5. KAPITEL

Seit der Nacht, in der das Kind das Gespräch der Eltern mitangehört hatte, kam es nicht mehr zur Ruhe. Es wusste, irgendetwas stimmte nicht mit ihm. Nur hatte es nicht die geringste Ahnung, was an ihm so falsch sein konnte. Alles Grübeln half nichts. Es kam einfach nicht dahinter. Was hatte es so Furchtbares getan, dass nicht einmal die Eltern mit ihm darüber reden konnten? Was verbargen sie vor ihm? Es musste etwas sehr, sehr Schlimmes sein.

Das Kind begann, die Eltern zu beobachten. Und eines Tages ahnte es, das Geheimnis lag sicher verschlossen, gut verwahrt vor zudringlichen Blicken im Schreibtisch seines Vaters. Warum sonst war der immer – wirklich immer – abgeschlossen?

Dieses mit Intarsien verzierte alte Möbelstück, an dem schon der Großvater gesessen hatte, war für Kinder tabu. Ganz besonders für dieses Kind. Sosehr es sich auch wünschte, zu ergründen, was die Eltern so ängstlich vor ihm versteckten, der alte Schreibtisch hütete das Geheimnis bei Tag und in der Nacht.

Niemals ließ er sich öffnen, ausgenommen in den Stunden, in denen der Vater in seinem Arbeitszimmer saß und schrieb oder in irgendwelchen Unterlagen blätterte. Sobald er aufstand und aus dem Zimmer ging, ließen sich weder Türen noch Schubladen irgendwie bewegen. Das musste einen Grund haben.

Der alte Schreibtisch hütete ein Geheimnis!

Der einzige Schlüssel, den es gab, lag unauffindbar in einem Versteck. Bis zu dem Abend, an dem das Kind das Versteck entdeckte.

***

Noch bevor Lena ihre Jacke in den Schrank gehängt und die Tasche unter den Schreibtisch geschoben hatte, drückte sie die Powertaste ihres Computers. Sobald die Symbole auf dem Bildschirm leuchteten, drehte sie sich zu Mandy um.

»Von Haubi nichts Neues. Ich mach mich jetzt an die Taxibetriebe und du ruf gleich mal Krollmann an. Vielleicht hat er ja schon was für uns.« Sie konzentrierte sich auf den Bildschirm, deshalb sah sie nicht, dass Mandy amüsiert den Mund verzog.

Ihr Gebrummel war nicht zu überhören. »Auch wenn der Doc lange studiert hat, hexen kann er trotzdem nicht, nicht mal für dich, Lena.«

»Versuch’s einfach!«

»Bin schon dabei, Chefin. Meldet sich aber niemand. Der Boss ist noch bei der Arbeit, und die gute Frau Fenske trinkt zu Hause ihr Käffchen. Du weißt, sie arbeitet halbtags.«

»So wird’s sein«, gab Lena sich vorerst zufrieden. Sie wusste, Krollmann würde von selbst anrufen, und Mandys Stichelei war so überflüssig wie der Wurm im Apfel.

Konzentriert scrollte sie durch die Dateien, tippte eine Telefonnummer nach der anderen ein und brachte ihr Anliegen vor. Nichts! Niemand vermisste einen Taxifahrer.

Ohne allzu viel Hoffnung klickte sie auf die Liste der abgängigen Personen.

»Nichts passt«, murmelte sie beim Scrollen vor sich hin. »Entweder sind sie zu alt oder zu jung oder irgendwas anderes stimmt nicht.« Enttäuscht blickte sie vom Bildschirm auf. »Irgendwer muss diesen Berliner doch vermissen.«

»Selbst wenn, so schnell landet man nicht in unseren Dateien«, rief Mandy von ihrem Schreibtisch aus durch die offene Tür. Dann hörte Lena nur noch das leise Klickern der Tasten. Mandy gab Namen und Daten der Männer und Frauen ins System ein, die sie in der alten Mühle angetroffen hatten.

»Ich glaub’s ja nicht!«, jubilierte sie plötzlich.

»Was glaubst du nicht?«

»Komm her und schau selbst, Chefin.«

Lena stand auf, ging zu ihr hinüber, und Mandy fasste zusammen, was sie über die Hobbyschreiber herausgefunden hatte. Der Lübecker Bibliothekarin und dem bayrischen Zahnarzt ließ sich nicht mal ein Pünktchen in Flensburg zuordnen. Auch Lilo Drescher war polizeilich gesehen ein unbeschriebenes Blatt. Ihr Gatte hingegen hatte noch kurz vor seinem Ruhestand eine Strafanzeige hinnehmen müssen. Der Vater einer Schülerin hatte ihn des Mobbings beschuldigt. Drescher habe das Mädchen permanent gedemütigt, hatte der Vater in seiner Anzeige geschrieben. »Mit unglaublich bösartigem Verhalten hat er mein Kind beinahe in den Selbstmord getrieben«, las Mandy aus dem eingescannten Schriftstück vor.

