6. KAPITEL

Oft schon hatte das Kind sich gewünscht, es hätte das nächtliche Gespräch der Eltern nie mitangehört. Vieles war anders geworden seit jener Nacht. Es fühlte sich gut an, umsorgt zu sein, und es fühlte sich falsch an. Eine nie gekannte quälende Angst warf ihren Schatten über alles, worüber es sich hätte freuen können. Nichts war so, wie es zu sein schien.

Was stimmte nicht mit ihm? Wann würden die Eltern es ihm endlich sagen?

Das Kind fürchtete immer, den Vater zu enttäuschen. Kam es, was selten geschah, nicht mit hervorragenden Noten aus der Schule nach Hause, dachte er sich zusätzliche Aufgaben aus. Das war nicht weiter schlimm, das Lernen fiel dem Kind leicht. Es machte ihm sogar Spaß.

Sich in der Schule so zu betragen, wie Eltern und Lehrer es wollten, war schon eine andere Sache. Aus irgendwelchen für das Kind unerfindlichen Gründen gab es immer wieder Klagen. Mal brachte es einen Eintrag mit nach Hause, mal wurden die Eltern zum Gespräch geladen. Den Vater machte das wütend. Die Mutter zerzauste ihm das Haar und sagte liebevoll: »Du bist ein Zappelphilipp. Das können manche Leute eben nicht verstehen.« Sie schien nichts Schlimmes daran zu finden.

»Hyperaktiv«, so nannten es die Lehrer. Der Vater sprach vom ADHS-Syndrom. Seltsame Worte. Das Kind verstand sie nicht. Es wusste nur, wer so etwas hatte, konnte kein normales Kind sein. Das Schlimmste aber ahnten weder die Lehrer noch der Vater.

Seit der Nacht, in der es die Eltern zufällig im Schlafzimmer belauscht hatte, erwachte das Kind immer wieder in der Dunkelheit, und sein Schlafanzug fühlte sich nass an. Es versteckte die Hose nicht mehr tief unten im Wäschekorb. Die Mutter würde sie sowieso finden. Sie hatte sie immer gefunden. Doch sie erzählte dem Vater niemals davon. Auch mit dem Kind sprach sie nach ersten Ermahnungen nicht mehr darüber. Sie schob eine Gummimatte unter sein Bettlaken und stopfte die Wäsche in die Maschine, ohne ein Wort darüber zu verlieren. Wahrscheinlich hoffte sie, irgendwann würde sich dieses Problem von selbst erledigen. Wenigstens damit sollte sie recht behalten.

***

Peters Kundenliste im Handschuhfach hatte Nelly am Nachmittag den weißen Sprinter vom Hof gefahren. Auf der Autobahn kam sie zügig voran. In Berlin hatte sie Mühe, sich durch den dichten Großstadtverkehr zu schlängeln. Immerhin schaffte sie es, alle Kunden halbwegs pünktlich zu beliefern.

Als sie gegen 22 Uhr müde und hungrig von ihrer Tour zurück-kam, stand das Tor der Gärtnerei sperrangelweit auf. Seltsam. Kalle vergaß nie, abends das Tor zu schließen. Nelly fuhr ums Haus herum, entdeckte den am Giebel abgestellten Audi und wusste Bescheid. Jens Thiel, der Landarzt, war gerufen worden. Sicher hatte Doris, ihre Schwiegermutter, wieder Rücken oder Migräne oder sonst irgendwelche Beschwerden.

Nelly seufzte. Wenn ihr jetzt ihr Ex über den Weg lief, würde sie auch Migräne kriegen.

Sie hatte Jens geliebt. Und er hatte sie betrogen. Mit ihrer Freundin und Kollegin Mona und mit anderen Frauen. Auch wenn er immer wieder zu ihr zurückfand, war es nicht das, was sie für ihr Leben wollte. Sie hatte sich von ihm getrennt und sich neu verliebt. In den Patienten aus Zimmer Nummer fünf.

Vor drei Jahren, als sich Wochen nach der Silvesterfeier gelbe Winterlinge aus dem schmelzenden Schnee schoben und sie noch Schwester Nelly auf der chirurgischen Station des Angersbacher Krankenhauses war, hatte sie Peter zum ersten Mal gesehen und sich sofort in ihn verliebt.

