke Torte?« Krollmanns Lippen zuckten amüsiert. »Du verkohlst mich, oder?« Er deutete nach draußen, wo er Mandy vermutete. »Ihr beide steht doch eher auf Körnchen und Salatblätt-chen, so mehr in Richtung Vogelfutter.«

Lena dachte an ihr geplantes Frühstück mit Eiern, Brot und Speck. Ihr Kichern nahm sich seltsam aus in dieser düsteren Umgebung. »Da kannst du mal sehen, wie schlecht du uns Frauen kennst.«

»Dann hilf mir, das zu ändern.«

Sie wollte ihm eine flapsige Antwort entgegenschleudern, doch etwas in seiner Miene hielt sie zurück. Als hätte sie seine Worte nicht gehört, ging sie suchend um das Sägegatter herum, den Blick nicht auf die Leiche, sondern auf den von Sägespänen übersäten Fußboden gerichtet. »Hier muss doch was Scharfkantiges rum-liegen«, murmelte sie vor sich hin und begann, im Spänehaufen neben dem Gatter zu wühlen.

»Das kannst du vergessen«, hörte sie Krollmanns Stimme hinter sich. »Da war Haubi schon dran. Soviel ich weiß, hat er nur eine Brille mit zertretenen Gläsern gefunden und allerhand Unrat, was die Leute eben so fallen lassen.«

Lena zuckte mit den Schultern, rieb die staubigen Hände an ihrer Jeans ab und sah sich im halbdunklen Raum um. Neben einer Holzleiter, deren mittlere Sprossen fehlten, lehnte ein vorsintflutlicher Besen aus trockenen Haselruten, zusammengebunden mit einer dicken Schnur.

»Es muss aber was da sein. Womit auch immer der Täter zugeschlagen hat, das Ding mit nach draußen zu nehmen, wäre viel zu gefährlich gewesen«, beharrte Lena und scharrte mit der Schuhspitze in den Spänen herum.

Krollmann räusperte sich. Zu ihrer Überraschung sagte er plötzlich: »Was ich dich immer schon mal fragen wollte: Warum treffen wir uns eigentlich nur, wenn eine Leiche vor uns liegt?«

Auch wenn seine Worte beiläufig klangen, der gespannte Unterton war Lena nicht entgangen.

»Vielleicht, weil das unser Job ist, Herr Doktor Krollmann«, wich sie einer ehrlichen Antwort aus. Sonst hätte sie zugeben müssen, dass ihre letzte gescheiterte Beziehung noch zu sehr an ihr nagte, als dass sie überhaupt in Erwägung zog, sich mit einem Mann zu treffen. Der Typ, den sie geliebt hatte, war ihr Rostocker Chef gewesen. Wobei das hatte nicht ganz stimmte. Sie bekam den Mann nicht raus aus Kopf und Herz. Sie konnte einfach nichts dagegen tun, dass sie viel zu oft an ihn dachte.

Krollmanns Hartnäckigkeit überraschte sie dann doch. »Unser Job? Oh, sorry, ich vergaß!«, stieß er mit erhobenen Händen hervor. »Aber vielleicht sollten wir uns auch mal sehen, wenn wir nicht arbeiten und alle schön friedlich am Leben bleiben. Wäre doch keine schlechte Idee, oder, Lena? Was meinst du?«

Sein flüchtiges Lächeln ließ ihn jünger erscheinen, und mit einem Mal konnte Lena sich vorstellen, wie er als Halbwüchsiger ausgesehen haben musste.

Während sie noch über eine Antwort nachdachte, hörte sie ein leises Kichern. Sie drehte sich um und entdeckte Konrad Hauben-reißer, den Chef der Angersbacher Kriminaltechnik, der hinter ihr stand und gerade dabei war, die Bilder auf dem kleinen Display seiner Kamera zu checken. Lena, die sein Hereinkommen nicht bemerkt hatte, fuhr ihn barsch an: »Mach deine Arbeit, Haubi, wir haben nicht den ganzen Tag Zeit.«

Der korpulente, für seine überbordende Gutmütigkeit bekannte Mann, den nur noch wenige Monate von der Pensionierung trennten, legte salutierend die Fingerspitzen an die Schläfe. »Zu Befehl, Frau Hauptkommissarin. Bin gerade fertig geworden.«

Mist, verdammter! Lena ärgerte sich über sich selbst und über Krollmann, dem sie die Schuld an ihrem Fauxpas gab.

Warum musste er sie mit seiner Fragerei auch so durcheinander-bringen? Und warum hatte sie wieder mal ihre Klappe nicht halten können? Haubi war genial als Kriminaltechniker. Er arbeitete zügig und effizient. Für Dinge, die irgendwo versteckt sein konnten, hatte er einen sechsten Sinn und manchmal den siebten noch dazu.

Wenn er nichts gefunden hatte, dann lag in diesem Mühlen-schuppen auch keine Tatwaffe oder sonst irgendetwas herum, das zu finden sich lohnte. Sie wollte ihm, bevor er ging, schnell noch etwas Nettes zurufen, doch er hatte seine Kamera schon eingepackt und hob zum Abschied grüßend die Hand.

»Bis dann, Lena. Wir reden weiter, wenn der Doc mit dem Mann durch ist oder wenn ich was Neues habe. Tut mir übrigens leid wegen deines Urlaubs.«

Sie nickte und rief ihm betont freundlich nach: »Na dann bis gleich, Haubi!« Doch das schien er schon nicht mehr zu hören.

Fiete Krollmann hielt den Blick noch immer auf Lena gerichtet. »Du hast meine Frage nicht beantwortet«, erinnerte er mit sanfter Stimme.

Gab der Mann denn nie auf? »Welche Frage genau meinst du?«

»Lass die Spielchen, Lena. Du weißt, was ich meine.«

»Ach, wirklich, ist das so?« Lena wusste selbst nicht, warum sie sich zickiger anstellte als jeder Teenager. Das war doch sonst nicht ihre Art. Dachte sie jedenfalls.

Mit einer Geduld, die sie ihm niemals zugetraut hätte, wiederholte er: »Ich habe dich gefragt, ob wir uns vielleicht mal sehen können, wenn niemand gestorben ist und alle friedlich ihrer Wege gehen. Wir könnten ja …«

»Zusammen Torte essen?«, fiel sie ihm ins Wort. Verflixt! Warum konnte sie eine ernst gemeinte Frage eines durchaus ernst zu nehmenden Mannes nicht wenigstens halbwegs ernsthaft beantworten?

Zu ihrem Erstaunen strahlte er sie an. »Aber klar doch, ich liebe Torte. Sehr sogar!«

»Das war ein Joke, Krollmann. Glaub mir. Job und Privates zu vermischen, bringt nur Ärger.« Ich hab da so meine Erfahrungen, wäre ihr beinahe noch herausgerutscht, doch sie konnte sich gerade so beherrschen. Ihr Verhältnis mit Dirk Landgraf, ihrem Chef bei der Rostocker Kripo, ging diesen Mann nun wirklich nichts an. Und schon gar nicht musste er wissen, dass ihr Geliebter verheiratet und Vater von Zwillingen im Vorschulalter war.