»Oha!«, machte Lena. »Ein wirklich netter Zeitgenosse.«

»Und jetzt kommt der nächste dicke Hund.« Mandy schnalzte mit der Zunge. »Von wegen smarter Geschäftsmann. Udo Wachtel, der angeblich so überaus erfolgreiche Autohändler, ist pleite. Sein schönes Autohaus ist futsch. Es gab sogar ein Gerichtsverfahren. Kunden haben ihm Betrug vorgeworfen. Von nicht koscheren An-und Verkäufen war die Rede und von minderwertigen Ersatzteilen zu überhöhten Preisen bei Reparaturen in der angeschlossenen Werkstatt. Hat alles in der Zeitung gestanden, und das Internet vergisst nichts.«

Verwundert schüttelte Lena den Kopf. »Drescher hat ihn doch so hoch gelobt. Und jetzt sagst du, er ist gar kein Autohändler mehr?«

»Hab ich so nicht gesagt, Chefin. Laut Internet betreibt Wachtel derzeit zusammen mit einem Kompagnon einen Gebrauchtwagenhandel unter freiem Himmel. In einem Gewerbegebiet im Brandenburgischen. Ziemlich dubios der Mann. Aber was heißt das für uns?«

Lena überlegte einen Augenblick, bevor sie sagte: »Punkt 1: Wachtel lügt, Punkt 2: Warum war er so nervös, als wir mit ihm gesprochen haben? Versteckt er mehr vor uns, als sein geschäftliches Scheitern? Punkt 3: Wo war er zur Tatzeit?«

Mandy sprang auf, stöckelte mit ihrem Notizblock zum Flipchart und schrieb auf ein leeres weißes Blatt: Unbekannter Toter/Mann aus Berlin. Sie ließ etwas Platz frei und schrieb den Namen Udo Wachtel, darunter Lenas Auflistung.

Dann blätterte sie in ihrem Block und sagte: »Als wir mit Wachtel allein in Dreschers Bibliothek saßen, hat er behauptet, zur Tatzeit habe er auf der Festwiese sein Bierchen getrunken, und zwar zusammen mit dem bayrischen Zahnarzt.« Mit dem Zeigefinger tippte Mandy auf ihrem Block herum, als wäre die Wahrheit dort in Stein gemeißelt. »Der Mann in der grünen Lederjacke sei ihm nach der Schlägerei nicht mehr unter die Augen gekommen, sagt er.«

»Der Bayer hat Wachtels Angaben nur teilweise bestätigt«, erinnerte sich Lena. »Die beiden saßen tatsächlich zusammen beim Bier, nur konnte sich der Zahnarzt nicht mehr an die genaue Uhrzeit erinnern. Auf jeden Fall war Wachtel bei unserem Besuch sehr beunruhigt.«

»Er hat sich seinen Schreibkollegen als super Geschäftsmann vorgestellt. Seit wir aufgetaucht sind, ahnt er, dass sein Schwindel auffliegt«, mutmaßte Mandy und schrieb Alibi überprüfen! mit einem Ausrufezeichen neben den Namen Udo Wachtel.

Den Namen Peter Kobs ergänzte sie mit den Worten: Mord im alkoholisierten Zustand/Motiv: Eifersucht.

Lena nahm ihr den Stift aus der Hand und malte ein dickes Fragezeichen dahinter. Dann ergänzte sie die Überschrift Unbekannter Toter/Mann aus Berlin mit der Notiz: Papiere, Geld und Kamera verschwunden.

Mit dem Zeigefinger fuhrwerkte Mandy schon wieder in ihren kurzen Locken herum, während sie sagte: »Raubmord war das bestimmt nicht. Da müsste der Mann noch was Wertvolleres bei sich gehabt haben als die Kamera. Und außerdem, Lena, Raubmord geht anders. Diebesgut schnappen und weg. So läuft das. Bei den vielen Schlägen in der Mühle waren Gefühle im Spiel. Wut, Hass, Verzweiflung – alles ist möglich. Ich tippe stark auf Eifersucht.«

Lena schloss für einen Moment die Augen. Sie sah den Toten wieder vor sich liegen. Brutal zugerichtet. Getrocknetes Blut im rissigen Holz. »Was meinst du? Wie ist der Mann von Berlin nach Raglow gekommen?«

»Ist doch egal, Chefin.«

»Ganz und gar nicht. An Feiertagen fährt kein Bus. Der nächste Bahnhof ist vier Kilometer entfernt. Wie ist der Mann also hergekommen? Einen Autoschlüssel hätte Krollmann gefunden.«

»Vielleicht hatte er eine Mitfahrgelegenheit?«

»Möglich, aber dann wäre aufgefallen, dass er nicht mehr da war, falls er auf die gleiche Weise nach Berlin zurückwollte.«

»Hm, Autoschlüssel?« Mandy kaute auf ihrer Unterlippe herum. »Zusammen mit dem anderen Zeug hat den jemand geklaut«, bot sie als plausible Erklärung an.

»Und dann auch gleich noch das Auto?«

»Das passt doch, Chefin. Auch wenn du’s nicht hören willst. Dein Kindergartenfreund ist ausgerastet und hat stinkbesoffen und halb verrückt vor Eifersucht diesen Mann erschlagen. Mit dem geklauten Auto konnte er ruck, zuck über die Grenze verschwinden. Erst als er wieder nüchtern war, ist ihm klar geworden, was er getan hat. Darum lässt er sich hier vorerst nicht blicken. Er wartet ab, was passiert.«

Mandy, die die ganze Zeit am Flipchart gestanden hatte, setzte sich wieder an ihren Schreibtisch, streifte die High Heels von den Füßen und legte die Beine auf die Schreibtischkante. Zog sie aber sofort wieder zurück, denn die Tür ging auf und Konrad Hauben-reißer, der altgediente Kriminaltechniker, kam herein. Eine Plastiktüte schwenkend strahlte er die Frauen an. »Schaut mal, Mädels, was unsere Leute noch gefunden haben. Das Teil lag ein bisschen abseits am Rand der Festwiese.«

Lenas Miene hellte sich auf, als sie sah, was Haubenreißer vor ihren Augen hin und her pendeln ließ. Ihre Stimme übersprang einige Oktaven. »Das Handy des Toten?«, rief sie überrascht aus.

»Oder des Mörders?« Mandy schlüpfte in ihre Schuhe und sah Haubi erwartungsvoll an.