Ein halbes Jahr später, nach der Blitzhochzeit in Las Vegas, war sie zu ihm ins Gärtnerhaus gezogen. Peters Vater hatte sie von Anfang an gemocht. Doris war ihr mit Ablehnung begegnet. So war es bis heute geblieben.

Wie so oft schon wollte Nelly auch jetzt unbemerkt an Doris’ Tür vorbeihuschen.

Doch sie kam nur bis zur Mitte der Treppe hinauf in ihre Wohnung. Dann hörte sie unten die Tür knarren. »Hast du deinen Mann endlich gefunden?«, rief Doris mit weinerlicher Stimme. »Ich bin ja nur seine Mutter, warum sollte man mir was sagen?«

Nelly blieb stehen und drehte sich um. »So was Unfreundliches aber auch«, hörte sie Doris unten brummeln. Und sie sah, dass Jens Thiel neben ihrer Schwiegermutter stand und zu ihr herauf-schaute.

Kurzentschlossen nahm Nelly die letzten Stufen und schloss ihre Wohnungstür auf. Beim ersten Schritt in ihre Küche erstarrte sie auf der Türschwelle. Ärger und Müdigkeit waren schlagartig vergessen. Auf einem der Korbstühle saß Peter, ihr Mann.

***

Am Mittwochmorgen, Lena hatte sich gerade an den Schreibtisch gesetzt und die Powertaste ihres Computers gedrückt, da klingelte das Telefon vor ihrer Nase. Im selben Augenblick steckte Mandy den Kopf zur Tür herein. »Du wirst es nicht glauben, Chefin, Peter Kobs ist wieder da!«

»Ach wirklich? Super! Das ging ja mal schnell mit unserer Fahndung.«

»Nix Fahndung. Der Mann ist ganz von selbst nach Hause gekommen. Gestern Abend schon. Seine Frau hat uns angerufen und ist irgendwie bei Haubi gelandet, als ich eben bei ihm drüben war. Er lässt übrigens ausrichten, das Handy aus dem Mühlenschuppen läuft immer noch nicht, aber er bleibt dran.«

Hartnäckig bimmelte das Telefon in Mandys hastig heraus-gesprudelten Wortschwall hinein.

»Augenblick, Mandy, ich nehm nur eben ab.«

»Ist dort die Polizei?«, vergewisserte sich der Anrufer in barschem Ton.

Lena stellte sich als Hauptkommissarin Voßberg vor. Die kratzige Altmännerstimme schnarrte: »Man hört, die Polizei sucht einen Mörder? Da ist doch wohl ’ne schöne Belohnung drin, wie?«

»Wovon reden Sie, Herr …? Wie war noch gleich Ihr Name?«

»Ich meine, wenn ich Ihnen helfe, den Mörder zu fangen, was könnte da für mich rausspringen?« Die Stimme des Anrufers verriet Ungeduld.

»Was hätten Sie uns denn zu sagen, Herr …? Wie soll ich Sie ansprechen? Ich kenne noch immer nicht Ihren Namen.«

»Netter Versuch.« Der Mann ließ ein krächzendes Kichern hören, das Lena an den Geizkragen Ebenezer Scrooge aus der Weihnachtsgeschichte von Charles Dickens erinnerte.

»So läuft der Hase nicht«, kicherte der Typ mit der Scrooge-Stimme. »Ich will erst wissen, wie hoch die Belohnung ist, dann überleg ich mir das mit dem Namen. So dumm, wie Sie denken, bin ich nämlich nicht, Frau Kommissarin. Ich könnte ja auch bei der Zeitung anklopfen. Die wissen’s dann eher als die Polizei. Nicht so toll für Sie, oder?« Wieder dieses Scrooge-Kichern.

Lena verspürte große Lust, einfach aufzulegen. Stattdessen sagte sie: »Okay, aber so, wie Sie denken, läuft der Hase erst recht nicht. Ich muss erst wissen, wer Sie sind und worum es geht. Dann können wir vielleicht – und ich betone, vielleicht! – über eine Belohnung reden.«

Einige Augenblicke blieb es still in der Leitung. Ebenezer schien zu überlegen. Dann schnalzte er mit der Zunge und schlug einen militärisch scharfen Ton an. »Ich rede zu meinen Bedingungen oder gar nicht.«

Lena wollte ihn schon fragen, in welchem Film er sein großspuriges Gehabe aufgeschnappt habe, da hörte sie ihn schnarren: »Sie werden doch nicht so dämlich sein, sich wichtige Informationen entgehen zu lassen, nur weil Sie mit der Kohle knausern. Sie haben für so was doch – wie nennt man das noch gleich? Einen Fonds?«