Doch im Augenblick, so schien es, wollte Krollmann überhaupt nichts mehr von ihr wissen. Er klang jetzt deutlich beleidigt. »Wenn du so denkst, liebe Lena, dann wollen wir mal nix vermischen.«

Bingo! Jetzt hatte sie es geschafft, auch ihn zu verärgern. Das gelang ihr heute wirklich spielend, was bestimmt daran lag, dass sie eigentlich gar nicht hier sein sollte. Sie müsste gemütlich unter ihrem Nussbaum liegen und lesen, wie man das im Urlaub eben so machte.

Trotz Krollmanns enttäuschter Miene fragte sie: »Deinen Bericht krieg ich heute noch, oder?«

Augenblicklich fand er seinen gewohnt ironischen Tonfall wieder. »Aber klar doch, ich würde mich sonst geradezu langweilen.«

Lena atmete tief durch. »Gut, ich warte einfach, bis du dich meldest, in Ordnung?«

»Ohne mich zu drängen? Das wäre ja mal was ganz Neues.« Ein typisches Krollmann-Grinsen, halb jungenhaft, halb wehmütig, huschte über sein Gesicht. »Man sieht sich«, grüßte er und stapfte in Richtung Parkplatz davon.

Nach den ersten Schritten drehte er sich um. »Kannst es dir ja noch mal durch den Kopf gehen lassen, mein Angebot steht jedenfalls.«

»Wohl eher nicht«, sagte sie mehr zu sich selbst als zu dem Mann, der nicht wissen konnte, warum sie ihren Arbeitsplatz in Rostock so fluchtartig verlassen hatte. Jeder in ihrer Angersbacher Dienststelle glaubte, sie sei wegen des von der Großmutter geerbten Hauses in ihren Heimatort Raglow zurückgekehrt. Immerhin lag das Dörfchen nur knapp dreißig Kilometer von Angersbach entfernt. Der halbstündige Weg zur Arbeit war geradezu ein Klacks.

Niemand in ihrem neuen Team wusste von Dirk Landgraf, den sie vergessen wollte. Vergessen musste! Sie hatte es einfach nicht mehr ausgehalten, sich mit dem zufriedenzugeben, was neben Beruf und Familie in Dirks Leben für sie übrigblieb. Nach dieser Erfahrung hatte sie die Nase von Männern erst einmal gestrichen voll. Basta!

Lena sah Krollmann zu, wie er seine schwere Tasche ins Auto wuchtete. Ob sie es wollte oder nicht, sie musste zugeben, der Mann konnte sich sehen lassen. Er war sportlich und hatte kein Gramm zu viel auf den Rippen. Die Farbe seiner Haare erinnerte sie an ein reifes Kornfeld. Seine Kleidung, darauf legte er großen Wert, war von guter Qualität, und sie musste bequem sein. Perfekt sitzende Jacketts hatten es ihm angetan, dazu Jeans, teure italienische Schuhe und am liebsten Kaschmirpullover. Seine Art, sich zu kleiden, hatte ihr von Anfang an gefallen. Krollmann bewies Geschmack, was bei Männern nicht unbedingt selbstverständlich war.

Nun allein im halbdunklen Schuppen gestattete sich Lena einen hörbaren Seufzer. Was für ein Tag! Urlaub, Liegestuhl, am Abend ein schönes Glas Rotwein! So hätte es sein sollen. Stattdessen ein Toter mit zerschmettertem Schädel. Schwärzliches Blut, getrocknet in verwittertem Holz. Sie schaute durch den Türspalt und sah Mandy an Krollmanns Cabrio gelehnt mit beiden Händen gestikulieren.

Wieso fährt der Mann nicht einfach los? Was haben die beiden da draußen noch zu bekakeln? Jetzt kicherte Mandy auch noch wie ein alberner Backfisch. Flirtet sie etwa mit ihm? Das sähe ihr ähnlich. Na wenn schon! Was sollte ich dagegen haben? Natürlich nichts. Gar nichts!

Aber das hier war ein Tatort. Sie hatten einen Fall zu lösen. Darauf sollten sich die beiden da draußen besinnen und nicht noch lange herumpalavern.

Endlich heulte der Motor auf und Krollmanns BMW rollte über den holprigen Feldweg. Lena sah Mandy grüßend die Hand heben, dann verebbte das Motorengeräusch in der weiten uckermärkischen Landschaft.

Nur wenige Schritte von Mandy entfernt schwatzten die beiden Männer in Schwarz, jeder mit einer Zigarette in der Hand. Lena sog die Luft tief ein, ihre Rechte fuhr automatisch in das Seitenfach ihrer Umhängetasche, in dem gewöhnlich ihre Zigaretten steckten. Aber nichts! Die letzte halb leere Packung lag zu Hause im Mülleimer. Mist! Nein, gut so! Lena atmete durch die Nase, meinte Rauch in der Kehle zu spüren, und für einen winzigen Augenblick piesackte sie der Gedanke, die Männer in Schwarz um eine Zigarette anzu-schnorren. Was natürlich keine Option war. Diesmal würde sie es schaffen. Und Mandy sollte flirten, mit wem sie wollte, das interessierte sie wie die letzte Wasserstandsmeldung aus der Sahara.

Lena wusste selbst nicht, warum ihr ausgerechnet jetzt die Gespräche mit Krollmanns Sekretärin in den Sinn kamen. Ab und zu setzte sie sich, rein zufällig natürlich, in der Kantine neben Renate Fenske. Die Sekretärin der Gerichtsmedizin plauderte gern. Am liebsten über ihren Chef. Jeder in der Dienststelle wusste, wie verschossen die Arme in ihn war. Über ihn zu reden, war ihr Ersatz für wirkliche Nähe. Sie hatte Lena auch von Krollmanns Frau erzählt, die zwei Jahre nach der Hochzeit an Krebs gestorben war. Seit ihrem Tod lebte er allein in einer geerbten Villa am Stadtrand. Seine Eltern hatte er schon während des Studiums verloren. Die Nachricht von ihrem Unfall erreichte ihn unmittelbar nach einer Prüfung auf dem Weg zurück in seine Studentenbude. Er hatte den nächsten Zug nach Hause genommen und war doch zu spät gekommen.

Verflixt! Warum denke ich jetzt eigentlich an Krollmann?

Sie wollte nicht über ihn nachgrübeln. Sie mochte ihn. Mehr nicht. Fertig!