Der korpulente Mann schmunzelte. »Na, nun mal nicht gleich so hochtrabende Wünsche, meine Damen. Aber wer weiß, vielleicht ist das Ding ja wirklich ein Sechser im Lotto. Wir müssen es bloß noch zum Laufen kriegen. Vorerst hat es den Geist aufgegeben.«

»Vielleicht ist nur der Akku leer«, wagte Mandy, vorwitzig zu bemerken.

»Ha!« Er schlug sich an die Stirn. »Lieben Dank auch, Frau Kollegin, da wäre ich nie drauf gekommen.«

»Sei nicht gleich eingeschnappt, Haubi. Wir wissen doch, wie aufgeschmissen wir ohne dich wären«, umgarnte ihn Mandy mit breitem Lächeln.

»Nee, nee, Mädels, trinkt ihr mal schön euren Kaffee, ich mach mich derweil nützlich.« Damit nahm der Kriminaltechniker die Plastiktüte samt Handy wieder von Lenas Schreibtisch.

Doch Mandy gab nicht so schnell auf. »Apropos Kaffee«, gurrte sie. »Was darf ’s denn sein? Espresso, Cappuccino oder Latte?«

Er blieb stehen, unschlüssig, ob er so schnell klein beigeben sollte. Doch wie schon so oft gewann seine Gutmütigkeit die Oberhand. Sein Schmunzeln begann in den Augen und zog sich übers ganze Gesicht.

»Nix von diesem neumodischen Firlefanz. Aber wenn du mich schon so nett einlädst, liebe Mandy, ein solider Kaffee wäre nicht schlecht. Mit Milch und Zucker, wenn’s genehm ist.«

Als er sich ächzend auf einen Stuhl fallen ließ, wölbte sich sein beachtlicher Bauch unter der grauen Strickjacke wie ein zu groß geratener Fußball. Mandy nutzte die Chance, ihm noch ein bisschen um den Bart zu gehen. »Ihr kriegt das Ding ganz sicher wieder zum Laufen, habt doch schon ganz andere Sachen geschafft.« Mit einem Lächeln reichte sie ihm die frisch gefüllte Tasse.

Er trank den ersten Schluck, tat, als bekomme er keine Luft mehr, und schlug sich mit der Rechten an die Brust. »Viel zu stark für meine Pumpe, das Gesöff. Aber göttlich! Nur gut, dass meine Elfi nicht mitkriegt, wie systematisch ich hier vergiftet werde.«

Lena griff zum Telefon. »Ich ruf Krollmann an. Inzwischen wird er ja wohl durch sein.«

Sie wählte. Krollmann meldete sich sofort. »Du hattest versprochen, mich nicht zu drängen. Kannst wohl wieder mal meinen Bericht nicht abwarten, was?«

»Nein, kann ich nicht. Also, was weißt du schon?«

»Bin gerade fertig geworden. Nur ein paar Analysen stehen noch aus. Soll heißen, du kannst meinen Bericht haben. Aber nicht am Telefon. Ich komme rüber zu euch, und zwar gleich.«

Lena nickte Haubi zu. »Kannst sitzen bleiben, der Doc kommt rüber.«

Es dauerte nur wenige Minuten, bis der hochgewachsene Gerichtsmediziner in den Raum gestürmt kam. Er verzog das Gesicht, als er den Blick über die schlaffen Blätter der Zimmerpflanzen auf dem Fensterbrett gleiten ließ.

»Ich hab dir schon x-mal verklickert, dass die Heizungsluft unser Grünzeug killt«, wehrte sich Mandy gegen den unausgesprochenen Vorwurf.

»Klar, ganz besonders im Sommer, wenn die Heizung aus ist, und euer Wasser ist viel zu nass für die Chlorophytum, die anderswo wuchert wie Unkraut.«

Er schob die Ärmel seines roten Kaschmirpullis hoch bis zum Ellenbogen und schlug den Hefter auf, den er unter dem Arm getragen hatte.

»Kein Fachchinesisch, bitte«, protestierte Mandy augenblicklich.

»Keine Angst, das hatte ich nicht vor. Wie ihr ja wisst, waren es viele heftige Schläge auf Kopf und Körper. Ein klarer Fall von Übertötung. Habt ihr die Tatwaffe inzwischen gefunden?« Er sah Haubenreißer an, der stumm den Kopf schüttelte.

Lena wusste, dass es den ehrgeizigen Mann fuchste, das zugeben zu müssen.

»Wie können wir uns das Teil überhaupt vorstellen?« Ihre Frage ließ Krollmann kurz zögern. Mit Daumen und Zeigefinger rieb er sich das Kinn, bevor er sagte: »Es müsste zwei Spitzen haben, eine etwa neun Zentimeter lange und eine etwas kürzere. Und es dürfte nicht breiter als drei Zentimeter sein. Ich hab Rostspuren gefunden, also solltet ihr nach was Metallischem suchen.«

Haubenreißer runzelte die Stirn. »Es gibt doch diesen speziellen Hammer, so einen, wie ihn Zimmerleute benutzen. Meinst du so was in der Art?«

»Super, Haubi!« Krollmann klatschte in die Hände. »Die Verletzungen passen. So ein Hammer könnte es gewesen sein.«

Der Kriminaltechniker sah Lena an, als müsste er sich bei ihr entschuldigen. »So ein Ding ist uns nicht untergekommen, leider. Und wir haben wirklich alles abgesucht.«

Mandy strich ihren kurzen Rock glatt, während sie sagte: »Der Mörder wäre schön blöd, die Tatwaffe einfach liegen zu lassen. Noch dazu mit Eins-a-Fingerabdrücken drauf. Aber …« Sie tippte auf die Plastiktüte mit dem gefundenen Handy. »Damit haben wir hoffentlich mehr Glück.«

»Ja, wenn’s denn mal wieder läuft.« Haubi nahm einen weiteren Schluck aus seiner Tasse und Lena zog die Mappe mit dem Obduktionsbericht zu sich heran. Doch statt sie aufzuschlagen, hob sie die Arme und zog den Haargummi aus ihren Locken. Seidig glänzend fiel ihr fuchsrotes Haar über die Schultern und umrahmte das von Sommersprossen gesprenkelte Gesicht.