»Sie sagen mir jetzt, was Sie wissen, oder ich lege auf.«

»Erst die Belohnung! Bar auf die Hand. Über die Summe lässt sich verhandeln.«

Im Hintergrund hörte Lena eine Frau keifen. »Lass dich bloß nicht übers Ohr hauen. Du sagst nichts, bevor die Bullen mit der Kohle rüberkommen. Für ’n Staat sind’s nur Peanuts. Für uns wär es ein schönes Sümmchen.«

»Ja, ja«, wehrte sich der Alte. »Das hast du mir schon tausendmal vorgeplärrt.«

»Kommt da noch was?«, drängte Lena ohne viel Hoffnung auf eine brauchbare Antwort.

»Aber klar doch! Ich könnte Ihnen verraten, wo sich der verschwundene Herr Kobs gerade aufhält. Was rücken Sie raus, wenn ich sag, wo der Mörder steckt? Womit kann ich rechnen?«

»Mit gar nix, weil wir selbst wissen, wo Herr Kobs steckt. Und ob er ein Mörder ist, wird sich erst noch rausstellen. Möchten Sie uns sonst noch was mitteilen, Herr …? Wie, bitte, war Ihr Name?«

Durch die Leitung kam nur noch enttäuschtes Schnaufen: »War jemand schneller als ich? Und der kriegt jetzt das verdammte Geld?«

Die Frau im Hintergrund kreischte hysterisch. »Konntest du Dämlack nicht gleich auf mich hören? Aber nein, der Herr brauchte ja noch Bedenkzeit.«

Lena lauschte noch ein paar Sekunden. Doch nach wüsten Beschimpfungen war nur noch monotones Tuten zu hören.

***

Junge, siehst du fertig aus. Lena sprach nicht aus, was ihr spontan durch den Kopf schoss. Sie sah Peter Kobs ernst an, reichte ihm zur Begrüßung die Hand und sagte: »Gut, dass du wieder da bist.«

Mandy, für die er ein Fremder war und noch dazu ihr Hauptver-dächtiger in einem Mordfall, dachte unwillkürlich: Dustin Hoffman in jungen Jahren. Doch statt der Melancholie, die sie so oft im Blick des großen Mimen gesehen hatte, las sie pure Angst in den dunklen Augen des Mannes, der in seinem Wohnzimmer vor ihr stand.

»Warum warst du so plötzlich verschwunden?«, fragte Lena, jedes private Geplänkel vermeidend. »Und wo bist du die ganze Zeit über gewesen?«

»Bitte setzen Sie sich doch erst mal«, forderte Nelly die Polizistinnen auf. Genau wie ihr Mann war sie blass. Ihre Bewegungen wirkten unsicher. Unauffällig sah Lena sich um. Das Wohnzimmer war modern und praktisch eingerichtet, ohne jeden Schnickschnack. An der Wand gegenüber der Tür standen helle Möbel. Im rechten Winkel dazu füllte ein bis unter die Decke reichendes Bücherregal die gesamte Giebelwand aus. Dann blieb nur noch Platz für eine gemütliche Couchgarnitur mit bunten Kissen als freundliche Farbtupfer und einen kleinen runden Tisch.

Im gesamten Zimmer verteilt blühten Orchideen – bordeaux mit schwarzen Tupfen, gelb, violett und weiß. Wer hier lebte, hatte ein Faible für Bücher und Orchideen.

»Also, wo warst du?«, drängte Lena und sah Kobs ins unsicher verzogene Gesicht.

Als wäre die Frage nicht an ihn, sondern an jemanden gerichtet, der zufällig nicht im Zimmer war, drehte er den Kopf und sah hinaus auf das weitläufige Gelände der Gärtnerei, auf Gemüse- und Blumenbeete, Obstbäume und Gewächshäuser.

Lena musste ihre Frage ein drittes Mal stellen. Sie tat es in scharfem Ton und sah Kobs zusammenfahren.

»Das glaubt mir sowieso keiner«, murmelte er, ohne den Blick vom Fenster abzuwenden. »Du als Polizistin schon gar nicht.«

»Probier’s doch einfach aus. Fang schon an, Peter. Lass es einfach drauf ankommen.«

Er räusperte sich. Dann drehte er sich endlich um und sah Lena an. Doch ehe er ein Wort herausbrachte, pochte jemand in hartem Stakkato an die Tür. Mit dem letzten Klopfer ging die Tür auf und Doris Kobs stolzierte ins Zimmer. Ihr Kleid saß eng auf den breiten Hüften. Schwarze Strumpfhosen, schwarze Pumps. Sie hatte sich in Schale geworfen für ihren Auftritt.