Draußen vor der Tür traten die Männer in Schwarz ihre Zigaretten aus. Ruckartig stieß Lena die knarrende Tür vollends auf, trat blinzelnd ins Freie hinaus und sah Mandy auf sich zukommen. Auf Zehenspitzen, als würde sie fürs Ballett proben, lief die junge Frau über die Wiese. Bei jedem unbedachten Schritt sanken ihre Absätze tief in den Boden ein. Wann nahm die Frau endlich Vernunft an und kaufte sich praktisches Schuhwerk, wie es jeder vernünftige Mensch trug? Aber nein, Mandy liebte High Heels. Bevor sie Lena erreichte, rief sie betont munter: »Bin gleich da, Chefin.« Ihr von kurzen braunen Locken umrahmtes Gesicht war noch immer auffallend blass. Im selben Moment, in dem ihr der Gedanke durch den Kopf schoss, sprach Lena ihn auch schon aus. »Meine liebe Kollegin, du bist schwanger.«

»Fang du nicht auch noch mit dem Blödsinn an!«

»Wieso auch

»Der Doc hat mir gerade empfohlen, demnächst im Innendienst zu bleiben. Wie kommt ihr bloß alle auf diesen Quatsch?«

»Weil du dir schon den ganzen Morgen die Seele aus dem Leib kotzt.«

»Red mir kein Kind ein, Chefin. Ich muss was Falsches gegessen haben. Und dann noch diese Hitze, die konnte ich noch nie ab.«

»Welche Hitze genau meinst du?« Lena musterte ihre junge Kollegin. In kurzem, knallengem Bleistiftrock und sommerlichem Bla-zer, unter dem sie nur ein dünnes Shirt trug, sah sie eher aus, als würde sie frieren. »Ja, klar, die Hitze ist schuld, und die Erde ist ’ne Scheibe, weiß doch jeder.«

»Hör auf, Lena, wir müssen ins Haus, da drinnen warten sie schon auf uns.« In Mandys piepsiger Stimme schwang ein Anflug von Panik mit.

»Wer wartet wo auf uns?«

Aus ihrer vollgestopften Tasche zog Mandy einen zerknautschten Notizblock und begann, emsig zu blättern. »Ach, hier hab ich’s ja schon!« Triumphierend wedelte sie mit ihrem Block vor Lenas Nase herum. »Aaalso!« Sie kniff die Augen zusammen, weil es ihr schwer-fiel, die eigene Kritzelschrift zu entziffern. »Da wären zunächst einmal die Besitzer des Anwesens, Herr Oberwichtig und Gattin. Wahrscheinlich kennst du die beiden. Du wohnst ja hier im Dorf.«

»Herr Oberwichtig und Gattin? Hört sich nicht gerade nett an, stimmt aber.« Lena überlegte kurz, bevor sie nachschob: »Vor ’nem halben Jahr oder so sind die beiden hergezogen. Seitdem laden sie zu Seminaren und Workshops ein. Und auch Leute, die sich einfach nur erholen wollen. ›Kultur meets Natur‹ lautet ihr Slogan im Internet. Kannst du nachlesen, wenn du Lust hast.«

»Bloß nicht.« Geradezu erschrocken winkte Mandy ab. »Der Hausherr hat mir alles schon haarklein verklickert. Ich kenne jetzt sogar die Preise, die sie nehmen. Aber was ich eigentlich sagen wollte … Die Leute heißen Drescher, Hans und Lilo Drescher. Beide sind pensionierte Lehrer. Sie gibt kaum einen Mucks von sich. Er hört sich gern reden. Und dann hätten wir noch zwei Männer und zwei Frauen, die sich hier zu einer Art Schreibseminar versammelt haben.«

»Davon hab ich gehört.«

»Dachte ich mir schon. Als ich heute früh hier ankam, stand die ganze Truppe vor dem Haus rum. In den Schuppen hat sich keiner mehr getraut. Dann hab ich dich angerufen, weil Freddy, na, das weißt du ja …«

»Schon klar, er hat sich die Haxen gebrochen.« Lena nickte hinüber zum Haus. »Lass uns reingehen, die Herrschaften warten bestimmt nicht gern.«

Es juckte Lena in den Fingern, Mandy den Notizblock aus der Hand zu reißen, die mit gefurchter Stirn ihr Gekritzel entzifferte und erklärte: »In diesem Seminar geht es um Krimis. Wie überaus passend.« Dann endlich stopfte sie ihren Block in die Tasche zurück und setzte sich in Bewegung. Während sie zum rot geklinkerten Wohnhaus hinüberliefen, trugen die Männer in Schwarz den Toten zum Auto.

»Armer Kerl«, murmelte Lena. Sie blieb stehen, um auf Mandy zu warten, die auf dem weichen unebenen Boden Mühe hatte, mit ihr Schritt zu halten.

Angenehme Kühle empfing die Kommissarinnen, als sie in einen langen mit schwarzen und weißen Fliesen schachbrettartig ausgelegten Flur traten. Von den Wänden blätterte gelbgrüne Ölfarbe ab. Und etliche Fliesen waren rissig oder an den Kanten abgestoßen. So ganz fertig sind die neuen Besitzer mit ihren Renovierungsarbeiten wohl doch noch nicht, dachte Lena nach den ersten Schritten auf dem zwar schadhaften, aber blitzsauber geputzten Boden. Sie lauschte kurz, dann steuerte sie auf die Stimmen zu, die aus einem der Zimmer am Ende des Korridors drangen. Wie von Mandy angekündigt waren sechs Menschen im geräumigen Wohnzimmer versammelt, drei Frauen und drei Männer. Der Älteste von ihnen, ein Mann mit dunklem Haarkranz um den kahlen Schädel, schien der Hausherr zu sein. So viele gute Eigenschaften dieser Mann auch haben mochte, Geduld gehörte nicht dazu. Seine Stimme erinnerte Lena an ihren Ausbilder auf dem Sportplatz der Polizeischule.

»Es wurde uns nahegelegt, hier auf Sie zu warten, meine Damen. Uns derart lange festzuhalten, ist völlig inakzeptabel«, polterte er bärbeißig los, als Lena und Mandy ins Zimmer traten. Fahrig an der bordeauxrot gepunkteten Fliege zupfend, die seinen Kragen zierte, funkelte er die Kommissarinnen an. Sein Gesicht nahm die Farbe der roten Pünktchen an, was ihn nicht daran hinderte, weiter auf-zutrumpfen. »So kann man nun wirklich nicht mit uns umspringen, schon gar nicht im eigenen Haus. Vor uns liegt noch jede Menge Arbeit, wie Sie sich wohl denken können.«

Vor uns auch, dachte Lena und sah sich den aufgebrachten Mann genauer an. Zu Blazer, Fliege und weißem Hemd trug er eine schwarze Hose mit exakter Bügelfalte.

Ehe er weiter drauflospoltern konnte, brachte sie ihn mit einem honigsüßen Lächeln aus dem Konzept. »Sicher liegt es auch in Ihrem Interesse, den Todesfall in Ihrem eigenen Haus so schnell wie möglich aufzuklären.«

»Na dann, bitte sehr. Worauf warten Sie noch?«, schnarrte er, noch immer verschnupft. »Sie leiten diese Untersuchung? Frau … äh …?«

»Voßberg. Kriminalhauptkommissarin Lena Voßberg. Meine Kollegin, Kriminalkommissarin Fortunato, kennen Sie ja schon.«

Der Hausherr nickte gnädig.