Krollmanns Blick huschte zu ihr hinüber, fand ihre smaragdgrünen Augen und erhaschte ein flüchtiges Lächeln.

Mit dem nächsten Wimpernschlag löschte sie den Zauber aus.

»Und? Was hast du sonst noch?«, fragte sie und schlug die Mappe nun wirklich auf.

»Tja, was habe ich sonst noch?« Krollmann tippte auf seinen Bericht. »Wie ihr hier lesen könnt, gab es kaum Abwehrverletzungen. Mindestens acht- bis zehnmal hat der Täter auf ihn eingeschlagen und der Mann hat sich nur ganz am Anfang gewehrt. Dann war er dazu nicht mehr in der Lage.«

Haubi knetete seine Knubbelnase. »Heftige Schläge, sagst du? Dann war es wohl eher keine Frau?«

»Würde ich nicht sagen«, widersprach Krollmann. »Mit ausreichend Adrenalin im Blut ist vieles möglich. Der Täter oder eben auch die Täterin merkt gar nicht, wie hart er – oder sie – zuschlägt. Auf jeden Fall ist er oder sie nicht kleiner als eins fünfundsiebzig.«

»Unglaublich, so ein Blutrausch«, murmelte Haubi, dem selbst lange Berufsjahre die Empathie nicht nehmen konnten.

Lena gönnte ihm ein aufmunterndes Lächeln. »Du bist zu gut für diese Welt. Darum weißt du auch nicht, wozu Frauen fähig sind, wenn sie in Wut geraten.«

»Das weiß ein alter Hase wie ich besser als jeder andere.« Ein Anflug von Ärger färbte sein faltiges Gesicht. »Trotzdem würde ich eher nach einem Mann suchen. Aber, na ja, den Täter oder meinetwegen auch die Täterin müsst sowieso ihr finden. Nicht ich.«

»Vielleicht kennen wir den ja schon«, platzte Mandy heraus.

»Ihr kennt den Täter?« Haubi starrte sie mit offenem Mund an. »Kannst du das noch mal sagen?«

Ihrer unbedachten Äußerung wegen in der Zwickmühle verzog Mandy das Gesicht. Ehe ihr eine passende Antwort einfiel, fuhr Lena dazwischen: »Abgesehen von Vermutungen haben wir rein gar nichts. Jedenfalls keinerlei Beweise. Das gilt sowohl für den Täter als auch für das Motiv.«

Verwundert sah Krollmann von Lena zu Mandy, dann schüttelte er unwillig den Kopf. »Lasst mich ausreden, dann könnt ihr streiten, so viel ihr wollt. Auf jeden Fall ist der Mann dort gestorben, wo er gefunden wurde. Also Tatort gleich Fundort. Ihr habt das viele Blut ja selbst gesehen. Ansonsten? Keine Drogen, null Alkohol. Bis gestern Abend war der Mann kerngesund und in bester Verfassung. Ein ausgesprochen sportlicher Bursche. Vermutlich hätte er hundert Jahre alt werden können, topfit wie er war.«

Froh, fürs Erste aus der Schusslinie zu sein, erkundigte sich Mandy: »Und der Todeszeitpunkt? Bleibt es bei neunzehn Uhr?«

Krollmann nickte. »Ja, bleibt es. Plus, minus, so wie immer.«

»Bis zum Glockenschlag abends um sechs war der Mann noch mit Wiesner zusammen, Lenas Ortsbürgermeister. Aber was ist danach passiert? Hat er im Mühlenschuppen auf jemanden gewartet? Vielleicht auf die hübsche Nelly Kobs?« Nicht nur ihre Worte, auch Mandys Blick forderte Lenas Widerspruch geradezu heraus. Doch die fasste nur den fuchsroten Haarschopf am Hinterkopf zusammen, drehte einen Knoten und ließ ihn wieder fallen, was sie oft tat, wenn sie grübelte.

»Eigentlich bin ich mir sicher, dass es so war«, wagte Mandy sich weiter vor.

Krollmann schüttelte irritiert den Kopf und sagte: »Da ist übrigens noch etwas, das euch interessieren dürfte. Ich habe die DNA einer zweiten Person gefunden. Und zwar innen in seiner Lederjacke, dort, wo gewöhnlich die Brieftasche steckt. In der Tasche war nichts mehr drin, aber mir ist dieser kleine Blutfleck aufgefallen. Ich weiß auch nicht, warum ich den bei all dem vielen Blut am Tatort noch mal extra analysiert habe. Kurz gesagt – dieser Blutfleck stammt nicht von dem Toten.«

Smaragdgrüne Augen funkelten ihn verärgert an. »Und das sagst du uns erst jetzt?«

»Du solltest dich lieber über meinen siebten Sinn freuen, statt mich zu beschimpfen.«

»Ich beschimpfe dich nicht. Ich frag mich nur, wo der Fleck herkommt.«

»Gute Frage, Lena. Bringt mir eine Vergleichsprobe und ihr habt euren Mörder. Es sei denn, einer hat zugeschlagen und ein anderer die Brieftasche geklaut.«

Angesichts der neuen Sachlage alle Vorsicht vergessend rief Mandy spontan aus: »Aber klar doch! Deine Probe kriegst du. Die Fahndung geht sofort raus.«

»Wie, Fahndung?« Verblüfft sah Krollmann zu Lena hinüber. »Wer ist denn der Glückliche?«

»Wir suchen einen Mann aus dem Dorf, einen Festbesucher mit ziemlich viel Promille im Blut. Ob er was mit deinem Blutfleck zu tun hat und ob wir nach ihm fahnden, wird sich zeigen. Vielleicht ist er ja schon längst wieder zu Hause.« Lena merkte selbst, wie ausweichend ihre Antwort klang.