»Morgen allerseits.« Mit knappem Nicken in die Runde setzte sie sich neben Sohn und Schwiegertochter auf die Couch.

Lena sah Peter die Stirn runzeln.

»Du wolltest uns erzählen, wo du gewesen bist«, erinnerte sie ihn. »Mein Sohn ist wieder da und das ist ja wohl das Wichtigste.« Ein ärgerlicher Blick aus wässrig blauen Augen forderte Lena heraus.

»Wie Sie wissen, Frau Kobs, ermitteln wir in einem ungeklärten Mordfall«, gab Lena scharf zurück.

Die füllige Doris schnappte nach Luft. »Frau Kobs«, ächzte sie. »Ach, sind wir jetzt beim Sie? Als du klein warst, Lena, war ich für dich Tante Doris und du warst für uns Voßbergs Foxi. Schon vergessen? Weißt du nicht mehr, wie oft du früher bei uns gewesen bist?«

Die Empörung in Doris’ Stimme war nicht zu überhören. »Mein Sohn soll als Sündenbock herhalten, weil ihr den wirklichen Mörder nicht findet.« Schniefend betupfte sie sich die Augen mit ihrem Taschentuch. »Das hätte ich nie von dir gedacht, Lena. Oder muss ich jetzt sagen, Frau Kommissarin? Das bist du ja wohl, wie man so hört.«

»Kriminalhauptkommissarin, um genau zu sein. Und nein, das musst du nicht sagen. Aber lass uns bitte beim Thema bleiben und meinetwegen auch beim Du. Weißt du, was auf dem Fest am Pfingstmontag passiert ist?«

»Wie sollte ich, wenn ich nicht da war?«

»Oder sonst irgendwas, das mit dem Tod dieses Fremden zu tun haben könnte?«

»Ich weiß gar nichts.« Ihr Taschentuch fest umklammernd schlug Doris die Faust auf den Tisch. »Ich weiß nichts, und ich muss auch nichts wissen, weil uns der Tote nichts angeht.« Sie neigte sich weit vor und kam Lena dabei so nahe, dass sie ihr mit jedem Wort Atem ins Gesicht blies. »Niemals, hörst du? Niemals könnte Peter einen Menschen töten. Das weiß ich genau, Lena, und du weißt es auch. Ihr beide kennt euch, seit ihr laufen könnt.«

Lena hatte das aufgedunsene Gesicht jetzt direkt vor sich. Die knollige Nase. Das feine Geflecht der durch die Haut schimmernden Äderchen, das sich entlang der Nasenflügel über die Wangen zog. Die wässrig blauen Augen sahen sie wehleidig ans. Eigentlich konnte ihr die Frau nur leidtun. Eigentlich.

»Okay, Doris, du hast gesagt, was du sagen wolltest. Lässt du uns jetzt bitte allein?«

»Das hast du nicht zu entscheiden. Nicht hier in unserem Haus.« Doris’ Blick glitt Hilfe suchend zu ihrem Sohn, der wie versteinert neben ihr saß. Das Taschentuch, mit dem sie sich über Augen und Wangen fuhr, verschmierte Wimperntusche und Rouge zu einer Art Kriegsbemalung.

Lena stand auf, schob sich den Riemen ihrer Tasche über die Schulter und sah Peter Kobs an. »Wir setzen das Gespräch in der Dienststelle fort. Würdest du bitte mitkommen?«

»Mutter!«, donnerte er.

Umständlich stemmte Doris ihren schweren Körper von der Couch hoch, strich ihrem Sohn über die Schulter und sagte in weinerlichem Ton: »Ich geh ja schon, wenn du es so willst, mein Junge.« Als sie sich an Lena vorbei drängte, zischte sie: »Manche Leute vergessen schnell, wo sie herkommen.« Ein schneller Blick auf Nelly. »Und andere wanzen sich in Familien ein, ohne Rücksicht auf irgendwas.«

Erst das Zuschlagen der Tür schnitt ihr Gezische und Gemurmel ab. Einen Augenblick verharrten alle wie erstarrt. Dann legte Peter den Arm um Nelly, zog sie tröstend an sich und sagte: „Hör nicht auf ihr dummes Gerede, das ist es einfach nicht wert."