»Um es kurz zu machen«, fuhr Lena fort, »ist Ihnen gestern etwas aufgefallen, das mit dem Tod dieses Mannes zu tun haben könnte?«

Schweigend sahen die Hobbyautoren auf den mit Papieren beladenen Tisch.

Drescher, jetzt ganz Mann von Welt, deutete eine Verbeugung an. »Vielleicht sollte ich erst einmal alle Anwesenden vorstellen. Wie Sie sicher wissen, gehört dieses Anwesen seit Kurzem mir und meiner lieben Frau Lilo.«

Die liebe Frau Lilo straffte sich, was Drescher ein zufriedenes Lächeln entlockte. Beinahe schon freundlich gab er kund: »Natürlich werden wir uns bemühen, der Polizei zu helfen, soweit es in unseren Kräften steht, Frau Hauptkommissarin Voßberg.« Sein Blick streifte die liebe Frau Lilo, die sich beeilte, eifrig zu nicken.

Nach Lenas Schätzung musste sie um die sechzig sein, schließlich war sie eine pensionierte Lehrerin. Ihr rosiges, geschickt geschminktes Gesicht hatte kaum Falten und das dunkel gefärbte Haar fiel ihr glatt und glänzend über die Schultern. In ihrem eng anliegenden Kleid aus zartem, wahrscheinlich teurem mohnroten Gewebe wirkte sie zierlich, beinahe zerbrechlich. Um den Hals hatte sie einen Schal aus Chiffon geschlungen, in dem sich das Rot der Feldblumen mit allen Farben des Regenbogens traf. Eine schöne Frau, dachte Lena. Nicht einfach nur hübsch, sondern wirklich schön, trotz ihres Alters.

Ihr Mann erwies sich als weitschweifiger Schwätzer, da hatte Mandy nicht übertrieben. Der Herr neben ihm sei Doktor Gordon Bleile, ein in der Münchner Gesellschaft hochgeschätzter Zahnarzt, verkündete er hoheitsvoll. Sogar Spieler des FC Bayern München würden seine Dienste immer wieder gern in Anspruch nehmen. Lena überlegte ein Sekündchen, ob Fußballer tatsächlich zur Crème de la Crème der Gesellschaft gehörten, doch dann fielen ihr die Geschichten in den Klatschblättern und die exorbitanten Gehälter der Spieler ein, und ihr ging auf, dass sie unbedingt zur Spitze der Schickeria zählen mussten.

Sie musterte den zur Fettleibigkeit neigenden Zahnarzt. Nicht nur sein Körper, auch Hände und Füße dieses Mannes hatten XXL-For-mat. Die zahnärztlichen Instrumente mussten sich in seinen Pranken geradezu wie Spielzeug ausnehmen. Wo der zuschlägt, wächst kein Gras mehr, schoss es Lena unwillkürlich durch den Kopf. Dann konzentrierte sie sich wieder auf Dreschers Worte. »Herr Doktor Bleile schreibt an einem sehr lesenswerten Mafiakrimi, der die Historie der Organisation bis zurück ins 19. Jahrhundert beleuchtet«, dozierte er gestelzt.

»Du willst der Polizei doch wohl nicht unsere Texte erklären?«, fiel ihm eine kleine grauhaarige Frau ins Wort. »Und, Hans, mal nebenbei bemerkt, wir sind erwachsen. Wir können uns ganz gut selbst vorstellen.«

Zu Lenas Erstaunen verstummte Drescher augenblicklich. Nur ein kurzes, kaum wahrnehmbares Zucken in seinem Gesicht verriet, wie sehr er sich über die Zurechtweisung ärgerte.

Die schmächtige Frau, die neben dem massigen Zahnarzt beinahe zwergenhaft aussah, lächelte zufrieden. »Also, zunächst einmal, ich bin Theodora Brix aus Frankfurt an der Oder, Studienrätin im Ruhestand. Oberstudienrätin, um exakt zu sein.«

Das verschlug Lena nun doch die Sprache. Eine Studienrätin hatte sie sich anders vorgestellt. Erst recht eine Studienrätin im Ruhestand. Nicht mit untertassengroßen Ringen an den Ohren, die aussahen, als hätte sie einer Schülerin den Schmuck geklaut. Und nicht als Lady in Pink.

Sorgfältig zupfte die alte Lehrerin ihre handgestrickten Stulpen in leuchtender Kleinmädchenfarbe zurecht, bevor sie erklärte, sie sei gerade dabei, ein Buch über mittelalterliche Hexenprozesse in ihrer Heimatregion abzuschließen.

Der gelbzahnige Dentist kicherte. »Unsere Brixi und die Hexen, hi, hi, hi …« Lena kam sich vor wie in einem Schwank auf der Theaterbühne, Ohnsorg in Hamburg oder so. Mit beachtlichen Dezibel in der Stimme fuhr sie dazwischen: »Ich hatte gefragt, ob Ihnen gestern irgendwas aufgefallen ist, das mit dem Todesfall zusammenhängen könnte. Ansonsten fassen Sie sich bitte kurz.«

Drescher nutzte seine Chance, immerhin war er der Hausherr. Als er die neben ihm sitzende brünette Frau kurz und bündig als Marianne Liedel, Bibliothekarin aus Lübeck, vorstellte, glaubte Lena schon, er hätte sie verstanden. Doch seine Einsicht währte nur kurz. Seine Stimme triefte vor Wohlwollen, als er auf einen dicklichen jungen Mann in schwarzem Hoodie wies und erklärte, dieser Herr sei der Berliner Autohändler Udo Wachtel, ein höchst erfolgreicher Unternehmer.

Guter Gott, dachte Lena. Dieser Schwätzer ist einfach nicht zu bremsen. Zu ihrem Erstaunen schien sich der hochgelobte Udo Wachtel bei Dreschers Worten alles andere als wohlzufühlen. Er riss den Kapuzenpullover über den Kopf, als wäre ihm heiß, und strich sich über die gegelten Haare, die ihm ohnehin schon am Kopf klebten. Komischer Typ. Lena bemerkte, dass auch Mandy das Herum-gezappel des jungen Mannes erstaunt verfolgte.

»Müssen wir eigentlich länger hierbleiben?«, wandte er sich plötzlich an Lena. »Ich muss dringend nach Berlin zurück. Wichtige Geschäfte, Sie verstehen? Mit dem Mord haben wir schließlich nichts zu tun.«

»Das wird sich zeigen, Herr Wachtel«, blieb Lena unverbindlich. Ihr war nicht anzusehen, dass sie dachte: Was stimmt nicht mit dir? Was macht dich so nervös? Ich krieg’s raus, verlass dich drauf!

»Weiß man inzwischen, wer der Tote ist?«, platzte der bayrische Zahnarzt in ihre Gedanken. Dabei sah er nicht sie, sondern Mandy an.