Mandy gönnte sich ein kurzes zufriedenes Lächeln. Dann schlug sie die Beine übereinander, zog den hochgerutschten Rock einen halben Zentimeter in Richtung Knie und präzisierte: »Wir fahnden nach einem Kindergartenfreund von Lena.«

»Oha!« Mehr fiel dem verblüfften Krollmann nicht ein.

Mandy strahlte ihn an. Seit er den Blutfleck erwähnt hatte, war sie sich ihrer Sache vollends sicher: Sobald sie Kobs aufgestöbert hatten, hatten sie auch den Täter. Da konnte die Chefin noch so viele Fragezeichen aufs Flipchart malen. Ändern ließ sich daran nichts. Genau das wollte sie Krollmann auch sagen. Konnte sie aber nicht. Sie konnte nur aufspringen, die Hand vor den Mund pressen und aus dem Raum flitzen.

»Mein Magen. Ich muss was Falsches gegessen haben«, klagte sie, als sie mit kalkgrauem Gesicht zurückkam. »Stundenlang war’s gut und jetzt geht das wieder los.«

Haubi nickte verständnisvoll. »So fing es bei meiner Elfi auch an.«

»In meinem Medikamentenschrank findet sich bestimmt was Passendes für deinen Magen«, bot Krollmann an. »Ich kann ja mal nachsehen.«

»Bloß nicht, von deinen Patienten hört man nichts Gutes«, presste Mandy mühsam heraus.

Haubi ließ ein meckerndes Lachen hören. »Dann bleib mal schön bei Kamillentee und Zwieback, hilft ja vielleicht auch.«

Krollmann hob nur die Schultern ein wenig an. Sein Blick suchte erneut Lenas Augen. Doch sie wich ihm aus. »Wir sind durch, wie? Oder ist noch was?«, fertigte sie ihn kurz ab.

»Im Augenblick fällt mir nichts ein.«

»Dann vergiss nicht, gleich anzurufen, wenn sich was Neues ergibt.« »Hab ich dich je vergessen?«

Lena gab keine Antwort. Sie sah Haubi nach, der zusammen mit Krollmann aufgestanden war und leicht gebeugt durch den Raum schlurfte. Bevor er die Tür erreichte, schoss ein zierliches Persön-chen an ihm vorbei, orientierte sich kurz im Raum und stoppte vor Lenas Schreibtisch. Mit einem Gesicht in der Farbe reifer Hagebutten schnaufte ein beleibter Wachmann hinter ihr her. Sein Atem ging stoßweise.

»’tschuldigung, Frau Hauptkommissarin, ich wollte die Person … äh … die Frau anmelden. Ist mir einfach so durchgeflutscht … diese, diese …«

»Schon gut, Herr Klinger«, beruhigte ihn Lena, die das Persön-chen augenblicklich erkannt hatte. Er stieß noch ein letztes gehetztes »Pffpff« aus, warf einen giftigen Blick auf die ebenfalls außer Atem geratene Frau und trottete zurück zur Tür.

Der Wettlauf mit Wachmann Klinger hatte das graue Haar der alten Studienrätin wirr zerzaust. Sie strich kurz drüber weg und sagte: »Sie wissen doch bestimmt noch nicht, wer der Tote ist, habe ich recht?«

Verblüfft sah Lena die zierliche Frau an. »Wissen Sie es denn, Frau Brix?«

»Nun ja, was heißt schon wissen? Ich sollte ihn mir vielleicht kurz mal anschauen.«

»Nicht Ihr Ernst, oder?«

»Warum denn nicht? Ist das nicht sogar Vorschrift? So eine Identifizierung, meine ich.«

»Sie kannten den Mann doch gar nicht.«

»Stimmt. Aber ich könnte Ihnen sagen, ob es wirklich der Mann ist, mit dem sich dieser Kobs am Nachmittag geprügelt hat.«

»Das wissen wir bereits.«

»Ach wirklich?« Die pensionierte Studienrätin wirkte enttäuscht.

»Danke trotzdem, Frau Brix.« Lena streckte die Hand aus, um die Frau hinauszukomplimentieren. Doch statt der unmissverständlichen Aufforderung Folge zu leisten, zupfte sich die alte Lehrerin am Ohr und meinte: »Nach der Schlägerei sah der Mann zum Fürchten aus mit all dem Blut im Gesicht. Zum Glück ist dann dieser Arzt gekommen.«

»Was denn für ein Arzt?«, rief Mandy von ihrem Schreibtisch aus durch die offene Tür. Sie stand auf, kam zu Lena ins Zimmer geschlendert und wiederholte: »Was denn für ein Arzt?«

»Hatte ich das nicht erwähnt?« Welch Wunder! Für einen Augenblick schien die einstige Lehrerin tatsächlich verlegen zu sein. Dann winkte sie lässig ab. »Ist nicht weiter wichtig. Er war ja nur zufällig da, und hätte die alte Dame ihn nicht so sehr bedrängt, wäre der junge Schnösel einfach an dem armen Mann vorbeistolziert. Und so was nennt sich Arzt!« Die mausgrauen Augen funkelten empört.