Lena setzte sich wieder und Mandy tippte auf ihren allzeit bereiten Notizblock. »Sie erzählen uns jetzt bitte der Reihe nach, was auf dem Fest passiert ist und wie es dann weiterging, Herr Kobs.«

Er schob eine Hand unter den Kragen seines Pullovers und dehnte ihn, als wäre er ihm zu eng geworden. »Da warten Sie wohl umsonst, Frau Kommissarin.«

Mandy schwenkte ihren Stift. »Warum sollte ich?«

»Weil«, fuhr Nelly auf, »weil er sich an nichts mehr erinnern kann. Mein Mann weiß nicht, was an diesem verflixten Nachmittag noch passiert ist.«

»Nicht Ihr Ernst, Frau Kobs.«

»Mein voller Ernst.«

»Puh!« Ungläubig schüttelte Mandy den Kopf. »Sie kaufen Ihrem Mann den Blackout vielleicht ab. Wir nicht!«

Peters Blick glitt über den Tisch hinweg, suchte smaragdgrüne Augen. Seine Stimme wurde zu atemlosem Flüstern: »Denkst du auch so, Lena?«

Die Ellenbogen auf den Tisch, das Kinn auf die ineinander verschränkten Hände gestützt, sah Lena ihn nachdenklich an. Er hatte Angst. So viel war klar. In seiner Situation, das wusste sie nur zu gut, würde jeder Angst haben, wenn auch aus unterschiedlichen Gründen. Angst, die Wahrheit könnte ans Licht kommen, oder Angst, unschuldig zwischen die Mühlsteine der Justiz zu geraten.

Langsam, jedes Wort abwägend sagte sie: »Wenn du uns schon nicht sagen kannst, wo du zur Tatzeit warst und was du gemacht hast, dann erzähl uns wenigstens, was du noch weißt. Du wirst ja wohl erklären können, wie du nach Hause gekommen bist. Zäumen wir das Pferd ausnahmsweise mal von hinten auf.«

Kobs sah auf die Tür, die seine Mutter hinter sich zugeschlagen hatte. Sein Schulterzucken wirkte so mutlos wie seine Stimme. »Daumen hoch und einsteigen. So bin ich zurückgekommen. Per Anhalter.«

»Ach wirklich?«

»Ich wusste, dass du mir nicht glaubst.«

»Red einfach weiter.«

»Wenn du’s genau wissen willst, ich bin in ’nem fremden Auto aufgewacht. Echt spooky war das, kann ich dir sagen.«

»Hört sich wirklich seltsam an.«

»Stimmt aber. Ich lag in ’nem Wohnmobil oben im Alkoven.«

»Und wie bist du da reingekommen?«

»Ich würd’s dir sagen, wenn ich könnte.«

Als er schluckte, nicht weiterwusste, legte Nelly ihm die Hand auf die Schulter. »Sag einfach, was dir noch einfällt. Vielleicht kommt dann die Erinnerung zurück.«

Seine Finger umfassten ihre schmale Hand so fest, dass sie für einen Augenblick das Gesicht verzog. Ihre Blicke trafen sich. Er nickte ihr zu. »Ich versuch’s ja, Nelly, ich versuch’s.« Ein Lächeln, zaghaft, kaum wahrnehmbar, huschte über ihr Gesicht und er begann: »Wie ich da oben im Alkoven über dem Fahrerhaus wach geworden bin, ein komisches Gefühl war das.«

Seine Stimme klang, als würde er sich selbst wundern über das, was ihm passiert war. »So langsam ist mir dann aufgegangen, dass ich in der Kiste von Max lag. Dachte ich jedenfalls. Wo sollte ich auch sonst sein? Aber irgendwas stimmte nicht, stimmte ganz und gar nicht. Ich hab Leute unter mir quatschen hören. Einen Mann und eine Frau. Was wollten die in Max’ Wohnmobil? Durch das kleine Fenster im Alkoven konnte ich Autos an uns vorbeiflitzen sehen. Einen Moment lang dachte ich sogar, ich wäre entführt worden. Bullshit, ich weiß!« Er brach ab, sah Lena an. Als er weder Spott noch Misstrauen in ihren Augen las, atmete er auf. »Ich war wohl noch nicht ganz nüchtern, weißt du. Das Seltsamste war, ich konnte alles hören, mich aber nicht bewegen, kaum den Kopf drehen. Arme und Beine gehorchten mir einfach nicht mehr.«

»Sie haben am Vortag nicht zufällig noch was Nettes eingeworfen? Neben dem Alkohol meine ich?«, unterbrach ihn Mandy. Sie zwir-belte ihren Stift zwischen den Fingern und wartete.