»Nein.« Mandy hatte sofort wieder Stift und Block in der Hand. »Seine Identität ist noch ungeklärt. Hätten Sie vielleicht eine Idee, wer er sein könnte?«

Ihr kindliches Stimmchen entlockte dem Hünen ein Lächeln. Er kratzte sich am Kopf und sagte: »Keine Ahnung, wer der Mann war und woher er kam. Schlimm zugerichtet war der Ärmste, ganz furchtbar, mehr weiß ich nicht.«

»Ach, Sie haben ihn gesehen?« Mandy schlug ihren Notizblock auf, hob den Stift und sah den massigen Zahnarzt erwartungsvoll an.

Doch der wandte sich von ihr ab, sein Oberkörper neigte sich Lilo Drescher entgegen. »So hast du es uns doch erzählt, Lilo, oder?«

Die zierliche Lilo zerrte den Schal von den schmalen Schultern und seufzte auf. »Das furchtbare Bild werde ich mein Lebtag nicht mehr los. Ein erschlagener Mann! Ermordet in unserer Mühle.«

»Ein Mord, mit dem wir nicht das Geringste zu tun haben. Wir wollen doch exakt bleiben, meine Liebe«, näselte Drescher ohne allzu viel Verständnis für die Gemütslage seiner zartbesaiteten Gattin. Als er sich in Position warf, als hätte er eine Talkshow fürs Fernsehen zu moderieren, ließ Lena ihn gar nicht erst zu Wort kommen. Mit der flachen Hand hieb sie kräftig auf den Tisch. »Ich frage noch einmal: Hat jemand etwas Außergewöhnliches auf dem Fest beobachtet?« Ein weiterer Hieb. »Oder vielleicht doch eine Idee, wer der Tote gewesen sein könnte?« Dass ausgerechnet die arme Lilo zusammenfuhr, tat Lena zwar leid, ließ sich aber nicht ändern. Sie hatte einen Mord aufzuklären.

Drescher strich das Revers seines Jacketts glatt. Sein verärgerter Blick hätte Lena amüsiert, wäre nicht gerade ein übel zugerichteter Toter aus seiner alten Mühle abtransportiert worden.

»Können Sie sich überhaupt vorstellen, wie viel wir gestern zu tun hatten?«, blaffte Drescher über seine bordeauxrot gepunktete Fliege hinweg. »Wie sollten wir da noch irgendwas beobachten? Schließlich haben meine Gattin und ich das Fest ausgerichtet.«

Ihren Kugelschreiber zwischen Daumen und Zeigefinger zwir-belnd fragte Mandy: »Und zur selben Zeit haben Sie zum Schreibseminar eingeladen? Warum denn das?«

Drescher rückte seine goldumrandete Brille zurecht und sah Mandy an, als verstehe er die Frage nicht. »Beides zu kombinieren, bot sich doch geradezu an, mein liebes Fräulein. So konnten wir unseren Autoren noch einen besonderen Höhepunkt bieten.«

Nun platzte Lena endgültig der Kragen. »Wie Sie sich hoffentlich erinnern, hatten wir uns vorgestellt, Herr Drescher«, fuhr sie den Hausherrn an. »Meine Kollegin ist mitnichten Ihr liebes Fräulein, sondern Kriminalkommissarin Mandy Fortunato.«

»Oh, gewiss doch, gewiss Frau … ähm … wie war noch gleich Ihr Name?«

Ehe Lena antworten konnte, hob Mandy ihren Stift und beschrieb eine bogenförmige Linie entlang der betreten dreinschauenden Autoren. »Mich würde interessieren, wie Ihr Tag gestern abgelaufen ist.«

Die brünette Bibliothekarin tat wenigstens so, als würde sie nachdenken. »Ich weiß nur noch, dass …«

Sie stockte, als sie Dreschers Kopfschütteln bemerkte.

»Nur weiter«, ermunterte Lena. »Sagen Sie einfach, was Ihnen einfällt. Alles könnte wichtig sein und uns helfen.«

Die Bibliothekarin zog die Mundwinkel herunter und die liebe Frau Lilo tarnte ihre Gedanken durch das Inspizieren ihrer mohnro-ten Fingernägel. Der massige Zahnarzt stieß einen missbilligenden Laut aus und sagte: »Kaum zu glauben, was man sich heutzutage alles gefallen lassen muss. Und das von der Staatsmacht, die wir mit unseren Steuergeldern finanzieren.«

Dreschers Lippen verzogen sich zu einem gequälten Lächeln. »Und wenn Sie uns noch so oft fragen, Frau Kommissarin, unser Wohnbereich und die Gästezimmer liegen auf der entgegengesetzten Seite des Hauses. Wir konnten gar nicht mitbekommen, was auf dem Fest passiert ist.«

»Sie waren den ganzen Tag über im Haus? Sagten Sie nicht gerade, Sie hatten auf dem Fest so viel zu tun?«, schnappte Lena.

»Hm, nun ja«, druckste Drescher verlegen herum. »Natürlich hatten wir Helfer aus dem Dorf. Und natürlich haben wir auch auf der Festwiese vorbeigeschaut, wir alle zusammen. Meine Gattin hatte für den Kuchenbasar gebacken. Ihre Baisertorte ist eine gefragte Spezialität, müssen Sie wissen. Ich kann nur wiederholen, die ganze Sache ist eine fürchterliche Tragödie, mit der wir nichts, aber auch gar nichts zu tun haben. Wir haben weder irgendetwas gehört noch gesehen.«

»Was schwer zu glauben ist, denn die ganze Sache, wie Sie es nennen, kann nicht lautlos abgelaufen sein«, versuchte nun auch Mandy, den Mann aus der Reserve zu locken. »Ihre Frau hat ja selbst gesehen, wie übel der Tote zugerichtet worden ist.«

Statt zu antworten, ließ der Hausherr den Blick über die Autoren-runde schweifen. Warnt er sie? Aber wovor?

Die alte Studienrätin ließ sich auch diesmal nicht beeindrucken. Sie beugte sich zu ihm vor und sagte: »Der Mörder wird einer von diesen Suffköppen gewesen sein. Wie schnell so einer ausrastet, war doch nicht zu übersehen.«

Als alle schwiegen, sah sie ihre Schreibkollegen streng an. »Der Bengel muss euch doch auch aufgefallen sein, stinkbesoffen, wie der war.«

Lena entging nicht, dass Drescher die Lübecker Bibliothekarin mit einem warnenden Blick bedachte. Die zuckte kurz mit den Schultern und wehrte ab: »Keine Ahnung, Brixi. Dorffeste sind nicht so meins. Ich bin die meiste Zeit im Haus geblieben und hab geschrieben.«

So viel zuwir alle zusammen‹, dachte Lena, sagte aber nichts. Diese Frau würde sie sich später noch mal allein vorknöpfen.