Lena wies auf den Stuhl vor ihrem Schreibtisch. »Jetzt mal schön der Reihe nach, Frau Brix. Was war mit diesem Arzt?«

Theodoras Rechte fuhr wieder zum Ohr. Eine Weile grübelte sie schweigend vor sich hin. Dann nickte sie. »Alles war eigentlich schon vorbei, da kam dieses Auto angefahren, so ein großes silbergraues. Mitten auf die Festwiese ist es gerollt. So eine Frechheit, dachte ich noch. Wieso kann der Mensch nicht vorn an der Straße parken, so wie alle anderen auch? Aber dann ist diese Frau ausgestiegen, eine richtige Dame, perfekt gekleidet, gut frisiert, alte Schule eben. So ein Perlenketten-und-Seidenblusentyp, wie aus ’nem alten Film. Sie konnte nur an Krücken gehen. Gehhilfen, so sagt man wohl korrekterweise, aber egal, die Frau war jedenfalls ziemlich schlecht dran. Ihr gegenüber verhielt sich der junge Bursche sehr fürsorglich, das muss ich schon zugeben. Er hat sie zu einem Tisch geführt, an dem schon andere Frauen bei Kaffee und Kuchen saßen. Ein kleines Stück davon entfernt stand der Mann, der jetzt tot ist. Er muss schon versucht haben, sich das Blut aus dem Gesicht und von der Jacke zu reiben, sah aber noch schlimm aus. Als ihn die alte Dame sah, rief sie ihren Sohn zurück, der schon beinahe wieder an seinem Auto war. Zwar stand ich zu weit weg, um zu verstehen, was sie sagten, aber ich konnte sehen, wie wenig begeistert er war. Nur seiner Mutter zuliebe hat er den armen Mann zu seinem schicken Auto mitgenommen, ihm das Gesicht gereinigt und ein Pflaster auf die Stirn geklebt. Das war’s dann aber auch schon. Dieser Schnösel von Arzt ist gleich wieder abgerauscht. Er hatte dieses Zeichen mit der Äskulapnatter an der Frontscheibe, darum denke ich, er war Arzt.«

»Haben Sie sich vielleicht auch das Kennzeichen gemerkt?«, fragte Mandy höchst interessiert.

»Leider nicht!« Grasgrüne Ohrringe schaukelten, als Theodora Brix bedauernd den Kopf schüttelte. »Ich ahnte ja nicht, dass es wichtig sein könnte.«

»Wir brauchen kein Kennzeichen.« Lena lächelte der alten Studienrätin zu. »Das dürfte Jens Thiel gewesen sein, unser neuer Landarzt. Seine Mutter läuft seit Wochen an Krücken herum. Pardon, an Gehhilfen, wollte ich natürlich sagen. OP an der Hüfte. Heilt alles nicht so, wie es sollte, erzählen die Leute im Dorf.«

»Richtig!«, lobte Theodora mit erhobenem Zeigefinger, was sich bei ihr anhörte wie: Eins! Setzen! »Die alte Dame hat ›Jens‹ gerufen, da bin ich mir sicher.«

»Gut beobachtet, Frau Brix, damit haben Sie uns wirklich geholfen«, bedankte sich Lena, obwohl sie noch nicht wusste, wie die kleine Episode für ihre Ermittlungen von Nutzen sein könnte. Thiel hatte diesem Mann ein Pflaster auf die Stirn geklebt. Na und? Von der eigentlichen Tat konnte er nichts mitbekommen haben. Und gekannt hatte er den Mann auch nicht, sonst hätte seine Mutter ihn nicht nötigen müssen, ihn zu verarzten. Trotzdem würde sie mit Thiel reden. Manchmal half das kleinste Detail weiter.

Während Lena noch über das Geschehen auf dem Festplatz nachdachte, bot Theodora an: »Ich könnte Ihnen noch viel mehr helfen, Frau Voßberg. Ich weiß doch, wie überlastet die Polizei heutzutage ist. Sie könnten mich zum Beispiel bitten, mich im Dorf umzu-hören. Ich bin nicht so unerfahren, wie Sie meinen. Mein Ehemann, müssen Sie wissen, war Kriminalhauptkommissar, genau wie Sie. Bei mir zu Hause konnte er sich von der Seele reden, womit er nur schwer fertig geworden ist. Besonders wenn es um Kinder ging, konnte er Brutalität nicht mehr ertragen. Irgendwann fing er an zu trinken. Und dann …« Theodora sah auf ihre von unzähligen braunen Flecken übersäten Hände. »Dann ist er einen Monat vor der Pensionierung gestorben.« Mit einer verstohlenen Bewegung fuhr sie sich über die Augen. Bevor jemand ein Wort sagen konnte, stand sie vom Stuhl auf. »Jetzt muss ich aber wirklich. Ich brauche Zeit zum Nachdenken. Über den Mord. Auf jeden Fall bleibe ich im Dorf, bis Sie rausgefunden haben, was in der alten Mühle passiert ist.«

»Das können Sie auch in der Zeitung lesen«, platzte Mandy auf ihre unbedachte Art heraus.

Theodora zog die Brauen hoch und bedachte Mandy mit einem Was-war-denn-das-jetzt-Blick. Das gleich darauffolgende Lächeln schenkte sie Lena. »Sie wissen, wo Sie mich finden. Wann immer Sie mich brauchen, ich helfe gern.«

Mandy verdrehte die Augen, und Lena gab ihr insgeheim recht. Sie konnte sich nicht vorstellen, dass ausgerechnet diese seltsame Studienrätin ihrem Fall die entscheidende Wendung geben würde.