Weil er augenblicklich stockte, nicht weitersprach, sagte Nelly rasch: »Wie Sie sicher wissen, hatte Max Lüders für meinen Mann das Wohnmobil aufgeschlossen. Als Peter später reinklettern wollte, hat er in seinem Suff die Autos verwechselt. Pech, aber nicht strafbar, würde ich sagen. Oben im Alkoven ist er dann eingepennt und hat nicht mal gemerkt, dass die fremden Leute mit ihm losgefahren sind. So haben wir es uns zusammengereimt, als er wieder zu Hause war.«

»Schließt ja auch heute niemand mehr sein Fahrzeug ab, wenn er aussteigt«, spöttelte Mandy und kassierte dafür einen verärgerten Blick ihrer Chefin. Achselzuckend blätterte sie in ihrem Notizblock, fand die Stelle, die sie suchte, und sagte: »Soweit wir wissen, standen an diesem Nachmittag vier Wohnmobile auf dem Platz neben der Festwiese. Theoretisch könnte Ihre Geschichte sogar stimmen. Nutzt aber nicht viel, solange Sie uns nicht sagen können, wann Sie in die fremde Kiste geklettert sind, Herr Kobs.«

Unter seinem rechten Auge zuckte ein Muskel. Mutlos winkte er ab. »Ich weiß, ich bin am Arsch.«

»Bist du nicht!« Nelly stupste ihn sanft an. »Erzähl einfach weiter, das wird schon.«

Als wären seine Worte nur für Mandy bestimmt, beugte er sich zu ihr vor. »Ich versteh schon, dass Sie mir misstrauen. Wahrscheinlich würde ich mir auch nicht glauben, wenn ich’s nicht selbst erlebt hätte. Hab ich aber! Ich lag stocksteif da und wusste nicht, was ich machen sollte.« Er schluckte. Wurde leiser. Die Anspannung setzte ihm sichtbar zu. »Liegen bleiben und abwarten, dachte ich. Irgendwie werde ich schon rauskommen aus der verdammten Karre. Auf einem Rastplatz an der Autobahn wollten die Leute Kaffee trinken und schnell mal auf die Toilette gehen. Ich konnte oben im Alkoven hören, was sie vorhatten. Und das, dachte ich mir, wäre meine Chance, mich unbemerkt zu verdrücken. Nach dem vielen Bier brauchte ich selbst dringend ein Klo. Na ja, angehalten haben sie dann tatsächlich. Und auch wenn mir immer noch kotzübel war, so langsam konnte ich mich wieder ein bisschen bewegen.«

»Wie schön für Sie!« Mandy kritzelte etwas in ihren Block.

Nelly sah ihren Mann nach dieser ironischen Bemerkung erschrocken an. Zu ihrer Erleichterung winkte er nur ab und sagte: »Na jedenfalls, als die beiden aus dem Auto raus waren, bin ich die Leiter runter. Aber ich war nicht schnell genug. Die Leute kamen zurück, weil der Mann sein Portemonnaie vergessen hatte. Als sie mich gesehen haben, waren sie genauso erschrocken wie ich und wollten gleich die Polizei rufen.«

»Hätten sie das mal gemacht. Dann wären unsere Kollegen vielleicht ihr Alibi.«, warf Mandy ein, begleitet vom Auf und Ab ihrer Schuhspitze.

»Ging aber nicht, weil die Frau in ihrer Aufregung das Handy nicht finden konnte. Und die ganze Zeit hat sie ihren Mann beschimpft, der auch nicht wusste, was er machen sollte.«

Mit dem Stift pikste Mandy Löcher in die Luft. »Und dann haben Sie sich nett verabschiedet und alle waren zufrieden.«

»Verabschiedet ja, zufrieden nein. Nach dem Gemecker der Frau wollte der Alte auf mich los, aber ich war schneller, bin einfach raus aus der Kiste. Sogar als ich schon ein ganzes Stück weg war, konnte ich das Gezeter noch hören, weil der Mann vergessen hatte, sein Auto abzuschließen.«