Mit einer Stimme, die sie der zarten Person nie zugetraut hätte, donnerte die alte Lady in Pink in die Autorenrunde: »Seid ihr denn alle blind und taub? Dieser Typ war doch nicht zu übersehen – und zu überhören schon gar nicht. Dem war doch alles zuzutrauen.«

»Sieh mal einer an, unsere Brixi entpuppt sich als brandenburgische Miss Marple«, schwang sich der massige Zahnarzt zu hämischem Spott auf.

»Solchen Blödsinn muss ich mir nicht sagen lassen«, fauchte das Persönchen dem Hünen ins Gesicht. »Schon gar nicht von einem, der angeblich einen Mafiakrimi schreibt und die Cosa Nostra nicht von der Camorra unterscheiden kann.«

In seiner Autorenehre gekränkt schnappte der Bayer nach Luft.

Hausherr Drescher klopfte ihm jovial auf die Schulter. »Nur nicht einschüchtern lassen, mein Bester.« Süffisant lächelnd wandte er sich an Theodora Brix. »Was sollen wir denn gehört haben, Verehrteste?«

Die Studienrätin überhörte seinen Spott, sie war noch nicht fertig mit dem bayrischen Urgestein. »Sie haben nichts mitgekriegt von der Schlägerei am Nachmittag? Wohl zu tief ins Weißbierglas geguckt, Herr Doktor Bleile?« Ihre mausgrauen Augen funkelten angriffslustig.

Ein unschönes Lächeln entblößte nikotingelbe Zähne. »Ach, so viel Geschiss um gar nichts! Ein Dorfbengel hat einen anderen ab-gewatscht. Na und? Ist doch nicht der Rede wert, so ’ne kleine Rau-ferei gehört zu jedem Dorffest, wenn Sie mich fragen.«

»Ich frage Sie aber nicht, mein lieber Doktor Bleile, und ganz nebenbei, einer der beiden kam nicht aus dem Dorf hier, sondern aus Berlin. Aber so was fällt Ihnen natürlich nicht auf.«

Der Bayer schnaufte, sagte aber nichts mehr.

»Ob Sie es glauben oder nicht, Frau Kommissarin, ich weiß genau, was ich sage«, wandte sich Theodora Brix an Lena. »Ich stand genau neben den beiden, als der Mann einer jungen Frau erzählte, woher er komme.«

»Von welchem Mann und welcher Frau reden Sie überhaupt?«, versuchte Lena, sich zu orientieren.

»Ich meine den, der gestern Prügel einstecken musste.«

»Prügel?« Jetzt hob auch Mandy interessiert den Kopf.

»Ja, eine handfeste Schlägerei war das, so um die Kaffeezeit herum. Einem jungen Mann, ich vermute mal, er kommt aus dieser Gegend, gefiel nicht, dass seine Frau oder Freundin – was weiß ich, was davon zutrifft – auch ein wenig Spaß hatte. Damit meine ich reden und kichern, weiter nichts. Die Kleine hat mit einem attraktiven Blonden geschwatzt. Irgendwann ist er Bier holen gegangen, deshalb stand sie eine Weile allein auf der Wiese herum. Ihr Mann oder Freund, der die beiden beobachtet haben muss, kam sofort angelaufen. Soweit ich das mitbekommen habe, war die Unterhaltung ziemlich einseitig. Dann ist auch schon der Berliner mit dem Bier zurückgekommen. Ehe er ein Wort sagen konnte, hat der andere zugeschlagen. Einfach so. Das gute Bier ist auf der Wiese gelandet und der arme Mann hat heftig geblutet. Sah wirklich nicht gut aus.«

Mandy hob ihren Stift. »Um das jetzt mal zu sortieren. Ein eifersüchtiger Mann aus dieser Gegend hier hat einen Berliner geschlagen. Soweit richtig?«

»Ja, der Bursche hat zugeschlagen und nicht nur einmal.«

»Und niemand hat eingegriffen?«

»Eingegriffen?« Ein verächtliches Lächeln huschte über Theodo-ras Gesicht. »Ich hatte schon Angst, seine Kumpel würden Beifall klatschen, als der junge Rowdy vor sich hin gebrabbelt hat, ein Kobs ließe seine Frau nicht anbaggern.«

»Ein Kobs?«

Lenas ungläubigen Blick wahrnehmend zupfte die pensionierte Lehrerin an ihrem übergroßen Ohrring. »Der Mann war betrunken und schwer zu verstehen, deshalb kann ich nicht alles wiederholen. Aber er hat Kobs gesagt, da bin ich sicher.«

Ein paar Atemzüge lang blieb es still im Raum. Lena musste die Überraschung erst einmal verdauen. Die zweite Spur in ihrem Hirn nahm die nächsten Worte der alten Frau auf: »Dem Berliner ging es ziemlich schnell wieder gut. Ich meine, er fing nicht an, zu torkeln oder so. Nur das viele Blut im Gesicht und auf der Lederjacke, das sah schlimm aus.«

»Was denn für eine Lederjacke?«, fragte Lena gespannt.

Theodora überlegte kurz. »Eine grüne, hat mich irgendwie an Malachit erinnert oder an Förster, so genau weiß ich das nicht mehr. Ich glaube, sie hatte große Taschen und auffällige Schnallen. War sicher mal teuer, aber mein Geschmack wäre das nicht. Auf jeden Fall dürfte sie ruiniert sein.«

Theodora Brix sprach von Peter Kobs und dem Toten im Mühlenschuppen, war Lena jetzt klar. Die pensionierte Lehrerin hatte gesehen, wie Kobs den Mann geschlagen hatte. Nicht gut, aber eine lässliche Sünde verglichen mit einem Mord. Am frühen Nachmittag, so schien es wenigstens, war dem Mann noch nicht allzu viel passiert. Eine aufgerissene Augenbraue vielleicht, die blutete mächtig, heilte aber ziemlich schnell wieder ab. Doch wieso lag der Mann am nächsten Morgen mit eingeschlagenem Schädel vor dem Sägegatter? Lena sah den entsetzlich zugerichteten Toten und das im Holz getrocknete Blut vor sich und hatte plötzlich wieder den süßlichen Geruch in der Nase. Waren die beiden später noch einmal aneinandergeraten? Hatte sich das, was anfangs noch glimpflich ausging, zur Tragödie ausgeweitet? Sie wusste, es konnte durchaus so gewesen sein. Doch alles in ihr sträubte sich dagegen, einen Freund aus Kindertagen, als brutalen Mörder zu sehen. Um so zuzuschlagen, wieder und wieder, musste jemand voller Wut und Hass gewesen sein.

Oder stockbetrunken, vom Alkohol enthemmt?

War es eine Tat im Alkoholrausch?

Ja, Peter Kobs neigte zu unbedachtem Handeln, wie Lena aus Erfahrung wusste. Und er war wahnsinnig eifersüchtig. Hatte er im Suff die Beherrschung verloren? Verwirrt schaute sie sich um. Was hat Mandy gerade gesagt? Wahrscheinlich hatte sie eine Frage gestellt, die niemand beantworten konnte oder wollte.