***

»Lass uns Schluss machen für heute«, schlug Lena vor, als Theodora Brix die Tür hinter sich geschlossen hatte. Ohne auf eine Antwort zu warten, schaltete sie ihren Computer aus und sah hinüber zu Mandy.

»Gute Idee, war ein langer Tag.« Mandy rieb sich die Magengegend. »Mir ist schon flau vor lauter Hunger, wir sollten irgendwo noch ’nen Happen essen.«

»Dir ist schon den ganzen Tag flau. Hör lieber auf Haubi und bleib bei Tee und Zwieback.«

»Blödsinn. Mir geht es bestens, und ich habe echt Hunger.«

»Okay, aber beklag dich nicht, wenn dir wieder schlecht wird.« Lena streifte ihre geliebte graue Lederjacke vom Bügel, schlüpfte hinein und hielt inne, als das Telefon auf ihrem Schreibtisch klingelte. Sie nahm ab und hörte die vertraute Stimme von Max Lüders. Wegen des Motorengeräuschs im Hintergrund war er nur schwer zu verstehen, aber das schien den Bruder der Raglower Wirtin nicht zu kümmern. Stefanie habe ihn bedrängt, noch einmal mit ihr zu reden, sagte er in das Brummen hinein. Doch er müsse dringend hoch zur Ostsee, darum könne er nur anrufen.

Lena aktivierte den Lautsprecher, denn Mandy hatte sich samt großer Umhängetasche, in der sie schon wieder kramte, vor ihrem Schreibtisch postiert.

Ihm sei eingefallen, dass er diesen Fremden, mit dem sein Freund Peter aneinandergeraten sei, später noch einmal gesehen habe, und zwar im Gespräch mit einem Festbesucher, erklärte Lüders. Anfangs hätten die Männer noch friedlich ihr Bierchen miteinander getrunken. Doch dann habe es so ausgesehen, als würden sie streiten.

Der zweite Mann habe mit dem Rücken zu ihm gestanden, darum könne er nur sagen, er sei mittelgroß und dicklich gewesen. Den Bewegungen nach eher jung als alt. Dunkles Haar und – ach ja – einen schwarzen Kapuzenpulli habe er angehabt. Das sei aber nun wirklich alles, woran er sich erinnere, beendete Lüders das Gespräch.

»Kobs!«, entfuhr es Mandy, als Lena aufgelegt hatte. »Das hört sich ganz nach Peter Kobs an. Vielleicht wollte er sich sogar bei dem Mann entschuldigen, und das ging gründlich schief.«

Lena schüttelte die rote Lockenmähne. »Wie kommst du auf Kobs? Du kennst ihn doch gar nicht. Peter Kobs ist schlank und nicht dicklich. Denk nach, Mandy, seinen besten Freund hätte Lüders sofort erkannt und uns bestimmt nicht angerufen. Fällt dir nichts auf? Dunkles Haar, schwarzer Kapuzenpulli? Wachtel! Unser nervöser Autohändler ohne Autohaus. Er könnte der Mann sein, den Lüders gesehen hat.«

Noch immer in ihrer Beuteltasche aus weichem Leder kramend, ließ Mandy sich auf den Stuhl vor Lenas Schreibtisch fallen.

Lena ahnte, wonach sie suchte. Zwischen all dem Krimskrams, den sie ständig mit sich herumschleppte, konnte sie wieder mal ihre Autoschlüssel nicht finden. Typisch Mandy.

»Ich denke, Lüders hat überhaupt niemanden gesehen«, entlud sich Mandys Frust. »Er will nur von seinem Freund ablenken, darum beschreibt er uns den falschen Mann.«

Ärgerlich schob Lena die Brauen zusammen. »Du hast dich auf Kobs eingeschossen, wie? Aber jetzt machen wir wirklich Schluss für heute. Es ist spät, und wenn du unbedingt willst, gehen wir noch irgendwo ’nen Happen essen, okay?«

Sofort sprang Mandy von ihrem Stuhl auf. Der endlich gefundene Schlüsselbund klapperte in ihrer Hand. »Dann nichts wie los, Chefin.«

Auf dem Weg zum Parkplatz ließ Lena sich das eben geführte Telefonat noch einmal durch den Kopf gehen. Wenn Max Lüders den Autohändler als den Mann identifizierte, der mit dem späteren Opfer Bier getrunken und anschließend gestritten hatte, wären sie vielleicht schon ein gutes Stück weiter.

***

Wider jegliche Vernunft hatte Mandy in einem Fast-Food-Restau-rant einen doppelten Burger verschlungen und dazu ein großes Glas Cola getrunken.

»Tut mir leid, dass ausgerechnet dein Kobs meine Nummer eins ist«, hatte sie mit vollem Mund herausgenuschelt, als sie im gut gefüllten Restaurant vor ihren Plastiktabletts saßen. »Aber vielleicht irre ich mich ja auch, könnte schon sein.«

Mandys Worte noch im Ohr stieg Lena nach dem Essen in ihren Mini, den sie am späten Nachmittag aus der Angersbacher Werkstatt geholt hatte. Es dunkelte bereits, als sie auf der B 2, eine der ältesten Bundesstraßen Deutschlands, aus der Stadt herausfuhr. Lena liebte das lichtdurchflutete Gewölbe, das Laubbäume kilometerweit über die alte Straße breiteten. Selbst im Winter, wenn reifüberzogene Zweige in der Sonne glitzerten, genoss sie den Anblick, den die Natur ihr bot. Jetzt, in zunehmender Dunkelheit, erhoben sich die Baumkronen sepiafarben entlang der Fahrbahn.