Kobs goss sich aus dem Glaskrug, den Nelly auf den Tisch gestellt hatte, ein großes Glas Wasser ein und trank es in einem Zug aus, als wäre er kurz vor dem Verdursten. »Ich stand vor dieser Raststätte, aber irgendwas stimmte nicht mit mir. Nicht mal richtig geradeaus laufen konnte ich. Klar denken schon gar nicht.«

»Tsch!« Mandys Kopf wackelte hin und her. »Ich sag doch, was Nettes eingeworfen. Geben Sie’s doch einfach zu. So schlimm ist das nun auch wieder nicht.«

»Habe ich aber nicht.«

»Leider haben Sie auch kein Alibi, Herr Kobs.«

»Ich wusste ja nicht mal, dass ich eins brauche.«

»Haben Sie sich wenigstens das Kennzeichen gemerkt? Das von dem fremden Wohnmobil?«

Seine verlegene Miene war Mandy Antwort genug. Sie lächelte verkrampft, was daran lag, dass ihre nagelneuen Pumps zwar genial aussahen, aber mörderisch drückten – auf ihre wundgescheuerten Fersen und auf ihre Laune.

»Ihre Geschichte klingt ja so weit ganz gut, Herr Kobs«, sagte sie. »Aber ich kann mir nicht helfen, den wichtigsten Teil lassen Sie aus.«

Verwundert sah er Nelly an. »Kapierst du, was sie meint?«

»Nur keine Panik, ich erklär es Ihnen gern.« Unter dem Tisch verlagerte Mandy ihre Füße in eine Position, in der die Pumps am wenigsten drückten. »Selbst wenn alles wahr ist, was Sie uns auftischen, Herr Kobs, Sie könnten auch nach dem Mord in das fremde Fahrzeug gestiegen sein. Waren Sie nicht doch noch kurz im Mühlenschuppen? Erzählen Sie einfach, wie der Mann zu Tode gekommen ist. Ein frühes Geständnis hat schon so manchen Richter milde gestimmt.«

Er griff zum Glaskrug, goss Wasser in sein leeres Glas und hob es an. Für einen Augenblick sah es so aus, als wollte er es Mandy an den Kopf pfeffern. Doch er schnaufte nur kurz und stellte es auf den Tisch zurück, ohne daraus zu trinken oder es anderweitig zu verwenden.

»Alles nur, weil ich eifersüchtiger Idiot ausgerastet bin. Und wegen der verdammten Sauferei«, stieß er verzweifelt aus. »Mit dem Saufen ist jetzt Schluss, das versprech ich dir, Nelly.«

»Ach Gottchen, solche Versprechen sind so alt wie die Welt.« Instinktiv zog Mandy nach der leicht dahingeworfenen Bemerkung den Kopf zurück. Als nichts passierte, sagte sie: »Nur der Vollständigkeit halber … Sie sind per Anhalter nach Hause gekommen? Das wüsste ich gern etwas genauer.«

Mit beiden Händen strich Kobs sich übers Haar, ließ die Hände am Hinterkopf liegen und schloss die Augen, als müsste er überlegen. »Anfangs wollte mich niemand mitnehmen«, sagte er schließlich. »Noch ein bisschen taumelig und im Kopf nicht ganz klar, hab ich wohl nicht sehr vertrauenswürdig gewirkt.«

»Ach wirklich?« Mandys ironischer Tonfall brachte Kobs’ mit Mühe erkämpfte Fassung beinahe schon wieder ins Wanken. Doch er riss sich zusammen und sagte, ohne die Stimme zu heben: »Einem polnischen Brummifahrer, der mich eine Weile beobachtet haben muss, tat ich wohl leid. Bei ihm durfte ich einsteigen. Er hat mir sogar ’ne Cola spendiert und Stullen mit Wurst aus seiner Brotbüchse. Nach dem Essen bin ich in seinem warmen Kabuff eingeschlafen. Als ich mitgekriegt hab, dass wir in die falsche Richtung fuhren, waren wir schon beinahe in München. Auf dem nächsten Rastplatz hat er mich rausgelassen und ich bin rüber auf die andere Seite. Hab ’ne ganze Weile gebraucht, ehe ich wieder bei jemandem einsteigen konnte.«

»Nur interessehalber …« Mandy kniff die Augen zusammen bei ihrer Frage. »Hatten Sie kein Handy dabei? Ihre Frau hat schon das Schlimmste befürchtet.«