Lena sah, wie sich ihre Kollegin zu Theodora Brix vorbeugte und fragte: »Den Namen der jungen Frau haben Sie nicht zufällig auf-geschnappt? Können Sie sie wenigstens beschreiben?«

»Den Namen? Nein!« Die alte Lehrerin schüttelte den Kopf. »Beschreiben kann ich sie allerdings recht gut. Schlank, blonder Pferdeschwanz und Pony bis runter zu den Augen. Ein Claudia-Schiffer-Typ, nur jünger, allerhöchstens dreißig, würde ich sagen.«

Mandy kritzelte hastig auf ihrem Block herum. Der Blick, den sie Lena zuwarf, sagte: Na, geht doch, so langsam kommen die Herrschaften in Schwung.

Alle schauten die Frau mit den übergroßen pinkfarbenen Ohrringen an. Alle, bis auf den Hausherrn. Die Handflächen unter dem Kinn aneinandergelegt beäugte er die weißen Stuckrosen an der Zimmerdecke, über die er sich noch nie hatte ärgern müssen. Doch abgesehen von Gattin Lilo schien sich niemand für seine Befindlichkeiten zu interessieren.

Theodora knetete an ihren Ohrläppchen herum. »Diesen Berliner hab ich nach der Schlägerei noch ein paarmal gesehen. Der bärtige Typ am Sägegatter musste ihm haargenau erklären, wie dieses historische Zeug funktioniert.«

Lena bemerkte Dreschers finstere Miene. Sie unterdrückte ein Schmunzeln, als die Studienrätin achselzuckend sagte: »Tut mir leid, Hans, da musst du jetzt durch. Also, wo war ich stehen geblieben? Ach ja, bei den technikverrückten Männern. Ich gebe zu, ich habe die beiden absichtlich belauscht. Nicht, weil ich ahnte, was an diesem Tag noch passieren würde. Nein, nein, kein Gedanke daran. Ich sagte zu mir, ein gewisses technisches Verständnis kann nicht schaden, wenn man historische Bücher schreibt. Das hier ist genau die Art Schneidemühle, die sie in der Zeit genutzt haben, in der meine Geschichte spielt. Nur wurde die Mühle damals noch von Wasser angetrieben. Inzwischen haben sie einen Motor eingebaut. Schade eigentlich.«

Die Frau schweifte ab. Lena dachte an Peter Kobs. Sie musste schnellstens mit ihm reden. Als Mandy sagte: »Danke, Frau Brix, Sie haben uns sehr geholfen«, mischte sie sich ein: »Eine Frage hätte ich noch. Haben Sie den anderen Mann, ich meine den, der zugeschlagen hat, später noch einmal gesehen?«

»Hm!« Die Studienrätin im Ruhestand blinzelte hinter ihren dicken Brillengläsern. »Lassen Sie mich kurz nachdenken. Ja, hab ich, aber nicht mehr lange. Ein Weilchen stand er noch am Bierwagen zwischen den anderen Männern herum. Dann war er verschwunden. Nach Hause gegangen, nehme ich an.« Lena nickte und hoffte sehr, dass die Frau recht hatte mit ihrer Vermutung. In ihrem Kopf spulte sich das Geschehen des vergangenen Tages ab, so wie Theodora Brix es geschildert hatte. Aber was ist danach passiert? So gegen neunzehn Uhr? Zur Zeit des Mordes? Als Peter Kobs hoffentlich längst zu Hause bei seiner Nelly war.

Drescher schwang sich zu einem Lächeln auf. »Ich bitte Sie, Frau Hauptkommissarin, Sie sehen doch, wir helfen Ihnen nach besten Kräften. Und nun, da wir alles beredet haben, gibt es keinen Grund mehr, uns länger zu verhören.«

»Nicht verhören, nur befragen«, versuchte Lena auf seinen versöhnlichen Ton einzugehen. Sie wollte mehr über die Auseinandersetzung zwischen Peter Kobs und dem späteren Opfer erfahren.

Doch Dreschers Lächeln erlosch augenblicklich. Er setzte wieder die verbiesterte Miene auf, die Lena an ihren alten Ausbilder auf dem Sportplatz der Polizeischule erinnerte.

»Was denn noch?«, stöhnte er genervt auf, als die alte Studienrätin die Hand hob und sagte: »Ich überlege gerade …«

»Ja bitte!«, wurde sie von Lena ermuntert.

»Es wird Ihnen nicht gefallen, Frau Kommissarin.«

»Sagen Sie es trotzdem.«

Theodora behielt die Autorenrunde fest im Blick, als wolle sie prüfen, ob die Schulkasse aufmerksam zuhörte, während sie sagte: »Die auswärtigen Festbesucher sind längst wieder zu Hause, und keiner weiß, wer überhaupt hier war. Falls es dieser Kobs nicht gewesen sein sollte, wie kann da noch jemand den Täter finden? Die Stecknadel ist samt Heuhaufen verschwunden, würde ich meinen.«

»Netter Vergleich, Brixi.« Der dicke Zahnarzt feixte hämisch, doch Theodora beachtete ihn nicht. »Wenn dieser Kobs nichts mit dem Mord zu tun hat«, fuhr sie fort, »dann tut er mir wirklich leid, weil für immer was an ihm hängen bleibt. In seiner Haut möchte ich nicht stecken. Der Mord wird nie aufgeklärt und niemand weiß, ob er es nicht doch war.«

»Ach, wie rührend! So viel Mitgefühl für einen Schläger, der womöglich ein Mörder ist.« Der bayrische Felsbrocken hauchte seine Brille an und rieb mit dem teuren Seidenschlips ein wenig darauf herum.

»Ihnen geht das natürlich am Arsch vorbei, Herr Doktor.«

Die frisch geputzte Brille vollführte einen Satz auf der Zahnarztnase, als Bleile boshaft kicherte. »Ist das die Ausdrucksweise einer Studienrätin? Redet man so in Ihren Kreisen?«

Ehe Theodora etwas erwidern konnte, fuhr die Bibliothekarin dazwischen. »Was soll der Streit, ihr beiden? Seht ihr denn nicht, welch großartiges Thema uns gerade in den Schoß fällt? Der Mörder tarnt sich als harmloser Festbesucher und verschwindet so klammheimlich, wie er gekommen ist. Die Autobahn ist nicht weit weg und die Grenze zum Nachbarland gleich vor der Tür. Ideal, wenn man schnell abhauen will.«

»Also wirklich«, zischte Theodora. »Auch wenn ich zugeben muss, dass auf dem Parkplatz tatsächlich Fahrzeuge mit Kennzeichen von wer weiß woher standen.«

Der Mafiakrimis schreibende Zahnarzt sah Lena mitleidig an. »Ich vermute mal, der Mord hat mit der harmlosen Schlägerei am Nachmittag nicht das Geringste zu tun. Hier könnten kriminelle Banden ihre Hand im Spiel haben. Jemand hat den armen Mann hierher gelotst und peng! Aus die Maus! Wäre nicht der einzige Fall von Mordtourismus in unserer verrückten Welt. Das dürfte eine Nummer zu groß für Sie beide sein.«

Mandy wollte auffahren, doch Lena legte ihr beruhigend die Hand auf den Arm.