Luftiger Mischwald, eine kleine uckermärkische Ortschaft, in der warmes Licht aus den Fenstern fiel, dann schlängelte sich die Bundesstraße wieder durch die hügelige uckermärkische Landschaft mit ausgedehnten Feldern und Weiden. Ein letzter Abzweig scharf links, zwei Kurven hügelabwärts und Lena fuhr in Raglow ein. Hier, in dieser 200-Seelen-Gemeinde mit Gasthof, Feuerwehrhaus und winziger Kirche, war sie aufgewachsen. Neuerdings gab es in Raglow sogar einen Reiterhof und eine Pension. Die Uckermark wurde als Ausflugsort immer beliebter.

Am Ende der Dorfstraße angekommen zirkelte Lena ihren Mini über die geschwungene Auffahrt ihres von der Großmutter geerbten Grundstücks und trat erschrocken auf die Bremse. Die Scheinwerfer ihres Autos umfassten die Umrisse einer Gestalt. Eigentlich hätte sie gewarnt sein müssen. Herr Minka, ihr dicker Kater, kam nicht angelaufen, um vor der Haustür auf seine abendliche Mahlzeit zu warten. Aber wer zum Teufel saß an seiner Stelle so spät noch auf der Treppe vor ihrem Haus?

Lena zog den Zündschlüssel ab. Die Scheinwerfer erloschen. Die Gestalt stand auf und kam auf sie zu. Instinktiv fasste sie nach der Waffe an ihrem Gürtel und griff ins Leere. Ihre SIG Sauer P228 lag sicher und trocken im Waffenschrank der Dienststelle. Einen Augenblick blieb sie reglos sitzen und starrte auf den Unbekannten, der bedrohlich näher kam. Langsam, Schritt für Schritt. Erst als er sich zum Seitenfenster herunterbeugte und mit den Fingerknöcheln an die Scheibe klopfte, erkannte sie ihn.

Ihr Ausruf klang ebenso erleichtert wie verblüfft. »Dirk, du? Was machst du denn hier?«

Sie stieg aus und stand vor Dirk Landgraf, den sie vergessen wollte. Den sie vergessen musste! Sie sah in sein Gesicht, kantig, ein wenig herb und atmete den vertrauten Duft ein.

Für einen Moment standen sie einfach nur da und sahen sich an. Dann zog er sie an sich und küsste sie. Sie erlaubte sich einen winzigen Augenblick in seinen Armen, einen Hauch Glücksgefühl.

»Was machst du denn hier?«, wiederholte sie einen Atemzug später und schob ihn von sich.

Sanft strich er ihr übers Haar. »Du kannst nicht einfach so vor mir weglaufen und dich in dieser Einöde verkriechen.«

»Ich verkrieche mich nicht, ich arbeite hier, und ich wohne hier, wie du sehr wohl weißt.«

»Du hättest die Hütte verkaufen und bei mir bleiben können.«

»Bei dir? So wie du bei deiner Frau bleibst? Meinst du das?«

Er versuchte erneut, sie zu umarmen, erhaschte, weil sie einen Schritt zurücktrat, nur ihre Hand und hielt sie fest. »Ich warte schon eine geschlagene Stunde auf dich, Lena. Deine Treppe, muss ich sagen, ist nicht sonderlich bequem.«

»Das hat auch keiner behauptet. Und eingeladen hat dich auch niemand!«

»Ich musste einfach kommen. Ich halt’s nicht mehr aus ohne dich.«

»Klingt, als hätte ich das schon mal gehört. Du hältst es auch ohne deine Frau nicht aus und nicht ohne deine Kinder. Das hatten wir doch geklärt, Dirk Landgraf.« Sie trat hastig einen weiteren Schritt zurück, stieß gegen die offene Autotür und wäre hingefallen, hätte er sie nicht aufgefangen. Er hielt sie fest in seinen Armen, so fest, dass er ihren Herzschlag spüren musste. Heiser vor Erregung flüstert er: »Du hattest das geklärt, Lena Voßberg, nicht ich. Ich komm nicht klar damit, dass du einfach so aus meinem Leben verschwunden bist. Ich schaff’s einfach nicht.«

Seine Stimme streichelte ihre Seele. In der Vertrautheit, die sie in seinen Armen empfand, geriet ihre Abwehr ins Wanken. Eng aneinandergeschmiegt standen sie in der Dunkelheit. Über ihnen unzählige Sterne, die hell leuchteten in der Abgeschiedenheit ohne die gleißenden Lichter einer Stadt. Er hielt noch immer ihre Hand, strich damit über sein kratziges Kinn und sagte: »Wir sollten ins Haus gehen, Lena. Oder wollen wir die Nacht hier draußen verbringen?«

Die Nacht verbringen? Lass ihn nicht ins Haus, mahnte ihr Verstand. Steig in dein Auto, Dirk Landgraf, und verschwinde, hämmerte der klägliche Rest von Vernunft in ihrem Kopf, den das neu auf-brandende Gefühl noch nicht fortgespült hatte.

Sie wusste, wenn sie ihn jetzt mit ins Haus nahm, würde alles wieder von vorn beginnen. Das endlose Warten, das demütigende Gefühl, sich mit dem zufriedengeben zu müssen, das neben Familie und Job in Dirks Leben für sie übrig blieb. Gestohlene Zeit, gestohlene Liebe, vor aller Welt sorgfältig verborgen.

Länger als nötig kramte Lena in ihrer Tasche nach dem Haustürschlüssel. Verschwinde, Dirk Landgraf, hau einfach ab! Sie sprach die Worte nicht aus. Sie fand ihren Schlüssel und öffnete die Tür.