»Kein Geld, kein Handy, gar nichts. Keine Ahnung, wo das alles hin ist. Irgendwas stimmte nicht mit mir, das hab ich doch schon gesagt.«

»Was vielleicht daran lag, dass Sie nicht nur Alkohol getrunken haben, Herr Kobs.«

Er gab keine Antwort, starrte nur vor sich hin, als würde er über etwas nachdenken. »Dieses Kennzeichen!«, fuhr er mit einem Mal hoch. »PM stand da drauf. Potsdam-Mittelmark hab ich noch gedacht. Dreien oder Achten waren, glaub ich, auch noch drauf. Und es war ein Ford, da bin ich sicher. Dieselbe Marke, die auch Max Lüders fährt. Ein ungefähr zehn Jahre altes Modell. Mehr weiß ich wirklich nicht. Die alten Leutchen sind ja auch schon bald weitergefahren, als ich raus war aus ihrer Kiste.«

»Ein etwa zehn Jahre alter Ford aus Potsdam-Mittelmark mit Dreien oder Achten auf dem Kennzeichen. Na wunderbar.« Mandy warf den Notizblock in ihre große Ledertasche und förderte ein Glasröhrchen zutage. »Nichts leichter, als dieses Auto zu finden, Herr Kobs. In Potsdam-Mittelmark dürften höchstens ein paar Hundert von diesen Kisten rumfahren. In Nullkommanix haben wir die alle durchgecheckt. Aber vielleicht müssen wir das ja gar nicht. Da wäre nämlich noch eine Kleinigkeit. Sie haben bestimmt nichts gegen einen harmlosen Test, oder?«

Er murmelte etwas, das sich anhörte wie: »Das nicht auch noch.« Doch als Mandy ihm das Wattestäbchen hinhielt, öffnete er bereitwillig den Mund.

***

Auf dem Weg zurück in die Dienststelle hielt Lena am Pegelhaus, einer Imbissbude direkt am Fluss. Aufmerksam studierte sie das handgeschriebene Angebot auf der Tafel vor dem Kiosk und entschied sich für Bratwurst und Pommes mit viel Mayo und Ketchup. Mandy wählte Pommes und streute nur scharfes Paprikapulver darüber. Das Wetter war sommerlich mild, ideal für eine Mahlzeit im Freien mit fantastischem Blick auf die kraftvoll dahinströmende Oder und die saftig grünen Wiesen, die sich bis in Nachbarland hineinzogen.

Wohlig lehnte sich Mandy auf der rustikalen Holzbank zurück. Endlich konnte sie die engen Pumps abstreifen und die wund-geriebenen Füße vom sanften Wind kühlen lassen. Blinzelnd sah sie hinauf zu den luftigen weißen Wölkchen am blauen Himmel und sagte: »So eine abenteuerliche Geschichte wie dieser Kobs hat uns bisher noch niemand angeboten.«

»Abenteuerlich schon. Stimmen könnte sie trotzdem.«

»Glaub ich nicht.« Mandy schob sich ein mit Paprikapulver bestreutes, im heißen Fett frittiertes Kartoffelstückchen in den Mund und schmatzte hingebungsvoll. »Knackig und saulecker.«

Lenas Mittagessen stand noch unberührt auf dem in freier Natur verwitterten Holztisch. Sie überlegte. »Kann doch sein, dass Kobs wirklich in dieses fremde Fahrzeug geklettert ist. Er war stock-betrunken.«

»Ist doch egal.« Mandy griff erneut zu. »Wir haben jetzt Kobs DNA und Krollmann kriegt seine Vergleichsprobe. Stammt der kleine Blutfleck in der Jacke des Toten von ihm, sind wir mit dem Fall durch.« Sie schmatzte. Die mit Paprikapulver bestreuten Pommes schmeckten bei diesem Gedanken köstlicher als jedes Menü im Nobelrestaurant.

»Möglich, dass du recht hast.« Lena sah sich wieder vor dem Sägegatter stehen. Sah den eingeschlagenen Schädel, das unkenntliche Gesicht, den blutverkrusteten Körper. Mit unglaublicher Brutalität hatte der Täter gewütet. Sollte Peter Kobs dazu in der Lage sein?

Aufseufzend verteilte sie ihr Mittagessen an die Spatzen, die munter piepsend um den Tisch herumhüpften. Der Appetit war ihr vergangen.