Theodora Brix, noch immer in ihre Grübeleien vertieft, hob plötzlich den Kopf. Die Lider über ihren mausgrauen Augen flatterten, während sie herausstieß: »Gegen Abend waren Sie eine Weile verschwunden, mein lieber Herr Doktor. Was haben Sie denn die ganze Zeit über getrieben?«

»Woas i g’trieben hab, wollens wissen?« Von der unvermuteten Frage überrumpelt verfiel der Zahnarzt in seinen heimischen Dialekt. »Ihnen bin i doch koa Rechenschaft schuldig. Woas geht Sies oa, wie lang i zum Bierholen brauch?«

»Mich? Gar nichts.« Theodoras Lehrerinnenstimme klang jetzt geradezu lieblich. »Sie scheinen da was zu verwechseln, mein Lieber. Ich bin es nicht, die nach Ihrem Alibi fragt. Das wird die Polizei tun, die zufällig direkt neben Ihnen sitzt.«

»Die Polizei? Mein Alibi?«

Empört schnappte der Mann nach Luft. Auch wenn er aussah, als bekäme er gleich einen Schlaganfall, hatte er sich doch so weit im Griff, dass er wieder Hochdeutsch sprechen konnte. »Wieso brauche ich ein Alibi? Ich hab Bier geholt, weiter nix. Was erzählen Sie hier für ’nen Scheißdreck?«

Theodora lachte herzlich auf. »Oh, oh, diese Ausdrucksweise, mein lieber Herr Doktor. Redet man so in Ihren Kreisen?«

»Sie … Sie … Miss Marple für Arme. Mein Alibi geht niemanden was an, merken Sie sich das!«, keuchte der wütende Bleile.

»Oh doch, die Polizei schon.«

»Die fragt mich aber nicht, weil ich nichts verbrochen habe.«

»Schluss mit dem Komödienstadl! Wir fangen gerade erst an, zu fragen. Aber hier macht das keinen Sinn mehr. Wir werden jetzt mit jedem einzeln sprechen. Wo, bitte, ist das möglich?«, bedrängte Lena den Hausherrn.

Mit einem Gesichtsausdruck, der deutlich machte, wie überflüssig er das alles fand, zeigte Drescher auf die Tür neben dem Nussbaumbuffet. »Dort ist unsere Bibliothek, da könnte es gehen.«

Erstaunlich flink sprang Theodora Brix auf. »Ich hätte sowieso darum gebeten, unter vier … Pardon, unter sechs Augen mit der Polizei sprechen zu dürfen.«

Prüfend warf sie noch einen Blick in die Runde, als wäre sie sich nicht sicher, ob die Klasse in ihrer Abwesenheit auch wirklich brav sein würde. Dann schlüpfte sie noch vor den Kommissarinnen durch die Tür zur Bibliothek.

***

Er war acht Jahre alt, als er sie hörte, nachts in ihrem Schlafzimmer. Auf dem Weg zur Toilette hatte er an der offenen Tür vorbeihuschen wollen, bemüht, keinen Laut zu verursachen, um die Eltern nicht zu wecken. Vorsichtig hatte er einen Fuß vor den anderen gesetzt. Erregte Stimmen ließen ihn stocken.

»Wir müssen es ihm sagen!«, forderte der Vater.

»Warum denn jetzt schon?«, flüsterte die Mutter erschrocken.

»Weil es später noch schwerer wird. Er muss es jetzt erfahren, so klein ist er nicht mehr«, beharrte der Vater.

Sie mussten von schlimmen Dingen sprechen, das Kind hörte die Mutter weinen. Wen die Eltern wohl meinten? Vor wem verbargen sie ein Geheimnis, das die Mutter so traurig machte?

»Unser Junge ist noch so klein, lass uns ein wenig warten«, flehte die Mutter.

Dem Kind gefror das Blut in den Adern. Die Eltern sprachen von ihm! Atemlos lauschte es, doch es blieb still im dunklen Schlafzimmer. Das Kind wagte nicht, sich zu bewegen, da hörte es erneut die Stimme des Vaters: »Na gut«, sagte er deutlich sanfter. »Aber mach mir später keine Vorwürfe. Wir müssen es ihm sagen, bevor es zu spät ist.«

»Ich weiß«, hauchte die Mutter kaum hörbar. »Ich weiß es ja, aber bitte, sag es ihm nicht jetzt schon. Wie soll ein so kleines Kind das verstehen?«

Was denn verstehen? Der Junge lauschte mit angehaltenem Atem, doch vom Vater kam keine Antwort mehr.

Als er Geräusche hörte, die er nicht hören wollte, presste er die Handflächen gegen die Ohren. Frierend stand er vor dem Schlafzimmer der Eltern. Der Kopf schien ihm zu zerspringen. Was konnte er nicht verstehen? Was? Wofür war er noch zu klein? Es musste etwas sehr, sehr Schlimmes sein. Sonst hätte die Mutter nicht geweint. Die Mutter hatte noch nie geweint, nicht seinetwegen.

Der Junge begann, zu zittern. Er konnte sich nicht mehr vom Fleck rühren. Die Füße schienen mit den Dielen verwachsen zu sein. Er ging die wenigen Schritte nicht mehr, die ihn an der offenen Tür vorbei-geführt hätten. Es war auch nicht mehr nötig, denn seine Hose fühlte sich nass an.

Endlich konnte er sich aus der Erstarrung lösen und zurück in sein Zimmer laufen. Hastig zog er die nasse Hose aus, versteckte sie unter dem Bett und krabbelte unter die Decke, die ihm Wärme und Schutz versprach.

Als die Mutter ihren Jungen am Morgen weckte, liebevoll wie immer, glaubte der Achtjährige, alles wäre nur ein schlimmer Traum gewesen. Zum Glück nur ein Traum! Wie gut, dass die Nacht vorüber und die Angst verflogen war. Erleichtert und glücklich erwiderte er die Umarmung der Mutter. Doch dann entdeckte er seine Blöße.

Erschrocken fuhr er zurück und schob die Mutter von sich. Er hatte nicht geträumt in der vergangenen Nacht. Um den Blicken der Mutter zu entgehen, zog er die Bettdecke bis unters Kinn. Er versuchte, sich zu erinnern. Was hatte der Vater so dringend gefordert? »Wir müssen es ihm sagen!« Seine Worte waren deutlich zu verstehen gewesen. Aber was denn sagen? Was stimmte nicht mit ihm, seinem Sohn? Was hatte er Furchtbares getan? Und warum durfte über all das nicht geredet werden? Weil er noch so klein war? Da irrte die Mutter. Er war schon acht Jahre alt!

Das Kind konnte nicht ahnen, dass die Eltern ihm die Wahrheit verschweigen würden, bis es zu spät war.